The Age of Decadence22.01.2015, Jörg Luibl
The Age of Decadence

Vorschau: Imperiale Konsequenzen

Das isometrische Rollenspiel The Age of Decadence befindet sich seit mehr als einem Jahrzehnt bei Iron Tower Games in Entwicklung. Im Jahr 2004 startete das Vier-Mann-Team rund um Vince D. Weller das ambitionierte Projekt: Kein Mittelerde und keine Schwertküste, sondern eine an das Römische Reich angelehnte Low-Fantasy-Welt mit wenig Magie und authentischen Waffen sollte es werden - erzählerisch offen, je nach Klasse unterschiedlich erlebbar und mit spürbaren Konsequenzen im Handlungsverlauf. Wir haben die kürzlich aktualisierte Version gespielt.

Mit dem letzten Lebenspunkt

Als mein Assassine den Dolch mit einem kritischen Treffer versenkt, muss ich jubeln. Erstens, weil ich diesen Kampf schon zum vierten oder fünften Mal mit anderer Taktik ausprobiere - eigentlich wollte ich schon aufgeben und einem anderen Auftrag folgen. Zweitens, weil da endlich der miese dritte und damit letzte Gegner in einer Blutlache liegt. Warum ließ er sich in dem Dialog davor auch nicht einschüchtern? Und drittens, weil ich tatsächlich noch einen verdammten Lebenspunkt habe. Man kann auch sagen, dass das ein heikles Gefecht auf Messers Schneide war – also ab zum Heiler.

Das rundenbasierte Kampfsystem setzt auf Aktionspunkte: Jede Bewegung und jedes Manöver muss bezahlt werden. Der Assassin steht da übrigens nicht gut...
In diesem Abenteuer stirbt man schneller als man seine Waffe wechseln kann. Deshalb beobachtet und führt man diese Gefechte höchst konzentriert. Und man überlegt sich dreimal, ob man sie überhaupt riskiert – vor allem, wenn man eine eher zivile der acht Klassen wie „Loremaster“, „Grifter“ oder „Merchant“ spielt. Letzter darf bei der Charaktererschaffung zwar 60 Punkte auf die zwölf zivilen Fähigkeiten wie Handel, Etikette oder Alchemie verteilen, aber nur 20 Punkte auf die elf Kampfattribute wie Schwert, Armbrust oder Block. Schön übrigens, dass verwandte Waffen auch von der Aufwertung profitieren.

Ein Niemand gibt sein Ehrenwort

Das Spiel entführt in eine Low-Fantasy-Welt, die vom Fall des Römischen Reiches inspiriert wurde. Ein Imperium liegt nach einer schrecklichen Katastrophe in Trümmern. Wissenschaft und Forschung stagnieren. Nur noch wenige Legenden über die alte Pracht kursieren, vieles gilt bereits als Mythos. Die Fürsten bzw. Häuser regieren lediglich Stadtstaaten, die ehemals stolze Garde kann gerade mal den offenen Bürgerkrieg verhindern. Man munkelt von einem weiteren Krieg, fanatische Mystiker predigen vom drohenden Untergang.
Aber auch, wenn man einen „Praetor oder „Mercenary“ spielt, die mit besseren militärischen Werten starten, beißt man schneller ins Gras als in jedem anderen Rollenspiel. Vor allem in Unterzahl hat man kaum eine Chance. Ich bin also sehr erleichtert, denn als Assassine kann ich meinem Gildenmeister von den „Boatmen of Styx“ berichten und mir hoffentlich eine Belohnung abholen. Außerdem bin ich gespannt, welcher Auftrag sich daraus ergibt und wie sich meine Taten auf das Verhältnis zu den sieben Fraktionen auswirken. Mein Ansehen bei den Assassinen steigt natürlich, aber was ist mit den drei Häusern Aurelian, Crassus und Daratan? Was ist mit der imperialen Garde und den „Forty Thieves“?

Es gibt nicht  nur einen, sondern satte sechs Bereiche für den eigenen Ruf: Die Zahl der Tötungen und der Kämpfe, die Loyalität gegenüber Auftraggebern, die eher friedlichen Lösungswege, das Prestige sowie das Ehrenwort gehören dazu. Wer einen einmal angenommenen Mordauftrag nicht ausführt, verliert z.B. an Loyalität. Trotzdem muss man auch ablehnen können: Selbst als Assassine in seiner schwarzen Lederrüstung ist man nicht der klassische Held, um dessen Karriere sich alles dreht. Es ist nicht nur so, dass an jeder Ecke der Tod lauert. Man wird auch wie ein Niemand in einer anarchistisch und dekadent anmutenden Welt behandelt – die Gespräche können noch gnadenloser sein als das Gefecht.

