Geheimakte: Tunguska02.09.2006, Jörg Luibl
Geheimakte: Tunguska

Im Test:

Wer hat heutzutage noch Lust, ein weiteres Mystery-Adventure in Point&Click-Manier zu spielen? Davon gibt es doch Dutzende. Oder sind es Hunderte? Alle wollen diesen zauberhaften Charme alter Zeiten einfangen, die meisten bleiben irgendwo zwischen erzählerischer Belanglosigkeit und altbekannter Rätselmotorik stecken. Aber es geschehen noch Zeichen und Geheimakten…

Herrlich logisch!

Wasser fließt. Butter schmiert. Klebeband klebt. Katzen mögen Thunfisch. Hunde mögen Fleisch. Salziges macht durstig. Gelb und Blau ergeben Grün. Magnete ziehen Eisen an. Männer mögen Frauen. Glühbirnen platzen bei Überhitzung. Rizinusöl macht den Magen frei. Die Zwille schießt die Lampe aus. Der Muskelprotz biegt das Eisen um...

Wo ist der Wissenschaftler Kalenkow? Nina erzählt Kommissar Kanski vom Verschwinden ihres Vaters.
Keine Bange - ich will hier keine Ode der Selbstverständlichkeiten singen. Aber das sind einige der herrlich logischen Auswirkungen in Geheimakte: Tunguska (ab 9,50€ bei kaufen) . Selbst wenn euer Inventar rappelvoll ist, werdet ihr mit ein wenig Überlegung den passenden Gegenstand für euer Problem finden. Und das selbst bei mehrstufigen Kombinationen: Da liegt ein fragiles Mobiltelefon auf einem hohen Ast - was tun? Mülltüte raus, mit dem Eimergriff verstärken, dann beides an den Besenstiel und schon hat man einen Auffangbehälter!

Überraschung in Sibirien

Warum ich mich darüber so freue? Weil es sich durch das ganze Spiel zieht. Weil es endlich wieder Unterhaltung mit kreativen Rätseln gibt. Weil das Ganze auch noch von einem kleinen deutschen Team ohne großes Tamtam entwickelt wurde.  Puzzledesigner Jörg Beilschmidt und die Jungs von Animation Arts tauchen ebenso überraschend auf der Adventure-Bühne auf wie im Frühling 2004 die unbekannten Tschechen von Unknown Identity mit Black Mirror .

Sie lösen keinen Sturm der Innovation aus, der das Genre umwälzt, aber sie bringen so angenehm frischen Wind in die verstaubte Statik: Die Lösung ist immer zum Greifen nah, die Belohnung der nächste Schritt in einer Story, die Happen für Happen mehr Appetit macht. Die Probleme sind mal augenscheinlich, mal knifflig, mal komplex, aber nie unfair oder künstlich schwer. So muss es in jedem Adventure sein. Ich will Probleme nicht über sieben abstruse Ecken lösen, sondern über den logischen Weg. Und dann meinetwegen auch über drei oder vier Ecken - es muss nur nachvollziehbar sein. Wie habe ich Scratches atmosphärisch geliebt, aber in den Sackgassen verflucht...

Natürlich muss man auch in Tunguska mal über Hürden knobeln und Inkonsequenzen in Kauf nehmen, aber das gehört dazu. Insgesamt bietet das Spiel im Genrevergleich aber kaum Frustmomente und dazu noch eine unheimlich gute Mischung an Kopfnüssen, die alles von der einfachen Schlüsselsuche über die Itemkombination bis hin zum recherchierten Codewort oder Verschieberätseln abdecken. Mal muss man die Umgebung gut beobachten und ihre Zeichen deuten oder einfach Gespräche aufmerksam verfolgen. Damit ist es sowohl für Einsteiger als auch Veteranen interessant, falls sie das Mysterium um Tunguska lösen wollen. Und dafür brauchen sie keinen Walkthrough, keine Google-Tipps, denn das Spiel bietet genug interne Unterstützung.

