Neverwinter Nights06.07.2002, Jörg Luibl
Neverwinter Nights

Im Test:

Ein Sommer, wie gemacht für Fantasy-Fans: Nach Morrowind und WarCraft III ist jetzt endlich auch Neverwinter Nights (ab 3,99€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) im Handel. Aber biele Fragen ranken sich um das 3D-Rollenspiel aus dem Hause BioWare: Haben die Baldur`s Gate-Schöpfer ein weiteres Spiele-Highlight erschaffen? Kann die Grafik-Engine überzeugen? Ist der Editor tatsächlich so mächtig und einfach zugleich, dass sich eine lebendige Szene frei schaffender Modul-Künstler etablieren kann? All das und noch einiges mehr beantwortet unser ausführlicher Test!

Ein Herz für Einsteiger

D&D ist ein Fremdwort? Baldur`s Gate 2 (BG2) sagt Euch nichts? Allen Fantasy-Abstinenzlern und Neueinsteigern präsentiert BioWare in der ersten Spielstunde ein schönes in die Story eingebundenes Tutorial, das mit der Steuerung, dem Kampfsystem, Inventar und Aufstieg vertraut macht. Das entschädigt einigermaßen für die farbige, aber schmucklose Karte und das mickrige Handbuch, das dem Spiel beiliegt. Doch zuvor dürft Ihr Euch bei der Charaktererschaffung austoben und aus einem Sammelsurium an Rassen und Klassen Euren ganz persönlichen Helden stricken.

3. D&D-Edition mit Abstrichen

Nach Pool of Radiance 2 (POR2) wird NN das zweite Rollenspiel sein, das die 3. Edition der D&D-Regeln integriert: Euch erwarten sieben Rassen, elf Klassen, über 200 Monster und Zaubersprüche sowie neue Fertigkeiten. Menschen, Zwergen, Elfen und Halbelfen und auch Halb-Orks, Halblinge und Gnome stehen zur Auswahl. Zu den üblichen Klassen wie Kämpfer und Zauberer gesellen sich jetzt zusätzlich der Barbar, der Mönch und der Hexer. Kombinationen sind zwar auch möglich, aber die Karrierebegrenzung liegt bei Level 20 und maximal drei Klassen. D.h., Ihr könnt höchstens einen Level 20-Paladin spielen oder etwa einen Level 14-Krieger, der gleichzeitig ein Level 4-Dieb und Level 2-Barde ist. Allerdings werden D&D-Fans schnell bemerken, dass BioWare nicht alle Elemente des Regelsystems integriert hat: Schwimmen, Klettern und Reiten bleiben zunächst ebenso außen vor wie die "Prestige classes" (etwa die Spezialisierung zum Assassinen).

__NEWCOL__Intuitive, schnelle Steuerung

Bei der Steuerung könnt Ihr auf drei verschiedene Kamera-Einstellungen zurückgreifen. Je nach Geschmack bedient Ihr sie lieber, lasst sie dynamisch mitschwenken oder stellt sie auf einen festen Punkt ein. Selbst eine Shooter-ähnliche Steuerung der Party ist möglich. Im Gegensatz zu POR2 lässt sich auch das Verhalten wesentlich einfacher managen: Per Rechtsklick auf den Charakter öffnet sich ein Kreismenü mit Spezialangriffen, Zaubern oder Kommandos. Und dank satten drei Leisten voller Schnellzugriffstasten, die Ihr mit Waffen, Tränken und Zaubern belegen könnt, bleiben Euch lange Klickorgien und Inventar-Suchereien erspart. Besonders schön ist, dass sich auf einen Tastendruck sogar zwei Waffen gleichzeitig bzw. Schwert und Schild ausrüsten lassen. Hinzu kommt die aus BG2 bekannte Pause-Funktion, die in brenzligen Situationen entspanntes taktisches Planen ermöglicht - Hektik kommt da gar nicht erst auf.

Unbeschwertes Rollenspielglück

NN hat im normalen Modus eine hervorragende Spielbalance, die Euch ohne große Probleme stetig vorankommen lässt. Die Gegner sind meist locker in die ewigen Jagdgründe zu befördern und ihre Stärke wird zudem noch farblich markiert: grün ist leicht, lila fast nicht zu schaffen. Und wenn kein Heiltrank in Sicht ist und die Lebenspunkte bedrohlich schwinden, kann man fast überall rasten bis alle wieder topfit sind. Die Entwickler haben hier ordentlich Inspiration bei aktuellen Online-Rollenspielen getankt und sich deutlich um unbeschwertes Spielvergnügen bemüht. Dazu trägt auch der Rückrufstein bei, der Euch immer einen freien Teleport zum Heiler garantiert - nur der Rückweg kostet ein wenig Gold. Gerade dieses Feature macht das Heldenleben leichter. BG2-Kenner können daher ruhig im Hardcore-D&D-Modus spielen.

