Dreamfall Chapters - Book 1: Reborn31.10.2014, Jan Wöbbeking

Im Test: Freiheit oder Technik-Albtraum?

Lange war es still um die bizarre Traumwelt aus Norwegen. Nach einer Kickstarter-Kampagne und mit Fördergeld bekommt Funcoms Adventure-Serie einen dritten Teil. Machen alternative Entscheidungen die Geschichte ähnlich spannend wie bei Sherlock Holmes?

Wilder Mix aus Norwegen

Magie, Cyberpunk und Traum-Junkies, die sich in eine Parallelwelt flüchten: Die Welt des Adventure-Klassikers The Longest Journey servierte dem Spieler kurz vor der Jahrtausendwende einen wilden Mix beliebter Stilelemente. Die Fortsetzung „Dreamfall: The Longest Journey“ aus dem Jahr 2006 kam dank aufgesetzter Action-Sequenzen nicht ganz so gut bei den Fans an. Mit Teil 3 konzentrieren sich die Entwickler bei Red Thread Games und Blink Studios wieder aufs Rätseln und Erkunden. Rund 1,5 Millionen Dollar brachte eine Kickstarter-Kampagne ein, dazu kamen etwa 800.000 Dollar vom Norwegischen Filminstitut. Das neue Adventure soll seinerseits in fünf „Bücher“, also Episoden aufgeteilt werden: Wer Buch 1 (Untertitel: Reborn) kauft, soll die folgenden Episoden später als kostenlose Updates bekommen.

Willkommen in der Traumwelt!
Alle Unklarheiten beseitigt? Macht nichts – als Neueinsteiger in die Serie habe ich mir auch nach dem Spielstart noch häufig am Kopf gekratzt. Das Schöne daran ist aber, dass ich die für mich neue Welt völlig frei entdecken konnte – und ich habe dank ihrer interessanten Gestaltung auch möglichst viele Details und Nebendialoge in mich aufgesogen. Das Spiel schmeißt mich nach und nach in mehrere Szenarien, welche nur lose miteinander verknüpft sind.

Traumreise

Die Reise startet in der Traumwelt: In der Rolle von Zoe aus Teil 2 finde ich mich in einer finsteren Einöde wieder, wo sie sich selbst im Koma liegend auf dem Krankenbett betrachtet – oder besser gesagt, ihr früheres Ich. Das Geistwesen, welches durch die Traumwelt wandelt, scheint mittlerweile einige andere Charakterzüge entwickelt zu haben, seit ihr Körper ins Koma gefallen ist. Im wahren Leben scheint ihr soziales Umfeld sie gehörig im Stich gelassen zu haben, aber in der Traumwelt hat Zoe offenbar ihre Bestimmung gefunden: Viele verängstigte Seelen wollen von ihr gerettet werden.

Schrankmonster und Licht vertragen sich nicht gut.
Sie haben sich in ihrem Alptraum verirrt und finden nicht mehr in die reale Welt zurück. Schuld daran sind laut Zoe die "Dream Machines". Mit Hilfe der kleinen Kästchen können die Benutzer in Klarträume abtauchen, die sie wie in einem Computerspiel nach ihren Wünschen gestalten können. Im Gegenzug bringen sie fiese Nebenwirkungen mit sich – unter anderem, dass jemand in einem künstlichen Alptraum zurückbleibt und nicht mehr heraus findet.

Rettungstrip durch die Einöde

Das Design der finsteren Traumwelt ist den Entwicklern gut gelungen: Inmitten der mit einem Unschärfefilter überzogenen Eiswüste sehe ich die verängstigten Träumer als schimmernde Lichter. Rätselmechanisch hat die Einöde weniger zu bieten: Aus der Schulterperspektive schlurfe ich durch die Welt, während sich die Puzzles dank meiner Spezialfähigkeiten fast von alleine lösen. Zunächst verlangsame ich die Zeit, um einen Träumer abzubremsen und ihm die Hand reichen zu können. Vorher fiel er in einer Dauerschleife immer wieder in die bodenlose Tiefe. Zwei anderen Schützlingen helfe ich, indem ich Laternen und andere Objekte auf Knopfdruck zum Leuchten bringe. Manchmal muss das Licht auch mit der Zeitlupe kombiniert werden, was aber ebenfalls kaum für Herausforderung sorgt.