Kampf den Sackgassen

Ihre ersten Ermittlungen führen Nina durch das Naturkunde-Museum in Berlin. Gab es da Geräusche unter dem Saurier?
Ich hasse es, wenn ich irgendwo eine Kleinigkeit übersehen habe und deshalb durch ein Adventure irren muss. Sackgassen ohne den Hauch eines Hinweises oder zeitlich bzw. regulierte Itemaufnahmen, die mich zwar Gegenstände sehen, sie aber erst dann ins Inventar stopfen lassen, wenn man sie braucht - dieses restriktive Korsett will ich nicht immer wieder anlegen müssen. In Tunguska könnt ihr alles mitnehmen, auch wenn es erst zwei, drei Bildschirme später notwendig ist. Und hier bekommt ihr auf Wunsch alle Gegenstände eines Bildschirms angezeigt: Space drücken und Lupensymbole zeigen an, wo ihr interagieren könnt - sehr schön! Und: Die Fraktion der eisernen Pixelsuchfetischisten darf dieses Feature mit dem Hauch des Weicheierdunstes ganz abschalten.

Der Hilfekomfort geht noch weiter: Zum einen notiert euer Tagebuch wichtige Ereignisse, so dass ihr in Ruhe alles nachschlagen könnt. Zum anderen könnt ihr euch auf Wunsch sogar Tipps anzeigen lassen, falls ihr mit Nina nicht weiter kommt. Es gibt an einer Stelle ein sehr kniffliges Verschiebe-Rätsel: Ihr müsst alle leuchtenden Punkte auf einem Spielbrett ausschalten. Hier kann man sich einen Wolf klicken. Hier kann man zum ersten Mal frustriert sein. Und hier könnte man das Spiel verfluchen. Aber wer in der Rätselhilfe hinten nachschlägt bekommt einen Tipp für die ersten drei Züge - danach sollte es klappen. So sieht guter Service aus! Ich entscheide als Spieler, ob ich zwei Wochen Gehirnjogging betreiben will oder sofort in der Story weiter kommen möchte. Letzteres ist bei Tunguska übrigens sehr wahrscheinlich, denn das Erzählte ist richtig gut.

Berliner Odyssee

Worum geht es überhaupt? In der Rolle von Nina Kalenkow spürt ihr im Jahr 2006 eurem verschwundenen Vater nach. Sein Büro ist durchwühlt, sein Haus steht leer. Als Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften hat er sich scheinbar mit der Tunguska-Katastrophe des Jahres 1908 beschäftigt. Was ist damals passiert? Meteoriten? Außerirdische? Atombombe? Und was hat ihr Vater damit zu tun? Ein dubioser Kommissar, anonyme Kuttenträger und der russische Geheimdienst lassen nichts Gutes ahnen. Und vor allem wecken sie die Neugier, weil man zunächst nicht so recht weiß, ob das Ganze Richtung Spionage-Thriller, Wissenschafts-Krimi oder Akte-X tendiert.

Nina ist das ohnehin egal. Die schlagfertige Tochter mit den hohen slawischen Wangenknochen lässt sich nicht beirren und folgt den verschlungenen Spuren von Berlin bis nach Sibirien. Die Story mag auf den ersten Blick den Charme eines belanglosen Mystery-Romans versprühen. Manches wirkt gerade zu Beginn etwas zu durchsichtig. Doch die Qualität zieht schnell an, denn die Dramaturgie stimmt und die Köder der vagen Andeutungen sind unheimlich appetitlich. Hinzu kommt, dass der Plot immer nachvollziehbar bleibt: Man will wissen, was zum Henker da in Sibirien abgeht! Genau im passenden Moment werden interessante Figuren und Schauplätze in die Ermittlungen eingeflochten oder plötzliche Wendungen serviert: Eine zweite spielbare Figur namens Max taucht auf, Nina wird gefangen, ein Zug entgleist, eine irische Bruderschaft macht ihre Aufwartung - herrlich: Neugier, was willst du mehr?      