Anspruchsvolles Kampfsystem

Das rundenbasierte Kampfsystem von The Age of Decadence folgt zwar auf den ersten Blick klassischen Regeln inklusive Aktionspunkten, Trefferabfragen und Lebenspunkten. Aber es ist trotz des ärgerlichen Fehlens physikalischer Deckungsabfragen angenehm komplex: Je nach Bewaffnung stehen einem zig Manöver zur Verfügung – nicht nur schnelle, normale oder schwere Hiebe, sondern auch Wirbelangriffe, Finten mit Positionstausch, lokale Attacken auf Arme, Beine oder Kopf sowie gezielte Stiche in Arterien, um für eine Blutung zu sorgen. Man kann Feinde zurückwerfen, entwaffnen, blocken, vergiften. Nach einem Rechtsklick auf eine der meist historisch belegten Waffen wie dem römischen Gladius oder dem ägyptische Sichelschwert Chepesch, erkennt man alle Manöver samt ihrer Kosten in Aktionspunkten.

Der mit dem Januar-Update hinzugefügte Ort "Ganezzar" zeigt immer noch die Sterilität der Spielwelt.
Und alles hat Konsequenzen für den weiteren Verlauf, so dass man Manöver kombinieren sollte: Ich konnte die drei Feinde als leicht bekleideter Assassine nur besiegen, weil ich zweimal ein Netz geworfen habe und  so den darin Gefangenen mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit kritisch treffen konnte. Außerdem hatte ich Glück, dass ich nach vier erfolgreichen Ausweichbewegungen automatisch und ohne Aktionspunkte zustechen durfte – und das nur, weil ich diese Werte entsprechend erhöht hatte. Jede der acht Waffenklassen besitzt einzigartige passive Fähigkeiten: Ein Anfänger kann mit dem Speer z.B. einen Gegner auf Abstand halten, ein Experte gleich mehrere. Und weil ein schwerer Schuppenpanzer die Mobilität beeinflusst, macht es Laune, mit Rüstungen und Bewaffnungen zu experimentieren. Schade ist, dass schwer verwundete Feinde nicht zu fliehen versuchen, in einen Schock verfallen oder um Gnade bitten - man kämpft bis zum letzten Lebenspunkt. So wirkt das auf den ersten Blick auf Realismus setzende Kampfsystem letztlich nicht konsequent genug.

Das hässliche Entlein

Nur selten wird ein "Mob" auch dargestellt: Hier wird ein Assassine von religiösen Fanatikern umzingelt. Man schlüpft in eine von sieben Rollen wie z.B. Dieb, Söldner oder Händler und kann in einer nicht-linearen Story mit sieben Enden sowohl die aktuelle Spielwelt mit ihren politischen Fraktionen erkunden und aktiv beeinflussen als auch auf Spurensuche nach Artefakten gehen.
Aber der Kampf steht nicht im Mittelpunkt dieses epischen Abenteuers. Die von der Torque Engine angetriebene isometrische Kulisse übrigens auch nicht: Was 2004 vielleicht noch solide aussah, wirkt im Jahr 2015 hoffnungslos veraltet. Die Siedlungen sind bis auf wenige Bewegungen von Figuren nahezu leblos und die Animationen im besten Fall spartanisch. So entsteht beim Drehen und Zoomen der Kamera alles andere als Entdeckerfreude. Oder anders: Selbst Wasteland 2 sieht im Vergleich dazu aus wie Next Generation. Trotzdem lebt die Kulisse von ihren dezenten Farben und ihrem historischen Flair, denn die mal römische, mal orientalisch anmutende Architektur setzt in der sonst so exzentrischen Fantasywelt zumindest angenehm authentische Zeichen. Hier erinnern Statuen, Säulen oder Tempel eher an Griechen oder Sumerer als an Elfen oder Orks. Trotzdem dämpft die veraltete Kulisse natürlich auch die
Das große Waffenarsenal orientiert sich an antiken Vorbildern - aber es gibt auch exotische Vertreter wie Armbrüste mit Zielfernrohr.
Stimmung; und manche der neuen Gebiete wie die Stadt „Ganezzar“ sind aktuell nahezu ausgestorben - man durchstreift eine leblose Burganlage. Die soll allerdings wöchentlich mit neuen Inhalten gefüllt werden.