Geleitet wird die Entwicklung wieder von Director Ragnar Tørnquist (nicht im Bild).
Im zweiten Kapitel erinnert der Spielablauf schon etwas mehr an ein klassisches Adventure. Dort schlüpfe ich in die Rolle des Apostels und ehemaligen Kriegers Kian Alvane. Er befindet sich in der eingangs erwähnten magischen Parallelwelt Arcadia – und zwar in einem turmförmigen Kerker, in dem er auf seine Hinrichtung wartet. Da ein alter Bekannter einen Aufstand angezettelt hat, versucht er, die Chance zur Flucht wahrzunehmen. Obwohl es einige klassische Kombinationsrätsel gibt, bleibt das kleine Inventar erstaunlich verwaist. Mal muss z.B. ein Pfeil zum Dietrich umgebaut werden, davon abgesehen gibt es aber auch hier nur wenige Rätsel, bei denen ich etwas länger probieren und nachgrübeln musste.

Eine Frage des Gewissens

Manche Situationen erfordern dagegen mein Verhandlungsgeschick: Wie kann ich den hochnäsigen, prinzipientreuen und autoritätshörigen Oberaufseher davon überzeugen,  mich durch die versperrte Gittertür zu lassen. Dass ihn Drohungen nicht beeinflussen, hat er mir bereits vorher verraten. Lasse ich dem Barbaren in mir freien Lauf und drohe, seiner Familie etwas anzutun? Versuche ich ihm darzulegen, dass er von den Häftlingen hinter mir bestimmt weniger Gnade zu erwarten hat? Schön, dass mich das Spiel in fast jedem noch so unwichtigen Dialog vor mehrere Antwortmöglichkeiten stellt, die einschneidenden Einfluss auf die spätere Handlung nehmen sollen. Wenn ich den Cursor über die Multiple-Choice-Phrasen bewege, erläutert mir Kian sogar seine Gedankengänge und Motivationen zur entsprechenden Antwort. Im konkreten Fall setze ich darauf, dass der korrekte Oberaufseher auch in brenzligen Situationen an seinen konservativen Familienwerten festhält.

Zahlreiche Antworten und Entscheidungen wirken sich auf den Spielverlauf aus.
Was nutzt sein Klammern an die Vorschriften, wenn seine Kinder ohne Vater aufwachsen müssen? Das Argument zieht – er ist durch und durch Patriarch und will seine Kinder nicht der Erziehung der „unfähigen“ Mutter überlassen. Ich stürme durchs Tor und kümmere mich ums nächste Inventarrätsel.

Neuanfang

Ob und wie die Entscheidungen tatsächlich Einfluss auf den späteren Spielverlauf nehmen, lässt sich noch nicht bewerten. Im dritten Kapitel ließen sich erste Alternativ-Routen feststellen. Statt für ein angesehenes Labor Algentests durchzuführen, landete ich in der heruntergekommenen Werkstatt einer Untergrund-Tüftlerin und musste testen, ob ihr schrottreif aufgegabelter „Scheißbot“ noch zu irgendwas nutze ist. Kapitel 3 versetzt mich nämlich wieder in Zoes Welt. Sie ist mittlerweile aus dem Koma erwacht, leidet an Gedächtnisverlust und versucht in der Großstadt Propast, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Dazu jobbt sie ein wenig im Labor und unterstützt in der Freizeit den Wahlkampf einer Partei. Auch hier sollen meine Aktionen und Antworten Einfluss auf den späteren Story-Verlauf nehmen.