Sehr gute Regie

Die Zeit vergeht im Nu und man wird von vielen wirklich gelungenen Zwischensequenzen begleitet von Museen in Privathäuser, von Kanalisationen in Militärlager, von Zugdächern in Herrenhäuser geführt. Selbst China, Irland und Kuba

Auch ohne spektakuläre 3D-Grafik: Die Kulisse ist edel, die Locations sind sehr schön gezeichnet.
dürfen nicht fehlen. Die hohe Frequenz der Filmszenen sorgt für eine erzählerische Dynamik, die nie  um böse Vorboten verlegen ist - ein schwarzes Auto im Nebel, ein russischer Mafiosi im Zigarettendunst. Das Flair ist zwielichtig, das Mysteriöse ständig präsent. Dadurch, dass Nina und Max später als Duo zusammen arbeiten, ergeben sich auch interessante Team-Szenen: Obwohl sie räumlich getrennt sind, können sie über einen Faden mit Kieselstein wichtige Gegenstände austauschen, um sich zu befreien. Hier macht das Spiel so richtig Spaß, hier weht der Wind der alten Adventure-Zeiten.

Alle Locations bestechen durch wunderbare Zeichnungen und ihren authentischen Anstrich: In Berlin gibt's deutsche Straßennamen, in Russland begegnet euch Kyrillisch. Hinzu kommen feine Animationen, die die Sterilität der gezeichneten Hintergründe etwas aufbrechen: Jeans wackeln im Wind, Motten umschwirren das Licht, Dampf schwelt aus Gullys und Echtzeitschatten unterlegen die Laufwege der Figuren. Die Kulisse kann zwar nicht mit großen Schauplätzen oder rasanten Kamerafahrten à la The Moment of Silence oder der technischen Üppigkeit oder räumlichen Freiheit eines The Longest Journey: Dreamfall  protzen, aber sie ist edel und stimmungsvoll.

Sehr gute Sprecher

Dass man dem Geheimnis von Tunguska so gerne nachspürt, liegt nicht nur am historischen Kern des Ereignisses und der Rätsellogik, sondern auch an den Dialogen. Zum einen werden sie wirklich hervorragend gesprochen: Ich habe keine Stimme gehört, die nicht passte oder sich in irgendeiner Weise unmotiviert anhörte - im Gegenteil: Ob Staunen, Wut, Bestürzung oder Heiterkeit - hier wird alles sehr natürlich transportiert, die Sprecher von Brad Pitt und Angelina Jolie geben ihr Bestes. Heldin Nina hat einige knackige Sprüche auf Lager, die ihr abseits des Babe-Anstrichs eine

Irgendwann stößt Max hinzu, so dass ihr auch Rätsel im Team lösen könnt.
sympathische Tiefe verleihen. Sie ist mehr als die rothaarige Schöne, für die man zunächst die Sex-Sells-Schublade aufmacht: Schon wieder so'n 90-60-90-Babe? Aber Fehlanzeige:  Vor allem ihr ab und zu aufblitzender Chuzpe sowie ihre inneren Monologe verleihen den Gesprächen eine subversive Note: Sie schmeichelt einer Wache mit ihrem Charme und denkt sich gleichzeitig, was für ein Trottel da steht - sehr amüsant.

Trotzdem gibt es auch in Tunguska zig Klischees oder zu schnell durchschaute Figuren wie etwa den Hausmeister oder Kommissar Kanski. Es gibt auch einige Dialogstellen, die aufgesetzt bis peinlich wirken. Als Nina unter einer Teppichecke ein Geheimfach findet, sagt sie tatsächlich:

"Eine Kassette. Lag sie da absichtlich drin oder ist sie da reingefallen?"

Autsch. Aber das sind wirklich nur Nadeln im Heuhafen. Tunguska hat aus erzählerischer Sicht vielleicht nicht die düstere Qualität eines Black Mirror , die auch erwachsene Spieler sofort ansprach. Wer subtilen Schauder oder vielleicht Gänsehautmomente erwartet, ist hier trotz der Mystery-Ansätze, der Kapuzenträger und Geheimdienste fehl am Platze. Aber es nimmt den Rang einer richtig guten Drei-Fragezeichen-Episode ein, tendiert auch mit seiner beiläufigen Romanze in Richtung Baphomets Fluch. Sprich: Es ist spannend, amüsant und gut erzählt. Freut euch auf viel Wortwitz und kernige Sprüche.

