Multiwinia: Survival of the Flattest08.10.2008, Benjamin Schmädig
Multiwinia: Survival of the Flattest

Im Test:

Stille. Regungslose Ampelmännchen schweben lautlos über einfarbigen Maschendrahtzaun. Plötzlich ein Knall und tausend Pixel zerplatzen mit einem mechanischen Stöhnen. Jetzt beginnt das Rattern und Zischen. Hunderte Lasergeschosse blitzen auf eine Hand voll Geschütztürme zu. Nur als eine heulende Sirene einen Atomschlag ankündigt, hält das minimalistische Spektakel kurz die Luft an. Dann fliegen plattgedrückte Pappraketen in großen Ellipsen auf die ebenso flachen Protagonisten zu. "Überleben des Flachsten" untertitelt das Hauptmenü: Multiwinia bedeutet Krieg!

Damals

Es ist ja nicht das erste Mal, dass die britischen Underdogs Introversion ein Kriegs-Szenario digitalisieren: Erst im zwei Jahre alten Quasi-Vorgänger Defcon  warfen sich Online-Feldherren nukleare Sprengköpfe um die Ohren. Jetzt folgt auch Multiwinia dem Konzept des reinen Mehrspieler-Titels, so dass jeweils zwei, drei oder vier Generäle - jeder gegen jeden oder aufgeteilt in zwei Teams - in den Online-Pixelkrieg ziehen. Solisten dürfen dies zwar auch gegen den Computer tun, gehen sonst aber leer aus.

Moment mal: Quasi-Vorgänger? Stammt Multiwinia nicht vom Kritiker-Darling Darwinia ab? Und das hat mit dem fast schon deprimierenden Defcon immerhin nicht viel gemein. Denn wo Defcon mit trockener Kehle verlorene Menschenleben zählte, war Darwinia die sowohl visuell als auch spielerisch erfrischende 

Introversion erklärt Multiwinia: Hier steht der "Blitzkrieg" im Blickpunkt.Hommage an eine Ära, in der Fotorealismus noch mit "Ph" geschrieben wurde. Allerdings war Darwinia auch so altmodisch, dass es jedwede Mehrspieler-Komponente missen ließ - und genau die liefern die Entwickler mit Multiwinia nach. Ist Letzteres also nichts weiter als die Multiplayer-Erweiterung zu Darwinia? Im Grunde stimmt das so. Welche Daseinsberechtigung hat es dann als eigenständiges Spiel?

Introversions Massensprint

Es gibt gleich mehrere Punkte, mit denen sich Multiwinia von seinem Solo-Vater abhebt. Da wäre nämlich eine beachtliche Anzahl an Karten, von denen die meisten exklusiv auf eine der sechs Spielvarianten zugeschnitten wurden. Abgesehen davon sind sechs Modi ohnehin eine stattliche Anzahl - und mit sieben bis neun der einzigartigen Schauplätzen zudem gut ausgestattet. Abgesehen davon funktioniert das Taktieren per Internet nahezu störungsfrei. Kommt es doch mal zu einem kurzen Verbindungsengpass, stört das den Ablauf kaum. Nicht zuletzt wartet Multiwinia mit einer Vielzahl kleiner Änderungen auf, die den Mehrspieler-Gefechten einen ganz eigenen Spielfluss verleihen.

Vom Prinzip her geht es in Multiwinia dabei um das einfache Ziel, die Vorherrschaft auf dem Schlachtfeld zu behalten. Leider trifft das auf jede der sechs Varianten zu, denn egal, ob Domination, King of the Hill, Capture the Statue, Blitzkrieg, Roket Riot oder Assault: Wer strategische Punkte kontrolliert, gewinnt die Runde. Auf der einen Seite gibt es zwar eine Hand voll Finessen, die man beherrschen sollte, auf der anderen Seite gibt Introversion seinen Feldherren aber so wenig taktische Mittel in die Hand, dass diese

Sympathisch, aber mit wenig Handlungsspielraum: Die Multiwinianer greifen an!
nur einen eingeschränkten Handlungsspielraum haben. Gerade im Vergleich zu den ausdauernden Defcon-Geplänkeln in mehreren Etappen wirkt Multiwinia wie ein kurzer Massensprint von tausend einfarbigen Leichtathleten.

