Im Test: Freiheit oder Technik-Albtraum?
Wilder Mix aus Norwegen
Magie, Cyberpunk und Traum-Junkies, die sich in eine Parallelwelt flüchten: Die Welt des Adventure-Klassikers The Longest Journey servierte dem Spieler kurz vor der Jahrtausendwende einen wilden Mix beliebter Stilelemente. Die Fortsetzung „Dreamfall: The Longest Journey“ aus dem Jahr 2006 kam dank aufgesetzter Action-Sequenzen nicht ganz so gut bei den Fans an. Mit Teil 3 konzentrieren sich die Entwickler bei Red Thread Games und Blink Studios wieder aufs Rätseln und Erkunden. Rund 1,5 Millionen Dollar brachte eine Kickstarter-Kampagne ein, dazu kamen etwa 800.000 Dollar vom Norwegischen Filminstitut. Das neue Adventure soll seinerseits in fünf „Bücher“, also Episoden aufgeteilt werden: Wer Buch 1 (Untertitel: Reborn) kauft, soll die folgenden Episoden später als kostenlose Updates bekommen.
Traumreise
Die Reise startet in der Traumwelt: In der Rolle von Zoe aus Teil 2 finde ich mich in einer finsteren Einöde wieder, wo sie sich selbst im Koma liegend auf dem Krankenbett betrachtet – oder besser gesagt, ihr früheres Ich. Das Geistwesen, welches durch die Traumwelt wandelt, scheint mittlerweile einige andere Charakterzüge entwickelt zu haben, seit ihr Körper ins Koma gefallen ist. Im wahren Leben scheint ihr soziales Umfeld sie gehörig im Stich gelassen zu haben, aber in der Traumwelt hat Zoe offenbar ihre Bestimmung gefunden: Viele verängstigte Seelen wollen von ihr gerettet werden.
Rettungstrip durch die Einöde
Das Design der finsteren Traumwelt ist den Entwicklern gut gelungen: Inmitten der mit einem Unschärfefilter überzogenen Eiswüste sehe ich die verängstigten Träumer als schimmernde Lichter. Rätselmechanisch hat die Einöde weniger zu bieten: Aus der Schulterperspektive schlurfe ich durch die Welt, während sich die Puzzles dank meiner Spezialfähigkeiten fast von alleine lösen. Zunächst verlangsame ich die Zeit, um einen Träumer abzubremsen und ihm die Hand reichen zu können. Vorher fiel er in einer Dauerschleife immer wieder in die bodenlose Tiefe. Zwei anderen Schützlingen helfe ich, indem ich Laternen und andere Objekte auf Knopfdruck zum Leuchten bringe. Manchmal muss das Licht auch mit der Zeitlupe kombiniert werden, was aber ebenfalls kaum für Herausforderung sorgt.
Eine Frage des Gewissens
Manche Situationen erfordern dagegen mein Verhandlungsgeschick: Wie kann ich den hochnäsigen, prinzipientreuen und autoritätshörigen Oberaufseher davon überzeugen, mich durch die versperrte Gittertür zu lassen. Dass ihn Drohungen nicht beeinflussen, hat er mir bereits vorher verraten. Lasse ich dem Barbaren in mir freien Lauf und drohe, seiner Familie etwas anzutun? Versuche ich ihm darzulegen, dass er von den Häftlingen hinter mir bestimmt weniger Gnade zu erwarten hat? Schön, dass mich das Spiel in fast jedem noch so unwichtigen Dialog vor mehrere Antwortmöglichkeiten stellt, die einschneidenden Einfluss auf die spätere Handlung nehmen sollen. Wenn ich den Cursor über die Multiple-Choice-Phrasen bewege, erläutert mir Kian sogar seine Gedankengänge und Motivationen zur entsprechenden Antwort. Im konkreten Fall setze ich darauf, dass der korrekte Oberaufseher auch in brenzligen Situationen an seinen konservativen Familienwerten festhält.
Neuanfang
Ob und wie die Entscheidungen tatsächlich Einfluss auf den späteren Spielverlauf nehmen, lässt sich noch nicht bewerten. Im dritten Kapitel ließen sich erste Alternativ-Routen feststellen. Statt für ein angesehenes Labor Algentests durchzuführen, landete ich in der heruntergekommenen Werkstatt einer Untergrund-Tüftlerin und musste testen, ob ihr schrottreif aufgegabelter „Scheißbot“ noch zu irgendwas nutze ist. Kapitel 3 versetzt mich nämlich wieder in Zoes Welt. Sie ist mittlerweile aus dem Koma erwacht, leidet an Gedächtnisverlust und versucht in der Großstadt Propast, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Dazu jobbt sie ein wenig im Labor und unterstützt in der Freizeit den Wahlkampf einer Partei. Auch hier sollen meine Aktionen und Antworten Einfluss auf den späteren Story-Verlauf nehmen.