Rührend: Der talentarme "Scheißbot" entdeckt auf unserem Streifzug durch Propast seine Bestimmung.
Als mein Wahlkampfleiter von einem chinesischen Unterweltboss bedroht wird, gehe ich natürlich dazwischen - zumindest verbal. Durch die Aktion stehe ich hinterher im Fokus seiner offenbar einflussreichen Organisation. Zoes Freund wird später sogar richtig zickig, als er von ihrer „Heldentat“ erfährt. Als investigativer Journalist wird er zwar ohnehin von den Syndikaten und anderen Strippenziehern beobachtet, mit solch einer Schlägertruppe hätte ich mich seiner Meinung aber nicht anlegen sollen. Auch in der Beziehung greift das Entscheidungs-System: Ich kann ihm entgegnen, dass mir sein Ton nicht gefällt – oder einen Streit vermeiden, indem ich abwiegle und den harmonischen Abend zu zweit nicht gefährde, auf den Zoe sich so lange gefreut hat. Interessant ist, dass ich ähnlich wie bei Sherlock Holmes hinterher die sozialen und ethischen Entscheidungen anderer Spieler nachlesen kann: Ganze 91,2% der Spieler hatten keine Lust auf einen Streit mit Zoes Freund und haben nicht auf den Tisch gehauen.  In der Rolle von Kian haben nur 17,4% nicht zugestochen, als sie ein leidender Mithäftling um den Todesstoß angebettelt hat.

Ein Wust von Bugs

Dumm nur, wenn ich aufgrund eines Bugs nicht sehen kann, wofür ich mich eigentlich entscheiden soll. Der erläuternde Gedankengang zur Pärchenstreit-Entscheidung wurde bei mir einfach nicht angezeigt – und auch anderswo strotzen die Dialoge nur so vor technischen Fehlern: Mal werden die falschen Sätze abgespielt, anderswo wechselt die Sprachausgabe kurzzeitig ins Englische und manchmal schweigen die Figuren sich sogar an, statt den vorgesehenen Dialog abzuspulen. Wer die Untertitel anschaltet, bekommt immerhin dort alles mit – nervig ist des Kuddelmuddel trotzdem. Und wenn sogar komplette Texteinblendungen bei Entscheidungen verschwinden, ist das natürlich besonders ärgerlich.

Propast wurde stimmungsvoll gestaltet, die Gesichtsanimationen können aber nicht mit Beyond: Two Souls mithalten.
Man merkt an allen Ecken und Enden, dass das Team sich mit dem relativ großen Stadtviertel im dritten Kapitel übernommen hat: Mit einer GeForce GTX 770 muss ich die Einstellungen gewaltig herunterregeln, damit die Bildwiederholrate in belebten Arealen nicht in den einstelligen Bereich fällt. An manchen Orten kann ich sogar frei durch die Wand aus der Karte herausspazieren und die nackte Polygon-Struktur von außen betrachten.  Dazu kommen starke Clipping-Fehler und andere Schönheitsfehler in der eigentlich hübsch gestalteten Stadt. Der Abspann blieb bei mir sogar komplett schwarz.

Glaubwürdige Cyberpunk-Welt

Schade, denn wenn man darüber hinweg sieht, haben die Entwickler eine faszinierende Cyberpunk-Stadt erschaffen. Selbst, wenn ich nur mal wieder von A nach B laufen muss, macht es Spaß, immer tiefer ins pulsierende Leben von Propast einzutauchen. Die Passanten auf der Straße unterhalten sich über die bevorstehenden Wahlen, einige Händler zeigen bei ihren Verhandlungen neurotische Züge und fast an jeder Straßenecke liegt ein „Traum-Junkie“ herum, der sich mit einer der gefährlichen Dream-Machines in seine Fantasiewelt flüchtet. Die ruhige Musik hält sich so sehr im Hintergrund, dass ich mich im Nachhinein kaum an sie erinnern kann – sie passt aber gut zum entspannten Spielablauf. Auch die Charaktere sind glaubwürdig gezeichnet: Die väterliche Mentor-Figur von Zoes Freund besitzt z.B. viel Persönlichkeit. Wenn ich ihn in Nebendialogen darauf anspreche, berichtet er mir davon, wie er in der vergangenen Nacht auf einer polnischen Hochzeit mit zu viel Wodka versackt ist und wieder mal nicht bei einer Frau landen konnte (was ihn nicht davon abhält, ständig scherzhaft mit Zoe zu flirten).

