Evolution GT21.05.2006, Michael Krosta
Evolution GT

Im Test:

Da die Konkurrenz im Rennspiel-Genre bekanntlich groß ist, versuchen sich manche Entwickler durch ungewöhnliche Konzepte von den anderen Teilnehmern im Starterfeld abzusetzen. SCAR: Squadra Corse Alfa Romeo war nur der Anfang, denn jetzt wagen die Italiener von Milestone mit Evolution GT (ab 11,90€ bei kaufen) den nächsten Schritt in der Kreuzung aus Renn- und Rollenspiel. Können sie noch einen draufsetzen oder folgt auf den Fortschritt jetzt der Rückschritt?

Die Evolution beginnt

Was bedeutet Evolution? Ganz allgemein gesprochen eine im Gegensatz zur Revolution langsame Entwicklung, die kontinuierlich fortschreitet. Diese Definition lässt sich auch hervorragend auf Evolution GT anwenden, dessen Gerüst sich gegenüber dem innovativen Vorgänger SCAR kaum verändert hat: Ihr habt erneut die Möglichkeit, euren Fahrer ähnlich

Anstatt nur mit Alfas über die Pisten zu preschen, haben jetzt auch die Wagen anderer Hersteller den Weg in den Fuhrpark gefunden.
einem Rollenspiel mit Charakterpunkten sowie diversen Rennausrüstungen von Stiefeln bis zu Sturzhelmen zu versehen und euch dadurch Vorteile auf der Strecke zu verschaffen. Insgesamt verfügen die Fahrer über neun verschiedene Skills wie Selbstvertrauen, Konzentration oder Gerissenheit. Fahrt ihr gute Rennen und überzeugt durch saubere Überholmanöver oder schnellste Runden, steigert ihr eure Punktzahl, bis ihr ein Level aufsteigt und dabei neue Charakterpunkte auf die Fähigkeiten verteilt. Die Ausrüstungen geben euch je nach Zusammenstellung weitere Stärken, schwächen aber gleichzeitig auch einige eurer Skills ab. Hier gilt es abzuwägen, was sich am besten mit den Charakterwerten eures Fahrers vereinbaren lässt. Ebenfalls wieder mit dabei ist der spaßige Tigereffekt, mit dem ihr Fahrfehler einfach im Stil von Prince of Persia mit der Rückspultaste ungeschehen macht. Daneben ist auch das Einschüchtern von Gegnern schon hinlänglich aus SCAR bekannt, doch werdet auch ihr im Gegenzug unsicher, wenn euch die Verfolger zu dicht auf die Pelle rücken. Ist euer Selbstvertrauen - angezeigt durch eine farbige Leiste - aufgebraucht, erscheint die Strecke auf dem Bildschirm nur noch als unscharfe, wirre Suppe. Hier ist der erste Knackpunkt von Evolution GT: Konntet ihr bei SCAR in dieser Situation trotz des störenden Filters trotzdem noch den Durchblick behalten, verkommt die Raserei hier zum frustrierenden Blindflug. Selbst wenn ihr die Strecke halbwegs gut kennt, ist ein Abflug vor der nächsten Kurve praktisch vorprogrammiert. Hier ging die Evolution eindeutig nach hinten los!

Fiese Rempel-KI

Das gilt auch für die sieben weiteren KI-Fahrer, die neuerdings noch mehr durch unfaire Rempeleien auf sich aufmerksam machen als zuvor. Es ist manchmal schon eine kleine Frechheit, wie die Kerle agieren, wenn sie bei einem Überholversuch plötzlich im Zick-Zack die gesamte Straßenbreite für sich nutzen oder mir ohne Rücksicht auf Verluste in die Seite krachen. Es ist schön, wenn Gegner unberechenbar sind. Wenn sie in ihrer Unberechenbarkeit aber ständig Schwachsinns-Aktionen mit der Brechstange reißen, kann dies schnell frustrierend werden – und genau das ist bei Evolution GT der Fall. Außerdem wirkt das Balancing insgesamt sehr unausgewogen: Obwohl das gesamte Starterfeld über ein und den selben Wagen verfügt, gewinnt ihr manche Rennen mit Leichtigkeit und großem Vorsprung, während ihr euch an anderen die Zähne ausbeißt – und das, obwohl ihr von den Werten her der eindeutig beste Fahrer im Feld seid. Ich habe manchmal ewig mit verschiedenen Ausrüstungen experimentiert und es war mir immer wieder ein Rätsel, wie sich der Führende so dermaßen vom Verfolgerfeld absetzen konnte. Hatte ich dann diese unfairen Auseinandersetzungen doch irgendwie gewonnen, schien es mir mehr ein Glückssieg zu sein, der weniger durch mein fahrerisches Können herausgefahren wurde, das im Normalfall selbst bei einer fehlerfreien Vorstellung nicht ausgereicht hätte. Kann es denn Sinn und Zweck eines Rennspiels sein, nur durch Glück zu gewinnen? Ich denke nicht. Da ihr immer als Letzter startet, stehen folglich einige Überholmanöver an. Eine gute Möglichkeit besteht darin, sich im Windschatten anzusaugen und anschließend

In London wird noch gebaut! Vielleicht hätten sich die Entwickler auch etwas mehr Zeit zur Fertigstellung nehmen sollen.
den Überschuss an Geschwindigkeit zu nutzen, um am Vordermann vorbei zu zischen. Allerdings wird der Windschatten auf der PS2 so dermaßen übel visualisiert, dass man sich wünscht, diesen vollkommen lächerlichen Grafikeffekt deaktivieren zu können.

