Sammelkarten für Feldherren?
Wir befinden uns in Berlin, irgendwann im frühen 17. Jahrhundert. Ich habe gerade die Franzosen in Neuengland besiegt, eine feste Siedlung in Übersee etabliert und horte meinen Gewinn: Die Stadt an der Spree hat jetzt knapp 60.000 Erfahrungspunkte gesammelt und mit einem Feuerwerk feiern die Bürger den Aufstieg in Level 4. Wunderbar, denn jetzt kann ich mir aus einer Auswahl an Technik-, Militär-, Hafen- und Religionskarten endlich wieder neue kaufen. Wozu das gut ist? Ganz einfach: Ähnlich wie in Trading Card-Games der Marke
Magic - The Gathering kann man sich vor jedem Spiel ein schlagfertiges Deck zusammenstellen.
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Die 3D-Ansicht eurer Heimatstadt, in der ihr in aller Ruhe eure 20 Karten für den nächsten Kampf zusammen stellt. |
Das hat mich bereits stundenlang beschäftigt und ist noch faszinierender als die grandiose Kulisse oder der Einsatz der neuen Physik-Engine, die Häuser spektakulär in Trümmerhaufen verwandelt oder Truppen wie Spielzeuge durch die farbenfrohe Flora wirbelt. Kaum ein anderes Strategiespiel kann mit derart authentischen Schattenwürfen, Spiegelungen und Umweltbewegungen auftrumpfen. Das ist alles wunderbar anzuschauen, lädt zum gemütlichen Zoomen bis hin zum Geier ein, der seine Beute ausweidet, ist aber nichts im Vergleich zum innovativen Kartensystem.
Denn das ist wirklich ungewöhnlich. Das ist erfrischend neu. Und das verleiht selbst einfachen Skirmish-Duellen gegen die KI endlich mehr als nur Trainingscharakter für kommende Multiplayer-Schlachten: Ihr sammelt wie in einem Rollenspiel in jedem Kampf mit eurer gewählten Heimatstadt wertvolle Erfahrungspunkte - Berlin ist in diesem Fall mein Held. Statt einer neuen Rüstung bekommt er für seine Siege neue Wachtürme, statt einem Schwert eine neue Haubitzen-Karte. Diese Technologien werden bei Gebrauch umgehend nach Übersee verschifft.
Herrlich offene Entwicklung
Und das System ist nicht so statisch wie ein Technologiebaum früherer Spiele, sondern lässt euch über acht Zeitalter offen entwickeln: Ihr könnt euch quasi 20-Karten-Decks für jede Situation anlegen und taktische Schwerpunkte setzen, indem ihr euch aus der Heimat eher Holz und Lebensmittel, lieber Siedler und Technologie oder Waffen und Kanonen schicken lasst. Man kann sich so für die schnelle Erkundung, schnelle Angriffe oder stabile Verteidigung vorbereiten. Damit gewinnen vor allem Multiplayerduelle an Reiz und Möglichkeiten. Der Wechsel zwischen der neuen Kartenplan-Stadtansicht mit all ihren wuselnden Bürgern und rauchenden Schloten zur altbekannten Echtzeit-Strategie-Karte erfolgt auf Knopfdruck. Und hier werden viele nostalgische Age-Gefühle geweckt: Man hört bekannte Sounds, freut sich über die Alarmglocke, die Beerensammler, die Holzfäller oder Goldgräber und genießt die sanften Melodien, die an die Tradition der Vorgänger anknüpfen.
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Eine Zwischensequenz aus der Kampagne in drei Akten, die wir erst im Test unter die Lupe nehmen. |
Jedes der acht Völker hat natürlich wieder Spezialeinheiten und Fähigkeiten parat: Die Franzosen verbünden sich leichter mit den Indianern, nur die Engländer können später Prototypen von Raketen zünden und nur die Deutschen schicken Doppelsöldner mit ihren Zweihändern in die Schlacht. Der Umfang an Kriegsgerät ist enorm: Es gibt neun Artillerie-, elf Kavallerie-, zwölf Infanterie, zwölf Söldner-, sieben Schiffs- und knapp ein Dutzend Spezial-Einheiten wie Scouts, Hunde oder Piraten. Miltärhistoriker freuen sich über eine Enzyklopädie, die über Details der Waffentechnik aufklärt: z.B. darüber, dass die erste Rakete von William Congreve im napoleonischen Krieg gezündet wurde und knapp fünf Meter lang war.
Eigentlich haben die Deutschen bei der Kolonisierung Amerikas ja keine große Rolle gespielt, aber Historie und Fiktion gehen in AoE III die altbekannte Symbiose zugunsten des Spielspaßes ein: Das Team der Ensemble Studios hat viele geschichtliche Fakten mit ebenso viel künstlerischer Freiheit verknüpft und präsentiert euch ein buntes Panorama der Besiedlung Nordamerikas. Die Grenzen zwischen Mittelalter und Neuzeit verschwimmen in einem faszinierenden Völker- und Waffenwirrwarr: Comanchen mit Pfeil und Bogen treffen auf osmanische Janissaren, berittene Holländer auf Korsaren mit Säbel - alles herrlich lebendig animiert und texturiert.
Formationen & Kampf
Bisher habe ich nur einen potenziellen Schwachpunkt ausgemacht: die Kämpfe. Die Feldtaktik kann trotz eines Riesenaufgebots an indianischen und europäischen Truppen noch nicht voll überzeugen. Zum einen gibt es nur sehr wenige Formationen: Eure Infanterie kann sich lockerer aufstellen, um Kanonenbeschuss besser zu überstehen, in den Nahkampf übergehen oder ein Gebiet verteidigen; die Kavallerie kann zum Trampelangriff ansetzen - das war's. Ihr könnt z.B. nicht
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Feuergefecht im Wald: Zwar funktionieren automatische Aufstellungen, aber es gibt wenig taktische Feinheiten. |
gezielt in Keil-, Kreis- oder Linie aufmarschieren, was angesichts der Musketen-Epoche etwas unverständlich ist. Zum anderen wirkt die KI noch etwas träge: Sie erobern nicht klug und sind zu passiv. Wir konnten mit nur einer von Pferden gezogenen britischen Kanone im freien Feld ganze Bataillone an Franzosen aufreiben, die sich zwar immer wieder annäherten, aber nie einen Sturmangriff auf uns wagten, obwohl wir 100 zu 1 unterlegen waren.
Gut funktioniert die Aufstellung in gemischten Verbänden: Kanonen, Bogenschützen und Musketiere stellen sich automatisch hinten auf, während vorne die Nahkämpfer lauern. Und wo die gegnerische KI im Feld noch nicht ganz überzeugen kann, hat sie auf der Diplomatie- und Strategie-Ebene ordentlich dazugelernt. Es macht richtig Spaß, im Team mit dem von der KI gespielten Napoleon gegen Elizabeth II in den Krieg zu ziehen. Ganz im Stile von Civilization III zeigen sich sowohl die feindlichen Herrscher als auch eure Verbündeten von einer ungewohnt lebendigen Seite. Die englische Königin lästert über eure mickrigen Erkundungsversuche, während Napoleon euch auf der Karte die Stelle anzeigt, wo er sie gleich attackieren will - sehr schön. Ihr könnt eurem Partner übrigens auch solche Hinweise geben und ihn taktisch auf schnelle Überfälle oder Wirtschaftsaufbau einstellen.