Die Party ist vorbei

Stand in BG2 noch die eigene Party im Vordergrund, die aus einer Handvoll Abenteurern bestehen konnte, die durch herrliche Streitereien oder gegenseitige Komplimente für Stimmung sorgten, zeigt sich NN enttäuschend spartanisch: Euer selbst erschaffener Held kann nur von einem Abenteurer begleitet werden - Gruppendynamik ade. Ihr habt zwar wieder die Qual der Wahl zwischen einem halben Dutzend Aspiranten mit skurrilen Hintergrundstorys und eigenen Quests, aber es gibt keine witzigen Kommentare mehr, keine Zicken, keine Mätzchen. Im Grunde bleibt es im zwischenmenschlichen Bereich bei Kampfanweisungen wie "Beschütze mich!" oder "Halte die Stellung!". Selbst auf das Inventar Eures Begleiters könnt Ihr nicht zugreifen, keine Waffen oder Rüstungen tauschen - unverständlich. Einen kleinen Trost bieten da nur beschworene Kreaturen wie Panther oder Bären, die z.B. den Waldläufer begleiten.

__NEWCOL__Ein Sommer voller Quests

Falls Ihr zu den Spielern gehört, die nicht nur der Hauptgeschichte folgen, sondern auch jede kleine Nebenaufgabe meistern, gibt es eine freudige Nachricht: Auch wenn NN nicht an die 200 Mammut-Stunden von BG2 herankommt, sorgen Dutzende von interessanten Nebenquests für über 50 Stunden Fantasy-Unterhaltung. Dabei wird Euch nicht erzählerische Schmalspurkost geboten, sondern teilweise höchst amüsante, tragische und verzwickte Anekdoten zum Besten gegeben, die Niewinter und Umgebung erst richtig Leben einhauchen - ein Pläuschchen lohnt sich fast immer. Zu loben ist hier auch die interaktive Mini-Map, die wichtige Orte kennzeichnet und sich beschriften lässt. Besonders motivierend ist die freie Wahl des nächsten Schrittes, denn meist könnt Ihr selber entscheiden, was Ihr zuerst erledigt oder welchen Hinweisen Ihr nachspüren wollt. Damit spielt sich NN trotz der linearen Story erfrischend offen. Alle Quests werden übrigens im vorbildlichen Tagebuch vermerkt. Im Gegensatz zu Morrowinds Wust an Informationen ist hier alles schön übersichtlich nach Priorität und Status aufgelistet: Jede erledigte Aufgabe kommt in einen eigenen Ordner - sehr schön.

Freies Klauen für alle

Wo die zahlreichen Quests mit Einfallsreichtum glänzen, enttäuscht die KI der NPCs mit teilnahmslosem Verhalten: Zwar bemerken einige Figuren noch Eure gezückten Klingen und weisen Euch darauf hin, diese bitte abzulegen. Aber scheinbar hat noch niemand etwas von Privatsphäre oder Diebstahl gehört. Ihr könnt in jedes Haus eindringen und jede Kiste und Truhen öffnen, die eindeutig zum Privatbesitz eines NPCs gehört. Das ist gerade für Schurken ziemlich bitter, denn der Nervenkitzel des Schleichens und unerkannten Stehlens ist futsch. Wenn man bedenkt, dass die NPCS in BG2 Diebstähle sofort meldeten oder zum Angriff übergingen, ist das ein sehr enttäuschender Rückschritt Richtung Action-Rollenspiel.

Schatzkisten-Tombola

Zufallsgenerierte Schätze machen jede Kiste und jede Truhe zur kleinen Überraschungs-Tombola: Gold, Heiltränke, Pfeile, Edelsteine - alles kann drin sein. Einerseits hat man irgendwie das Gefühl, dass es zu viele herrenlose Kisten gibt, die mit Gold und Gegenständen gefüllt sind. Hier gewinnt NN schon fast Arcade-Charakter à la Gauntlet. Andererseits trägt diese Schwemme an Kisten auch zum Suchtfaktor bei, den Hunderte von Tränken, Waffen und Rüstungen ausmachen. Diablo & Co lassen nicht nur hier grüßen, sondern in positiver Hinsicht auch bei der Kombination von Gegenständen: Schwerter lassen sich z.B. mit dem richtigen Edelstein bei einem Schmied verzaubern und so mit netten Zusatzattacken versehen. Auch spektakuläre magische Gegenstände lassen sich mit den richtigen Zutaten brutzeln.