Stagnation

Der Rest sieht genau so aus wie SCAR. Mehr braucht man dazu eigentlich nicht zu sagen. Nicht nur, dass die Entwickler viele der Strecken wie Valencia, Hockenheim, Donington oder Mailand direkt aus dem Vorgänger übernommen haben. Nein, sie sehen auch noch genau so aus wie im Alfa Romeo-Racer. Hier wurde anscheinend nicht mal der Versuch unternommen, die Kulissen grafisch etwas aufzupeppen oder mit Objekten lebendiger zu gestalten, anstatt erneut nur regungslose Pappkameraden auf die Tribünen zu setzen. Auch die Fahrzeuge haben ihren leicht comichaften Look behalten, doch gibt es jetzt neben einigen Alfas auch Autos anderer Hersteller wie Opel, Audi, VW, Chevrolet, Mercedes oder TVR zu bestaunen. Diese Art der Darstellung ist natürlich Geschmackssache, doch haben mir die Fahrzeugmodelle insgesamt gut gefallen, auch wenn manche Spiegelungen etwas zu übertrieben und unecht wirken. Vollkommen daneben ist jedoch das Schadensmodell, das fast schon einen geskripteten Eindruck hinterlässt und alles andere als dynamisch wirkt. Jeder Schaden sieht irgendwie gleich aus: Fährt man einem Gegner ins Heck, hängt die Stoßstange genau so herunter wie bei dem Wagen, mit dem man zwei Minuten zuvor kollidiert ist. Doch selbst wenn es zu keiner einzigen Berührung mit einem anderen Fahrzeug oder der Leitplanke kommt, könnt ihr euch doch noch einen Totalschaden einfahren. Wie das? Indem ihr von der Strecke abkommt! Es ist schon irgendwie seltsam, dass ihr für eine Abkürzung so viel Schaden angerechnet bekommt wie bei einem Unfall – vor allem, weil ihr diese meist nur als Notlösung nutzt oder wenn euch mal wieder einer der KI-Fahrer von der Strecke gerammt hat.    

                 

Da auf Hintergrundmusik während der Rennen komplett verzichtet wurde, dominieren hauptsächlich die passablen Motorgeräusche das Geschehen, doch hat man bei der Abmischung anscheinend Mist gebaut: Seid ihr in einer der beiden Außenperspektiven unterwegs, hört ihr von eurer Maschine fast gar nichts. Wechselt ihr dagegen in die Innenansicht, dröhnt

In den Rennen stehen immer nur die gleichen Fahrzeugmodelle im Starterfeld.
es nur so aus den Lautsprechern. Musik ertönt nur während den ansehnlichen Replays und in den Menüs – ein Glück, denn während eines Rennens will man sich die überwiegend grausigen Stücke nicht auch noch anhören müssen.

Einfacher Fahrspaß?

Die Fahrzeugphysik geht in Ordnung und hält genau die richtige Balance zwischen Arcadespaß und Simulation. Folglich kommt ihr mit dem Bleifuß allein nicht weit, denn in den Kurven neigen manche Fahrzeuge dazu, extrem mit dem Heck auszubrechen oder zu untersteuern. Etwas gewöhnungsbedürftig ist jedoch die Tatsache, dass das Fahrverhalten von euren Skills sowie den gewählten Ausrüstungen abhängig ist und nicht etwa durch ein Wagensetup beeinflusst wird. Anfänger können jedoch auf ein zuschaltbares ABS sowie eine Traktionskontrolle zurückgreifen, die den Einstieg erleichtern. Außerdem wird vor dem Start der Meisterschaft die Teilnahme an einem Tutorial vorgeschrieben, das euch das Spielprinzip von SCAR…ähhmm…Evolution GT näher bringen soll. Dabei führt euch der italienische Rennfahrer Gabriele Tarquini durch die einzelnen Stufen und erklärt euch die Welt des Rennsports, was jedoch schnell zu einer peinlichen Lachnummer wird: Tarquini mag zwar ein verdammt guter Rennfahrer sein, aber als Moderator taugt er wirklich gar nichts! Ständig wandert sein unsicherer Blick offensichtlich auf den Teleprompter, wo er seinen Text abliest, den er mit einer künstlichen Begeisterung oder Ernsthaftigkeit vermischt. Schon nach der ersten Szene hatte ich keine Lust mehr, mir diese lächerliche Vorstellung mit anzusehen, wurde aber dazu gezwungen, denn die Sequenzen mit Tarquini lassen sich dummerweise nicht abbrechen. Doch auch das Tutorial an sich ist nicht immer gelungen: Worin besteht z.B. der Sinn einer Stufe, in der man auf einer geraden Strecke einfach nur fünf Sekunden lang geradeaus fahren muss?