Was hat The Age of Decadence als Ausgleich zu bieten? Einen reifen, höchst kreativen Hintergrund, erzählerische Hingabe und Offenheit sowie ein Klassen- und Fähigkeitensystem, das viele Hochglanzrollenspiele alt aussehen lässt. Hier macht die Charakterentwicklung richtig Laune! Gerade Letzteres ist ein Highlight: Denn vor allen in den Gesprächen und den damit verknüpften Quests wirken sich nicht nur die geistigen Hauptattribute Wahrnehmung, Intelligenz und Charisma, sondern auch die zwölf zivilen Fähigkeiten wie Schleichen, Stehlen, Verkleidung, Geschichte, Überzeugung, Straßenwissen etc. aus – hier spürt man wirklich jeden Aufstieg von „Unskilled“ auf Level 1 über „Proficient“ auf Level 5 bis zur Meisterschaft.

Wie ein Abenteuer-Spielbuch

Sobald man eine Fähigkeit besitzt, die ein Gespräch oder eine Herausforderung beeinflussen kann, wird diese als Option angeboten. The Age of Decadence fühlt sich in diesen Passagen fast an wie ein Abenteuer-Spielbuch à la Sorcery!, in dem man von Entscheidung zu Entscheidung blättert: Meistert man eine Einschüchterung oder eine Überzeugung, geht es mit der nächsten Situation weiter – bis man vielleicht scheitert. Auch als Dieb klickt man sich bei einem Einbruch quasi durch (sehr gut beschriebene) Aktionen, die wie Multiple-Choice-Aufgaben links in Textform präsentiert werden, während man auf der rechten Seite ein statisches Bild sieht. Klettert man durch das Fenster, geht man per Seil über das Dach oder versucht man das Türschloss zu knacken? All das macht man nicht aktiv, sondern liest es.

Ein Blick auf die Weltkarte: Man kann nicht aktiv reisen wie in Wasteland 2, sondern klickt auf entdeckte Orte.
Je nachdem, welche Fähigkeiten und welche Klasse man besitzt, ergeben sich hier ganz andere Möglichkeiten – der Wiederspielwert ist enorm hoch: Während der Assassin bei entsprechender Schulung manchmal direkt im Dialog töten kann, darf der Dieb in andere Räume schleichen, der Praetor mit seiner Etikette elegant auftrumpfen oder der Loremaster ganz andere Hintergründe erfahren. Eine Fähigkeit wie „Streetwise“ oder „Verkleidung“ kann also manchmal wichtiger sein als ein starker Schwertarm. Es ist allerdings ärgerlich, dass die aktuelle Stufe bei dieser Entscheidung bzw. Fähigkeitenprobe nicht einsehbar ist – man muss also immer auswendig wissen, wie gut man in einem Bereich ist. Warum kann man die kleine Statistik nicht einblenden?

Es macht aber auch so Spaß, eine identische Situation aus der Perspektive einer anderen Klasse zu spielen: Als Händler erlebt man z.B. die Situation als Opfer, die

Stellenweise fühlt sich The Age of Decadence an wie ein Abenteuer-Spielbuch: Man entscheidet und blättert weiter.
man als Dieb oder Assassin vielleicht als Täter spielte. So erkennt man manchmal auch den wahren Charakter einer Nichtspielerfigur: Hinter dem weisen Antiquitätenhändler steckt also bloß ein gieriger Scharlatan? Es ist erstaunlich, mit wieviel Hingabe die Entwickler diese unterschiedlichen Pfade integriert haben.

Antike Machtkämpfe mit dezentem Fantasy-Flair

Abseits von dem persönlichen Verhältnis zu anderen Fraktionen hat man auch das angenehme Gefühl, dass sich die lokale Geschichte und die Story dynamisch entwickeln – kaum kehrt man von der ersten großen Reise nach Ganezzar zurück nach Teron, gibt es dort ein neues Kräfteverhältnis und die eigene Gilde der Assassine ist scheinbar geschlossen. Die Story ist allgemein gut konstruiert, man wird schnell neugierig gemacht: Zu Beginn geht es zwar lediglich um eine mysteriöse Karte, die man Lord Antidas zeigen soll, aber schon damit öffnen sich mehrere Möglichkeiten, denn man kann sehr subtil, sehr direkt oder über Aufträge zu ihm gelangen - dann müsste man noch das Banditenlager sowie die Mine erkunden und sich um Schmuggelware kümmern.

Kein Schwarz-Weiß, kein Kitsch: Die Nichtspielerfiguren agieren nach eigenen Interessen.
Um es kurz zu machen: Es gibt viel zu tun, nicht streng linear, sondern angenehm offen. Schade ist nur, dass man die Konflikte nicht direkt in der statischen Spielwelt, also in den Straßen beobachten kann. Nur ganz selten werden kleine Aufstände oder "Menschenmengen" auch tatsächlich inszeniert. Aber die Unterschiede zwischen den Häusern werden erzählerisch deutlich, die wie die historische Machtkämpfe zwischen Caesar und Pompeius anmuten. Man wird auch auf die dezenten Fantasy-Aspekte neugierig gemacht: Was hat es mit den drei „Lords of the Higher Planes“ auf sich, die angeblich dem Imperium zur Hilfe eilten? Gibt es tatsächlich Dämonen und Luftschiffe, Magier und alte Ruinen mit mächtigen Kriegsmaschinen?