Taktische Leichtathletik

Diese "Leichtathleten", Multiwinianer genannt, sind eure Armee, andere Einheiten gibt es leider nicht. Meist startet ihr mit ein paar Dutzend Reservisten, später schieben Brutpunkte oder ein Teleporter in eurer Basis ständig Nachschub hinterher. Die Soldaten verstehen nur einen einzigen Befehl: Gehe dorthin, wo ich klicke. Sie greifen automatisch an, Formationen dürft ihr nicht festlegen, Gruppen könnt ihr zwar bilden, aber nicht per Nummerntaste aufrufen und wer mit mehreren Gruppen zum gemeinsamen Angriff blasen will, hat deshalb ein organisatorisches Problem. Schade: Ein oder zwei Standards der Echtzeitstrategie hätten selbst dem ungewöhnlichen Independent-Titel gut gestanden!

Ganz besonders deshalb, weil man gruppierte und ungruppierte Armee-Häufchen auch nicht durch Einrahmen mit der Maus anwählen darf. Stattdessen werden ungruppierte Multiwinianer dann selektiert, wenn ihr die Maustauste in ihrer Mitte gedrückt haltet. Ein größer werdender Kreis markiert dann die Krieger, denen ihr genau einen Befehl geben könnt - anschließend wird die Auswahl wieder aufgehoben. Das ist vielleicht einzigartig und passt deshalb zum Independent-Image der "Introvertierten"; mit Sicherheit ist es allerdings furchtbar umständlich! Hinzu kommt, dass Kameraschwenks an die Mausbewegung gebunden sind. Spezialaktionen können deshalb auch nur nach umständlichem Durchschalten per Tastendruck ausgelöst werden. Zum Einen wäre die Steuerung mit einem freien Mauszeiger komfortabler gewesen und zum Anderen hätte eine unabhängige Perspektive mehr Übersicht geschaffen.              

Einfacher ist zum Glück die Handhabung der erwähnten Gruppen: Klickt auf irgendeinen Multiwinianer und wählt das Symbol für Formation. Jetzt (und praktischerweise auch jederzeit später) stellen sich alle freien Männer aus der Umgebung in Reih und Glied vor dem Offizier auf, marschieren fortan gemeinsam und kämpfen vor allem effektiver. Im Gegenzug kommen sie nicht so schnell vom Fleck wie ihre ungebundenen Kollegen. Beide legen jedoch eine fragwürdige Wegfindung an den Tag, wenn sie z.B. den taktisch

Diese Rakete müsst ihr in Rocket Riot durch Einnehmen von Solarzellen betanken, bevor eure Multiwinianer an Bord dürfen.
sinnlosen Umweg über eine fast senkrechte Bergwand nehmen oder sich gar selbstständig in einem Fluss ersäufen.

Per Zufall ans Ziel?

Indem ihr also den Nachschub in Richtung Front dirigiert, wo ihr eure Papp-Kämpfer (es sind tatsächlich Sprites!) möglichst effektiv vor dem Gegner aufbaut, besetzt ihr entweder die meisten Brutpunkte (Domination), nehmt markierte Zonen ein (King of the Hill), schnappt euch eine Statue und beschützt deren langsame Träger auf dem Weg zum Ziel (Capture the Statue), stürmt schwer bewachte Stützpunkte oder verteidigt selbige  (Assault), nehmt lange genug Solarzellen ein, damit ihr eure Rakete schneller mit Treibstoff füllt als der Gegner seine (Rocket Riot) oder besetzt markierte Zonen, bevor ihr endlich das feindliche Hauptquartier stürmen dürft (Blitzkrieg).

Wie gesagt: Weil man stets nur Einheiten schiebt und eine Partie laut Voreinstellung ohnehin nur zwischen fünf und 15 Minuten dauert, halten sich Abwechslung und Langzeitmotivation in engen Grenzen. Eine Partie gegen gleich starke Gegner kann zwar unglaublich packend sein, dieser Effekt verpufft allerdings recht schnell, sobald man ein paar solcher kurzen Runden hinter sich hat. Multiwinia fehlt einfach der Tiefgang, um dauerhaft an die Maus zu fesseln. Immerhin lockern aber teils sehr mächtige Extras den Ablauf in sämtlichen Spielvarianten spürbar auf - ausgerechnet dieses Zufallselement sorgt oft am ehesten für Spannung.

