Die Gilde07.03.2002, Jörg Luibl
Die Gilde

Im Test:

Ihr wolltet schon immer eine steile Mittelalter-Karriere machen? Dabei reich an Geld und Ämtern werden, die neidische Konkurrenz ausschalten und regelmäßig für Nachwuchs sorgen? Dann könnte sich ein Ausflug in die komplett dreidimensional gestaltete Lebenssimulation "Die Gilde (ab 14,23€ bei kaufen)" lohnen. Ob uns das ungewöhnliche Wirtschaftsspiel der 4Head Studios (Fugger-Reihe) begeistern konnte, erfahrt Ihr im Test!

Die Wurzeln einer Dynastie

Schon zu Beginn des Spiels offenbart Die Gilde einige Rollenspiel-Elemente: Bei der Charaktererschaffung könnt Ihr Euch neben Namen, Geschlecht und Religion auch Eure Eltern aussuchen, die direkten Einfluss auf fünf wichtige Talente haben: Verhandeln, Handwerkskunst, Nacht & Nebel, Kampf und Rhetorik. Natürlich könnt Ihr Euer Geschick im Laufe des Spiels mit Aktionspunkten weiter trainieren, aber wenn Ihr schon mit den richtigen Erbanlagen startet, sind erste Erfolgserlebnisse im Beruf wesentlich wahrscheinlicher. Und weil Ihr eine ganze Dynastie samt Erben von 1400 bis 1600 n.Chr. führt, sind die Familienwurzeln wichtig.

Zu Beginn habt Ihr die Wahl zwischen acht Laufbahnen, die sich im Gameplay teilweise erheblich unterscheiden: Zu soliden Handwerksberufen wie Schmied, Tischler und Steinmetz gesellen sich Alchimist, Parfumeur, Wirt und sogar die Prediger- oder Diebeskarriere. Kann der Schmied mit der effektiven Verarbeitung seiner Rohstoffe zu Schmuck oder Rapieren recht schnell und gefahrlos zu Geld kommen, muss der Dieb ganz anders zu Werke gehen. Er schickt seine Halunken auf Langfingertour und kundschaftet Gebäude aus, die sich für einen Einbruch lohnen. Im Spiel gibt es daher eine Vielzahl an unterschiedlichen Rohstoff- und Produktketten sowie Spezial-Gegenstände wie Bomben, Gift oder Gedichte, die alle ihren Zweck erfüllen. In Sachen Spielvielfalt und Wiederspielwert ist Die Gilde jetzt schon Genre-König.

Aller Anfang ist schwer

Einsteiger werden eine lange Eingewöhnungszeit brauchen, bis sie alle Elemente der äußerst vielfältigen Spielstruktur verinnerlicht haben. Alles beginnt sehr beschaulich mit der Verarbeitung von Rohstoffen und den ersten Produktverkäufen. Und da das Spiel quasi rundenbasiert ist und jedes Jahr Gewinn & Verlust abrechnet sowie Aktionspunkte (damit könnt Ihr Eure Talente verbessern, Spionage und Sabotage verüben etc.) verteilt, ist die finanzielle Übersicht immer gegeben. Habt Ihr in einem Jahr besonders gut gewirtschaftet, winken Titel wie Bürger, Edelmann oder Patrizier. Aber schon nach wenigen Spielstunden offenbart Die Gilde ihre ungeheure Komplexität.

Es gibt Überfälle, die in Echtzeit-Kämpfe münden, in der Taverne könnt Ihr um hohe Beträge würfeln und manchmal fordert Euch ein Rivale zum Duell. Diese kleinen und im Detail unspektakulären Mini-Games sorgen noch für Abwechslung. Aber die Computer-Gegner machen Euch das Leben richtig schwer, indem sie effektiver produzieren, einflussreiche Ämter besetzen, lukrativ heiraten, Euch verleumden oder zusammenschlagen lassen. All das könnt Ihr zwar auch, aber dazu braucht es Geld, Titel und die richtige Taktik. Schon im Normal-Modus ist Euch die KI meist sehr weit voraus. Wenn dann auch noch einer Eurer Arbeiter ausfällt oder ein Rohstoff knapp wird, kann die Jahresbilanz tiefrot ausfallen. Sehr lobenswert ist daher, dass Ihr den Schwierigkeitsgrad Euren Fähigkeiten anpassen könnt. Dazu gehört auch die Wahl der fünf Startstädte (Köln, Dresden, Hannover, Berlin, Augsburg), die alle andere Bau- und Gegnerbedingungen bieten.

Einfache und effektive Bedienung

Trotz der komplett dreidimensional gestalteten Spielumgebung überzeugt Die Gilde mit einer einfachen und intuitiven Steuerung, die Euch viele Möglichkeiten lässt: Ihr könnt z.B. beschaulich in der ansehnlichen 3D-Stadt navigieren, an Gebäude und Personen heranzoomen und die Details betrachten. Wesentlich effektiver ist die Arbeit mit der interaktiven Mini-Karte, die Euch alle Gebäude anzeigt und auf der Ihr z.B. schnell und problemlos Ziele für Eure Transport-Karren verteilen könnt, die vielleicht Rohstoffe vom Markt in den Betrieb bringen sollen. Hinzu kommen Schnellzugriffs-Tasten, die Euch sofort in ein Gebäude oder an einen Ort springen lassen, ohne dass Ihr umständlich auf der Karte scrollen müsst.