Bug-Fest: An manchen Stellen kann man einfach aus der Karte spazieren. Auch die Controller-Steuerung hat ihre Zicken, manche Funktionen muss man erst selbst belegen. Mit Maus und Tastatur klappt es deutlich besser.
Auch die politische Situation erklären er, mein Wahlkampfleiter und eine einflussreiche Unterstützerin auf unterhaltsame Weise: Ähnlich wie in der heutigen Gesellschaft existieren auch im Zusammenschluss Europolis und dessen Bezirk Propast verschiedene gemäßigte Parteien, ein Rechtspopulist sowie einige wirtschaftliche Organisationen, die im Hintergrund ihre Fäden ziehen.

Neurotische Roboter

Leider bieten auch hier die Rätsel kaum Anspruch oder haben mich trotz ihres simplen Aufbaus sogar verwirrt: Mein „Scheißbot“ verschwindet z.B. bei einer seiner Aufgaben hoch in die Lüfte und hinterlässt nur noch einen sporadisch flackernden Wegpunkt in Richtung Himmel. Da ich den Bot kurz danach wieder in der Werkstatt antraf, dachte ich, dass ich etwas falsch gemacht hätte – oder dass ich einen weiteren Bug entdeckt hätte. Stattdessen kam ich irgendwann darauf, dass ich einfach eine Reihe von Treppen hinauf laufen und den Bot einsammeln musste. Dadurch werden quasi die gescheiterten Tests des Bots wie vorgesehen abgeschlossen und ich kann zurück zur Werkstatt. Im Gegenzug sind immerhin die Gespräche mit dem Roboter humorvoll geschrieben und erinnern ein wenig an den guten alten depressiven Marvin aus „Per Anhalter durch die Galaxis“.

Fazit

Das erste Buch von Dreamfall Chapters bietet einen seltsamen Mix: Die faszinierend gestaltete Welt, glaubwürdige Figuren und toll geschriebene Dialoge haben mich sofort ins Spiel hineingezogen. Die zahlreichen Hintergründe zu Propast, Arcadia und die gruseligen Traummaschinen habe ich regelrecht in mich aufgesogen. Cool sind auch die häufigen Gewissensentscheidungen – wie stark sie den Spielverlauf prägen, muss sich aber noch zeigen. Mein Entdeckungsdrang wurde aber immer wieder durch die schwach designten Rätsel oder einen der zahlreichen Bugs ausgebremst. Wenn mich eines der Puzzles mal etwas länger beschäftigt hat, war meistens nur ein Missverständnis oder ein Fehler in der Spielwelt daran schuld. Offenbar haben die Entwickler sich mit ihrem ambitionierten Projekt übernommen – ich hoffe darauf, dass die zweite Episode runder läuft.

Pro

faszinierend vielschichtige Spielwelt
Interessante und glaubwürdige Charaktere
viele Gewissens-Entscheidungen verändern die Geschichte
ansehnliche Cyberpunk-Stadt

Kontra

Unmengen kleiner Bugs stiften Verwirrung
kaum anspruchsvolle oder komplexe Rätsel
schwerer Story-Einstieg für Neueinsteiger
hoher Hardwarehunger bringt die Welt gelegentlich ins Ruckeln
abrupter Übergang zwischen den Szenarien erschwert das Verständnis
misslungene Controller-Steuerung (Maus und Tastatur aber auch möglich)

Wertung

PC

Eine faszinierende Welt und glaubwürdige Charaktere besitzen Potential, doch simpel gestaltete Rätsel und zahlreiche technische Fehler sorgen für einen sperrigen Auftakt.

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