Pen&Paper meets PC

Im Multiplayer-Modus könnt Ihr wie schon bei BG2 die ganze Story kooperativ mit Freunden durchspielen - im LAN oder über das Internet. Dass man hier viel Geduld und am besten Headset-Kommunikation braucht, ist schon seit BG2 bekannt. Aber der wahre Multiplayer-Reiz geht ohnehin von selbst gebastelten Abenteuern oder den Spielleiter-Sitzungen aus, wo einer von Euch im Hintergrund die Fäden zieht. Voraussetzung für diese Freiheit ist das Aurora Toolset: Damit haben die Entwickler ihre Schatzkiste geöffnet und Euch freien Zugang zum prall gefüllten D&D-Universum verschafft - Statistiken, Grafiksets, Figuren, Skripte. Der Traum, die optischen und akustischen Stärken des Computer-Rollenspiels mit der Atmosphäre und Kreativität der Pen&Paper-Sitzungen zu verbinden, ist tatsächlich Wirklichkeit geworden. Auf einfachste Art und Weise lassen sich eigene Fantasy-Welten samt Story zaubern. Trotzdem können wir dieses hervorragende Feature nicht in die Multiplayer-Wertung einbeziehen, weil letztlich Eure Fähigkeiten hier über den Spielspaß entscheiden.

Baldur`s Gate in 3D?

Gras wiegt sich sanft im Wind, Lichtschächte durchfluten düstere Wälder und Laub rieselt vom Himmel.

Atmosphärisch zaubert NN bisweilen ein erstklassiges Ambiente, das von malerischen Dörfern, verschlungenen Tälern bis hin zu Grüften, Höhlen und verwinkelten Burganlagen reicht. Aber technisch kann die Grafik-Engine trotz ansehnlicher Licht- und Schatteneffekte nicht vollauf überzeugen: Selbst auf High-End-Rechnern muss man hier und da optische Features zurückschrauben, damit das Ruckeln nicht stört. Und absolut hinter der Zeit sind leider die nervenden Ladeübergänge, sobald man ein Haus oder ein neues Gebiet betritt. Da ruft man sich schon mal wehmütig die nahtlosen Übergänge aus Dungeon Siege in Erinnerung. Optisch haben sich die Grafiker einfach dem Modul-Charakter unterworfen: Das heißt, dass man dem Landschafts- und Dungeondesign das rechtwinklige Baukastenprinzip ansieht. Es gibt quasi keine diagonal oder sanft geschwungen verlaufenden Flüsse oder Straßen; überall lässt sich der rechte Winkel ausmachen. Damit kann man trotz der herrlichen Stimmung, die sowohl Musikuntermalung als auch Nebel- und Lichteffekte erzeugen, leider kein harmonisches Gesamtbild erzeugen.

__NEWCOL__Kampfanimationen deluxe

Der Pfeil surrt durch den engen Korridor und schlägt in der Schulter eines brüllenden Ork-Häuptlings ein. Dann schnellt ein schwarzer Panther vor, springt die Grünhaut an und gräbt seine Pranken in dessen Fleisch, bevor der Ork krachend zu Boden geht.

Zwar rechnen im Hintergrund die D&D-Statistiken aus, ob Ihr im Kampf trefft oder erfolgreich ausweicht, aber auf dem Monitor könnt Ihr jedes Gefecht in Echtzeit beobachten und das mit herrlichen Animationen: Eure Recken ducken sich, Pfeile schlagen in Schilde ein, Funken sprühen bei parierten Schlägen oder sie setzen zu spektakulären Spezialattacken an. Hier ist NN seinem isometrischen Vorgänger meilenweit voraus, denn die Kampfanimationen sind enorm vielfältig und lassen sich aus jedem erdenklichen Winkel beobachten.