Ist mit einem florierenden Handwerksbetrieb erst mal der Grundstein der Karriere gelegt, können zahlreiche Aufwertungen an Wohnhaus, Werkstatt und dem eigenen Charakter vorgenommen werden. Häuser lassen sich z.B. zu Villen ausbauen und besser schützen. Der Betrieb kann mit neuen Werkzeugen effektiver gemacht werden. Größere Fenster bringen mehr Licht ins Schmiede-Dunkel und dezimieren die Gefahr von Arbeitsunfällen. Ihr könnt zudem neue Gebäude kaufen, an Versteigerungen teilnehmen oder gar einen zweiten Beruf ergreifen, wenn Ihr einen Meister einstellt. Nicht zu vergessen die Familienplanung: Schon frühzeitig solltet Ihr um eine Frau werben, denn im Mittelalter hat sich das Bezirzen teilweise mehrere Jahre hingezogen; erleichtert wird die Entscheidung der Zukünftigen mit teuren Geschenken. Und schließlich kann man selbst mehrere Meistergrade oder eines von 30 Ämtern (vom Stadtdiener bis zum Großinquisitor) erreichen. Voraussetzung für ein Amt ist das Ansehen, das durch Euren Titel manifestiert wird und vom Stadtrat vergeben wird: Anfangs müsst Ihr das Bürgerrecht erlangen, später könnt Ihr es bis zum Freiherren bringen. Zu bemängeln ist, dass man seinen Erfolg nur in einer Stadt genießen und nicht in andere Städte expandieren kann - schade, denn die Errichtung eines Handelsimperiums à la Hanse oder Fugger mit Transportrouten etc. hätte enorm motiviert.

Grafik/Sound

Die 4Head Studios haben hinsichtlich der Städte wirklich gute Arbeit geleistet: Schmucke Fachwerkhäuser und Marktstände, Tag- und Nachtwechsel, vier Jahreszeiten mit schönen Wettereffekten sowie zahlreiche Bewohner, die ihrer Arbeit nachgehen, sorgen zusammen mit stimmungsvollen Hintergrundklängen schon nach wenigen Spielminuten für die richtige Mittelalteratmosphäre. Die Grafik-Engine lässt Euch zwar nicht in Ego-Perspektive durch die Straßen ziehen, aber Ihr könnt recht nah heranzoomen und dann per Maus navigieren. Die Auflösung lässt sich dabei bis auf 1152 x 864 hochschrauben. Leider können die Innenräume nicht ganz mit der prächtigen Außenoptik mithalten - auch wenn sie teilweise sehr detailliert gestaltet sind. Und der schwächste Teil der Grafik liegt im Bereich der Figuren, die etwas grob texturiert sind und einige Animationsphasen mehr verdient hätten - ein Wusel-Hingucker à la Siedler ist Die Gilde nicht, dafür ein kleines Juwel in Sachen Stadtpanorma. Auch die Sprachausgabe hinterlässt manchmal gemischte Gefühle; nicht alle Beteiligten zeichnen sich durch schauspielerisches Talent aus.

Pro:

  • tolles Mittelalterflair
  • viele Spielvariationen
  • durchdachte Steuerung
  • hoher Wiederspielwert
  • stimmungsvolle Musik
  • sehr gute Stadtarchitektur
  • Mehrspieler-Modus im Netzwerk
  • sehr abwechslungsreiches Gameplay
  • Wirtschaftsspiel mit Rollenspiel-Touch
  • Kontra:

  • unspektakuläre Mini-Spiele
  • lange Eingewöhnungsphase
  • keine Expansion in andere Städte möglich
  • kein Grafikglanz im Detail- und Figurenbereich
  • happiger Schwierigkeitsgrad im Normal-Modus
  • Vergleichbar mit:

    Fugger-Reihe; Patrizier 2

    Fazit

    Glückwunsch an das 4Head-Team! Mit Die Gilde haben die Fugger-Macher bewiesen, dass man eine Wirtschaftssimulation nicht nur ansprechend in 3D umsetzen, sondern auch höchst abwechslungsreich mit verschiedenen Karrieren und Rollenspielelementen würzen kann. Nur die Expansion in andere Städte hätte das Spiel noch interessanter gemacht. Besonderes Lob verdient neben der Hintergrundmusik vor allem die Bedienung, weil sie Euch schnell und intuitiv durch die komplexe Spielstruktur führt. Trotzdem ist -ähnlich wie Patrizier 2- ein gehöriges Maß an Geduld Pflicht, denn schnelle Erfolge gibt`s selten und die Eingewöhnungszeit beträgt mehrere Stunden. Zudem ist der Schwierigkeitsgrad teilweise sehr happig - die Konkurrenz zieht schon im normalen Modus wie von Geisterhand davon. Trotzdem sollte jeder Genre-Fan
    eine Zeitreise wagen!

    Wertung

    PC

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    Kommentare

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