Ein großes Lob verdient auch die Soundkulisse: Nicht nur die Titelmusik mit ihren verschwörerischen Melodien hat mir gefallen, auch die vielen kleinen Einspielungen an eher unwichtigen Stellen. Als Nina vor der Wohnung ihres Vaters recherchiert, passiert z.B. hinter ihr irgendwo ein Unfall. Man hört bloß quietschende Reifen, dann ein lautes Fluchen, sieht

Spannende Story, kreative Rätselkultur und schöne Wettereffekte - es gibt wenig zu meckern.
aber nichts - das ist klasse. So wirkt die eigentlich statische Szene gleich viel lebendiger. Es gibt immer ein subtiles Geräuschambiente, das im richtigen Moment mit einem Flüstern, Rauschen oder Zischen auftrumpft.

Wünschenswerte Kleinigkeiten

Schade ist, dass man die Dialoge einfach so runterspulen kann - sprich: Es hat keine Auswirkung, in welcher Reihenfolge oder gar wie man etwas fragt. Ein modernes Adventure sollte auch versuchen, in den Dialogen etwas mehr Eingriffsmöglichkeiten zu bieten. Auch das Thema Emotionen bleibt hier unangetastet. Ansonsten gibt es nur einige kleine Dinge, die man noch verbessern könnte: Etwa eine Beschleunigungsfunktion für den Helden, damit er per Doppelklick gleich rennt. Oder ein Inventar mit dreidimensionalen Gegenständen, die man drehen und zoomen kann - auch, um vielleicht versteckte Fächer oder Hinweise zu finden. Das würde dem Spiel noch mehr Stöbercharakter verleihen und es technisch aufwerten.

      

Fazit

Ich bin eigentlich ein Freund der neuen Adventure-Schule. Fahrenheit hat mit seiner offenen Struktur den Weg gezeigt, der das Genre in technischer und erzählerischer Hinsicht bereichern kann. Ich will Emotionen, die Dramatik der Entscheidung, echte Auswirkungen. All das bietet Tunguska nicht. Aber seit Black Mirror hat mich kein Adventure alter Schule mehr so gut unterhalten wie dieses. Wenn schon Point&Click, dann bitte so! Dieser Trip nach Sibirien gleicht einer Erholungskur für leidgeprüfte Knobelfreunde. Das ist frische Rätselluft, die man tief einatmet, um sich dann motiviert bis ins Finale zu klicken. Der Spannungsbogen bleibt straff und es setzt in Sachen Komfort Zeichen: Die Hilfefunktionen sind vorbildlich und beugen frustrierenden Sackgassen vor. Ich brauche eine gute Geschichte, interessante Charaktere und vor allem eine Rätselkultur, die mich als Spieler nicht für blöd verkauft oder durch aneinander geklatschte Locations Gassi führt. Tunguska ist sicher keine Umwälzung, keine Revolution, hier und da noch verbesserungswürdig, aber es besticht durch viel Kreativität in Sachen Knobelspaß, Dialoge und Regie. Nina und Max haben mich bis zum Finale sehr gut unterhalten. Daher ein großes Lob an das Team um Puzzledesigner Jörg Beilschmidt: Weiter so! Und: Ich will mehr Adventures von euch sehen!

Pro

spannende Story
logische Problemlösungen
kreative Rätselkultur
optionale Spielhilfen
keine blöde Pixelsuche
viele gute Renderfilme
Knobelei im Team
edle Kulissen
klasse Sprecher
lebendiges Geräuschambiente

Kontra

technisch konservativ
Dialoge ohne Auswirkung

Wertung

PC

Das ist frische Rätselluft, die man tief einatmet, um sich motiviert ins Finale zu klicken - ein klasse Adventure!

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