Heroisch, episch, packend

Auch wenn Neverwinter Nights optisch nicht an die malerischen Feinheiten von BG2 oder die technische Klasse von Dungeon Siege herankommt, hat BioWare musikalisch wieder eine erstklassige Vorstellung abgeliefert: Epische Symphonien wechseln sich mit dramatischen Kampfakkorden ab, die jeder Auseinandersetzung die nötige Herzklopfstimmung einhauchen. Auch die Umgebungsgeräusche wie tosende Winde, raschelndes Laub oder die zahlreichen Tier- und Monsterlaute können auf ganzer Linie überzeugen. Die deutsche Lokalisierung darf sich trotz einiger kleiner Schnitzer (alter Mann spricht mit junger Stimme) ebenfalls auf die Schulter klopfen, denn die wichtigen Figuren zeichnen sich durch passende und teilweise sehr stimmungsvolle Dialoge aus. Einziger Kritikpunkt bleiben so manche Bewohner- und NPC-Sounds in Städten und Burgen, die sich einfach zu oft wiederholen.

Fazit


Neverwinter Nights ist Fantasy mit Seele - ein packendes, unterhaltsames Rollenspiel. Aber es kann aufgrund technischer und spielerischer Tücken nicht nahtlos an die Brillanz von Baldur`s Gate 2 anknüpfen: Die neue Grafik-Engine lässt trotz einiger atmosphärischer Glanzpunkte und ansehnlicher Kampfanimationen wenig Feinheiten zu und bleibt insgesamt hinter Dungeon Siege zurück. Dafür präsentiert BioWare sowohl musikalisch als auch hinsichtlich des Quest-Designs wieder ein Meisterstück. Die Liebe zum Detail strömt dem Spiel aus allen Poren und es verdient aufgrund der abwechslungsreichen und interessanten Storys ein dickes Lob. Trotzdem dürfte auch spielerisch so mancher Baldur`s Gate-Veteran enttäuscht sein: Es gibt keine große Abenteuergruppe mehr, kein Party-Gequatsche, Diebstähle und Hausfriedensbruch bleiben vollkommen ungeahndet - ein Hauch von Diablo hat Einzug gehalten. Im Grunde liegt die wahre Leistung von BioWare aber im fantastischen Editor: Das Aurora Toolset stellt den innovativsten Schritt seit Jahren im Rollenspielbereich dar und ermöglicht endlich die Verschmelzung von Pen&Paper-Kreativität und PC-Technik. Wenn Ihr Niewinter gerettet habt, erzählt Ihr einfach Eure eigene Geschichte!
(Jörg)

24 Stunden pro Tag sind einfach viel zu wenig! Diese Erkenntnis erlangt man schnell, hat man erst einmal ein paar Minuten mit Biowares neuestem Rollenspiel-Spross Neverwinter Nights verbracht. Die Story mit all ihren kleinen Quests zieht einen sofort in ihren Bann und auch die paar Punkte zum nächsten Levelaufstieg und den damit verbundenen neuen Fähigkeiten sowie die Jagd nach neuen Items lässt einen einfach nicht mehr los. Doch neben diesen überzeugenden Punkten muss man im Gegensatz zu Baldur´s Gate 1 und 2 auch ein paar Abstriche machen. Eine richtige Party sucht man vergeblich und der eine Begleiter ist eigentlich eher ein Mitläufer, dem man nur oberflächliche Befehle geben kann. Die Grafik pendelt zwischen einem "gut" bis "sehr gut" und kann im Gegensatz zum Sound nicht vollends überzeugen. Dennoch kann ich die Niewinter-Nächte nur jedem ans Herz legen, der auch nur die geringste Lust an einem storylastigen Rollenspiel verspürt!
(Marc)

Pro

<li>epische Story</li><li>tolle Soundeffekte</li><li>sehr gutes Tagebuch</li><li>absolut genialer Editor</li><li>offizielle D&D-Lizenz</li><li>sehr gute Spielbalance</li><li>Pen&Paper-Flair am PC</li><li>abwechslungsreiche Quests</li><li>Gegenstände kombinierbar</li><li>ansehnliche Kampfanimationen</li><li>vorbildliche, einfache Steuerung</li><li>hervorragendes Licht- & Schattenspiel</li><li>erstklassige, packende Musikuntermalung</li>

Kontra

<li>keine richtige Party</li><li>Performance-Probleme</li><li>schwaches NPC-Verhalten</li><li>kleine Wegfindungstücken</li><li>Grafik-Engine mit Schwächen</li><li>sich wiederholende Stadtakustik</li><li>Tendenz Richtung Action-RPG</li><li>keine filmischen Zwischensequenzen</li><li>wenig optische Details (Innenräume etc.)</li>

Wertung

PC

Neverwinter Nights ist Fantasy mit Seele - ein packendes, unterhaltsames Rollenspiel.

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