Ein Wust von Bugs
Dumm nur, wenn ich aufgrund eines Bugs nicht sehen kann, wofür ich mich eigentlich entscheiden soll. Der erläuternde Gedankengang zur Pärchenstreit-Entscheidung wurde bei mir einfach nicht angezeigt – und auch anderswo strotzen die Dialoge nur so vor technischen Fehlern: Mal werden die falschen Sätze abgespielt, anderswo wechselt die Sprachausgabe kurzzeitig ins Englische und manchmal schweigen die Figuren sich sogar an, statt den vorgesehenen Dialog abzuspulen. Wer die Untertitel anschaltet, bekommt immerhin dort alles mit – nervig ist des Kuddelmuddel trotzdem. Und wenn sogar komplette Texteinblendungen bei Entscheidungen verschwinden, ist das natürlich besonders ärgerlich.
Glaubwürdige Cyberpunk-Welt
Schade, denn wenn man darüber hinweg sieht, haben die Entwickler eine faszinierende Cyberpunk-Stadt erschaffen. Selbst, wenn ich nur mal wieder von A nach B laufen muss, macht es Spaß, immer tiefer ins pulsierende Leben von Propast einzutauchen. Die Passanten auf der Straße unterhalten sich über die bevorstehenden Wahlen, einige Händler zeigen bei ihren Verhandlungen neurotische Züge und fast an jeder Straßenecke liegt ein „Traum-Junkie“ herum, der sich mit einer der gefährlichen Dream-Machines in seine Fantasiewelt flüchtet. Die ruhige Musik hält sich so sehr im Hintergrund, dass ich mich im Nachhinein kaum an sie erinnern kann – sie passt aber gut zum entspannten Spielablauf. Auch die Charaktere sind glaubwürdig gezeichnet: Die väterliche Mentor-Figur von Zoes Freund besitzt z.B. viel Persönlichkeit. Wenn ich ihn in Nebendialogen darauf anspreche, berichtet er mir davon, wie er in der vergangenen Nacht auf einer polnischen Hochzeit mit zu viel Wodka versackt ist und wieder mal nicht bei einer Frau landen konnte (was ihn nicht davon abhält, ständig scherzhaft mit Zoe zu flirten).
Neurotische Roboter
Leider bieten auch hier die Rätsel kaum Anspruch oder haben mich trotz ihres simplen Aufbaus sogar verwirrt: Mein „Scheißbot“ verschwindet z.B. bei einer seiner Aufgaben hoch in die Lüfte und hinterlässt nur noch einen sporadisch flackernden Wegpunkt in Richtung Himmel. Da ich den Bot kurz danach wieder in der Werkstatt antraf, dachte ich, dass ich etwas falsch gemacht hätte – oder dass ich einen weiteren Bug entdeckt hätte. Stattdessen kam ich irgendwann darauf, dass ich einfach eine Reihe von Treppen hinauf laufen und den Bot einsammeln musste. Dadurch werden quasi die gescheiterten Tests des Bots wie vorgesehen abgeschlossen und ich kann zurück zur Werkstatt. Im Gegenzug sind immerhin die Gespräche mit dem Roboter humorvoll geschrieben und erinnern ein wenig an den guten alten depressiven Marvin aus „Per Anhalter durch die Galaxis“.
Fazit
Das erste Buch von Dreamfall Chapters bietet einen seltsamen Mix: Die faszinierend gestaltete Welt, glaubwürdige Figuren und toll geschriebene Dialoge haben mich sofort ins Spiel hineingezogen. Die zahlreichen Hintergründe zu Propast, Arcadia und die gruseligen Traummaschinen habe ich regelrecht in mich aufgesogen. Cool sind auch die häufigen Gewissensentscheidungen – wie stark sie den Spielverlauf prägen, muss sich aber noch zeigen. Mein Entdeckungsdrang wurde aber immer wieder durch die schwach designten Rätsel oder einen der zahlreichen Bugs ausgebremst. Wenn mich eines der Puzzles mal etwas länger beschäftigt hat, war meistens nur ein Missverständnis oder ein Fehler in der Spielwelt daran schuld. Offenbar haben die Entwickler sich mit ihrem ambitionierten Projekt übernommen – ich hoffe darauf, dass die zweite Episode runder läuft.
Pro
Kontra
Wertung
PC
Eine faszinierende Welt und glaubwürdige Charaktere besitzen Potential, doch simpel gestaltete Rätsel und zahlreiche technische Fehler sorgen für einen sperrigen Auftakt.
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