Blitzender Retro-Lack

Da fallen nämlich in regelmäßigen Intervallen Kisten vom Himmel, und sobald eure Multiwinianer den Inhalt aufgelesen haben, dürft ihr die Extras einsetzen. U.a. gibt es Transporter, die bis zu 100 eurer Mannen schnell und sicher ans Ziel bringen sowie mit Soldaten besetzbare Geschütze und Flammenwerfer. Ihr erschafft außerdem Wälder, welche die Seelen feindlicher Krieger stehlen, macht eure Soldaten kurzzeitig unverwundbar,

Die mächtigen Extras wirbeln viel Staub auf dem Drahtgitter-Teppich auf.
lasst sie besonders viel Schaden anrichten oder ihre Feinde zu Verbündeten konvertieren. Ihr könnt auch Meteoritenschauer auslösen, Atomwaffen abschießen oder einfach Napalm über den einfarbigen Strichgegnern abwerfen. Wer stets schnell genug Extras sammelt und für den richtigen Zeitpunkt aufhebt, erarbeitet sich wichtige Vorteile. So entstehen kleine Höhepunkte, die in dem strahlenden Retro-Lack zum Leben erweckt werden, der Darwinia so einzigartig machte.

Es ist faszinierend, wie frisch die technische "Notlösung" der Independent-Entwickler selbst in Anbetracht aktueller Grafikwunder wirkt - der visuelle Eindruck ist mit Abstand das Eindrucksvollste an Multiwinias Digi-Krieg! Schade, dass man auf den von Tron geklauten Kulissen nicht einmal eigene Start-, Brutpunkte oder andere Bausteine festlegen kann; der Langlebigkeit hätte das ähnlich gut getan wie ein weltweites Ranglistensystem, eine Lobby oder wenigstens ein Chatfenster, während man auf Mitspieler wartet. Für einen reinen Multiplayer-Titel bietet Introversion einfach eine Idee zu wenig. Immerhin dürft ihr vor jeder Partie etliche Parameter, u.a. Spieldauer, Intervalle zwischen den Abwürfen der Extra-Kisten sowie die Zählweise für die Endabrechnung abändern. Auf Dauer schaffen es aber auch diese Zugaben nicht, die immer wieder zuschnappende Motivationsbremse zu lösen. Multiwinia ist der Snickers unter den Taktikern: zwischendurch lecker, auf Dauer kaum nahrhaft.          

Fazit

Multiwinia macht alles richtig, was schon Darwinia und Defcon richtig machten: Man verliert sich unheimlich schnell im sympathischen Retro-Schick der Drahtgitter-Kulissen und wird von knackigen, kurzweiligen Echtzeitgefechten dort festgehalten. Auf den ersten Blick jedenfalls. Denn beim zweiten Hinschauen dünnt die taktische Tiefe beinahe schneller aus als eine durchschnittliche Runde Defcon dauert: Wo das Mehrspieler-Vorbild mit unterschiedlichen Einheitentypen und einem klug aufgebauten Spannungsaufbau innerhalb jeder Partie etliche Wochen ans Schaltpult ruft, schlagen die Multiwinianer nämlich trotz zahlreicher Karten stets sehr kurze und sich stark ähnelnde Schlachten über eine vergleichsweise magere Online-Anbindung. Die unhandliche Steuerung sowie eine mitunter dusselige Routenplanung der 2D-Kameraden zehren sogar ein wenig an den Nerven. Für sich genommen sind die Scharmützel vor allem wegen wirkungsvoller Extras wie zweidimensionaler Atomraketen oder Multiwinianer fressender Spinnen immer unterhaltsam. Das reicht diesmal aber nicht, um auch spielerisch so zu faszinieren wie es die Vorgänger taten.

Pro

einzigartiger Stil
sechs Spielvarianten...
viele unterschiedliche Karten für jeden Modus...
für kurze Zeit sehr spannend
zahlreiche Einstellmöglichkeiten
etliche, teils sehr coole Extras

Kontra

träge Steuerung lässt viele Feinheiten missen
... die sich spielerisch wenig unterscheiden
... aber kein Editor
keine Online-Lobby, keine Ranglisten
mitunter fragwürdige Wegfindung

Wertung

PC

Ungemein spaßige, aber taktisch schwache Mehrspieler-Erweiterung zu Darwinia.

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