Sterile Spielwelt mit wenig Interaktion

Schon die erste Questreihe bis zum Treffen mit dem Lord ist sehr gut geschrieben. Danach zeigen sich nicht nur mehr Orte auf der Weltkarte, sondern es ergeben sich auch außenpolitische und religiöse Verstrickungen: Ähnlich wie in Telltales

Die Spielwelt wirkt mit ihren antiken Anleihen architektonisch gut, aber es fehlt an Leben in Gassen und Gemäuern.
Adventures wirken sich dann die Entscheidungen auf spätere Kapitel bzw. Orte aus – bei einem Wechsel wird einem angezeigt, welche Allianzen man geschmiedet oder für welche Fraktionen man etwas getan hat. Hat man z.B. dem Prediger in Teron zugehört oder ihn mit Steinen beworfen? Je nachdem wird man in einer anderen Stadt auch anders empfangen. Wer sich für Religionsgeschichte interessiert, wird einige interessante Parallelen zum Aufstieg des Christentums finden.

Das größte Problem von The Age of Decadence ist aber nicht die schwache Kulisse, sondern die schon erwähnte Statik: Die Erkundungsreize innerhalb der Spielwelt sind einfach kaum vorhanden und liegen weit unter dem Niveau des ersten Baldur's Gate. Selbst wenn man eines der wenigen offenen Gebäude betritt, kann man im Inneren kaum etwas tun, weil es nur ganz selten etwas per blauem Augensymbol zu

Ein Blick auf das Inventar - zu viel Gewicht wirkt sich negativ aus.
untersuchen oder per gelbem Icon zu interagieren gibt. Und das, obwohl vielleicht überall Kisten oder Regale stehen. Man kann auch nur sehr selten etwas einfach so finden. Man kann nichts aktiv stehlen oder Türen aufbrechen. So fühlen sich auch Tavernen & Co, die laut Fließtext voll sein sollen, eher wie Staffage an. Und das dämpft die Stimmung merklich, denn heutzutage gibt es auch in isometrischer Perspektive ansehnliche Vertreter wie etwa Shadowrun. Man kann auch lediglich die Siedlungen, aber nicht die eigentliche Spielwelt frei begehen bzw. bereisen – sobald man ein Tor verlässt, kann man auf der Weltkarte einen Ort anklicken (falls entdeckt) und reist automatisch dorthin. Dabei gab es bisher weder Zwischenfälle wie z.B. in Wasteland 2 noch muss man sich um die Versorgung kümmern.

Ausblick

The Age of Decadence ist schon sehr lange ein Geheimtipp für Rollenspiel-Liebhaber alter Schule. Allerdings für jene, die nicht nur ein technisches Auge zudrücken: Die isometrischen Kulissen sind hoffnungslos veraltet - Wasteland 2 sieht dagegen aus wie Next Generation. Außerdem fehlen aktive Erkundungsreize und Interaktionen in der meist unbelebten Spielwelt. Warum kann ich mich trotzdem nicht davon lösen? Weil es sich stellenweise wie ein spannendes Abenteuer-Spielbuch anfühlt. Und weil es einige Pen&Paper-Tugenden pflegt: Das ist keine 08/15-Kitschfantasy, sondern ein historisch inspirierter Schmöker für Freunde von Entscheidungen und Konsequenzen mit wirklich guter Story. Ich kenne zudem kein Spiel, in dem sich die Werte, sowohl kriegerische als auch zivile, so stark auswirken: Wer seine „Überzeugungskraft“ oder sein „Straßenwissen“ erhöht, bemerkt sofort die Wirkung. Hinzu kommt ein anspruchsvolles Kampfsystem und eine Regie, die einen nicht als strahlenden Helden umarmt, sondern wie einen Nobody behandelt. Die Entwickler haben die Story für jede Klasse angepasst – so erlebt man als Händler eine Situation als Opfer, die man als Assassin vielleicht als Täter spielt. Auch wenn es mir jetzt schon unheimlich Spaß macht, die Perspektiven zu wechseln, scheint diese komplexe Regie ihren Tribut zu fordern: The Age of Decadence wirkt nach all den Jahren immer noch sehr leer, steril und spröde. Selbst das letzte Update "Ganezzar" sorgt in dieser Hinsicht für Ernüchterung. Hoffentlich können Vince D. Weller und sein Team dieses ambitionierte Rollenspiel dieses Jahr finalisieren.

Einschätzung: gut

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