Kein Spaß zu zweit

Abseits der Karriere mit seinen Saisonveranstaltungen, einem Trainings- sowie dem Challengemodus zum Verbessern eurer Skills, habt ihr noch die Möglichkeit, an Einzelrennen teilzunehmen, bei denen ihr Strecke und Wagen vollkommen frei wählen dürft. Auf die Rollenspielelemente müsst ihr dagegen verzichten, doch fallen

Die Replays sind hervorragend inszeniert und fangen das Renngeschehen gut ein.
damit gleichzeitig auch die Verwendung des Tiger-Effekts sowie Einschüchterungsversuche weg. Auch ein Multiplayer-Modus hat den Weg ins Spiel gefunden, doch ist dieser kaum der Rede wert: Sowohl auf PC als auch auf der PlayStation 2 tretet ihr lediglich mit zwei Spielern im Splitscreen an und fahrt entweder Einzelrennen, Turniere oder Überlebensrennen. Während ihr bei Letzteren mit schrottreifen Kisten an den Start geht und weitere Beschädigungen tunlichst vermeiden solltet, erwartet euch bei den Turnieren gleich eine ganze Serie von Rennen. Wer jetzt glaubt, sich die Strecken selbst zusammenstellen zu dürfen, wird schnell von der grausigen Realität eingeholt: Milestone schreibt euch in den acht Turnieren nicht nur die Kurse sowie deren Reihenfolge vor, sondern legt auch von vorneherein die Rundenanzahl und das Wetter fest. Ihr als Spieler dürft praktisch gar nichts entscheiden und müsst euch sogar noch auf ein einziges Fahrzeug einigen, denn mit verschiedenen Flitzern dürft ihr nicht auf die Strecke. Dass sich optional keine KI-Fahrer zuschalten lassen, setzt dem insgesamt durchweg enttäuschenden Multiplayermodus noch die Krone auf. Und warum nur offline? Mittlerweile sollte es sich doch auch bis nach Italien herumgesprochen haben, dass Rennspiele vor allem auch online oder via LAN Spaß machen können, oder?       

Fazit

So begeistert ich damals von SCAR war, so enttäuscht bin ich jetzt von Evolution GT. Ich finde die Mischung aus Rollen- und Rennspiel zwar nach wie vor interessant, doch es grenzt schon fast an eine Unverschämtheit, das gesamte Gerüst inklusive vieler Strecken nahezu unverändert aus dem indirekten Vorgänger zu übernehmen und die Alfas nur durch Flitzer anderer Hersteller zu ersetzen. Irgendwie wirkt Evolution GT für mich wie ein Schnellschuss, der unbedingt abgefeuert werden musste. Trotzdem macht die Fahrerei aufgrund ihrer gelungenen Steuerung und den Rollenspiel-Features wie Einschüchtern und dem Tiger-Effekt durchaus Spaß. Größter Minuspunkt ist jedoch die KI, die oft den Eindruck macht, als würde sie betrunken im Zickzack-Kurs über den Asphalt eiern und es bewusst darauf anlegen, euch in die Kiste zu fahren. Auf der anderen Seite rasen die Kerle auf manchen Strecken so schnell auf und davon, dass ihr anscheinend nur durch Glück gewinnen könnt. Oft ist jedoch auch das Herumexperimentieren mit den verschiedenen Ausrüstungen der Schlüssel zum Erfolg, was durchaus für Motivation sorgt, sofern es gelingt. Während ihr als Solo-Rennfahrer mit gemischten Gefühlen eure Runden dreht, werden Multiplayer-Freunde enttäuscht: Splitscreen mit maximal zwei Spielern und ein paar mickrige Modi ohne großartige Einstellungsmöglichkeiten sind heutzutage einfach zu wenig, um gemeinsam Freude am Fahren zu haben. Unterm Strich bleibt deshalb nur ein gerade mal befriedigender Aufguss des hervorragenden Vorgängers SCAR, den ihr Evolution GT auf jeden Fall vorziehen solltet!

Pro

interessante Mischung aus Renn- und Rollenspiel
gelungene Fahrzeugauswahl
gut inszenierte Replays
Comic-Look
Steuerung
viele verschiedene Skills
Tiger-Effekt
gute Weitsicht
ansprechender Grafikstil

Kontra

extrem nervige Rempel-KI
schlecht ausbalancierter Schwierigkeitsgrad
Multiplayer ohne Online
oder LAN-Möglichkeit
miese Musik
schwaches Schadensmodell
Blindflug bei aufgebrauchtem Selbstvertrauen
sterile Strecken
lachhafte Videos mit Gabriele Tarquini
Windschatten-Darstellung (PS2)
Strecken-Recycling ohne Verbesserungen-  wenige Kurse
insgesamt knapper Umfang 
kein echtes Wagen-Setup 

Wertung

PlayStation2

PC

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