Das verlassene Paradies
Ob das neue Spiel von Autor Dan Pinchbeck und Spieldesigner Andrew Crawshaw tatsächlich neue Wege der interaktiven Erzählung findet? Davon bin ich überzeugt, nachdem ich mich eine Dreiviertelstunde in ihrer Welt verloren habe. Dabei tritt Everybody's Gone to the Rapture mit dem ruhigen Entdecken eines offenen Schauplatzes durchaus in die Fußspuren seines geistigen Vorgängers und von z.B. Gone Home. Auch hier erzählen Stimmen von vergangenen Ereignissen, auch hier schaue ich mich um und ziehe Schlüsse aus dem, was ich sehe.
Ich sehe das britische Dorf Yaughton, eine idyllische Gemeinde – bis vor kurzem jedenfalls. Menschen treffe ich keine, der Ort ist wie ausgestorben. Ich entdecke eine Sternenwarte, Bücher mit Titeln wie „Chaos Theory“, Koffer, die vor dem Eingang eines Hauses scheinbar plötzlich fallengelassen wurden. Natürlich geht es um die Frage, was in Yaughton geschah. Von „dem Vorfall“ ist die Rede, während geheimnisvolle Lichter noch immer nachleuchten.
Blick in die Vergangenheit
Everybody's Gone to the Rapture ist ein weiteres Erzählspiel, dessen Geschichte sich durch das Entschlüsseln von Zeugnissen öffnet. Es ist aber auch ein Spiel, das nicht nur die Vergangenheit beleuchtet. Denn durch den kleinen Ort
Was geschah in Yaughton nach dem "Vorfall"?
bewegt sich eine leuchtende Erscheinung, springt von einem Haus zum nächsten, macht stets an denselben Punkten halt, bevor sie weiterzieht.
Und sie scheint mit mir zu kommunizieren. Zumindest meine ich Stimmen zu hören, wenn die Erscheinung in der Nähe ist. Sie macht mitunter vor mir Halt, scheint mich zu leiten. Es ist auch nicht das einzige Phänomen, denn immer wieder lausche ich den Gesprächen leuchtender Silhouetten – Überbleibsel des Vorfalls, wie die Aufzeichnung einer von vielen Radioaufnahme behauptet. In diesen Gesprächen lerne ich die Einwohner Yaughtons kennen, ihre Macken und Probleme. Schon nach wenigen Minuten entspannt sich ein Netz interessanter Charakterzeichnungen, dessen Einzelheiten ich nicht vorwegnehmen will.
Sekunden nach dem Vorfall?
Es sind die klassischen Elemente des Erzählspiels nach der von Dear Esther geprägten Formel. Sie haben mein Interesse geweckt; ich will wissen, was in Yaughton passiert ist. Doch es ist nicht das, was mich an Everybody's Gone to the Rapture fasziniert. Denn das Interessante ist die Art und Weise, wie der verlassene Ort mit Leben erfüllt ist. Da sind ja nicht nur die hastig liegen gelassenen Koffer. Da sind auch Zigaretten, die halb geraucht noch in den Aschenbechern einer Bar qualmen.
Da flattert saubere Wäsche im Wind, als wäre sie gerade aufgehangen worden. Da ist nicht zuletzt ein Dorf, dass auch durch die detailversessene Gestaltung seiner Häuser, Wege oder eines kleinen Teichs lebendig wirkt. Und da ist die ständig kreisende Erscheinung, die mir das Gefühl gibt, einen Moment zu erleben, anstatt ihn zu rekonstruieren.
Eine echte offene Welt
Ganz wichtige Elemente sind außerdem die Gestaltung des Schauplatzes sowie der Ablauf. Denn nach einer kurzen Einführung kann ich mich frei in Yaughton umsehen. Das Dorf ist ein kleines Nest – ich kann aber jederzeit an so vielen Ecken, in so vielen Höfen und in manchen der Häuser so viel entdecken, dass ich nach wenigen Minuten schon das Gefühl verlor, den Brotkrumen eines fertigen Wegs zu folgen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als den Schauplatz wie einen realen Ort wahrzunehmen und einfach aufzunehmen, woran ich vorbei komme.
Durch die idyllische Umgebung und geheimnisvolle Hinweise entsteht eine lebendige Spielwelt.
Die Erscheinung kann dabei als Führer dienen. Weil ich ihren schnellen Bewegungen aber ohnehin nicht folgen kann, ist sie keine Angel, die mich ans Ziel zieht, sondern ein Wegweiser. Ich muss keine der Geschichten aufdecken, die Yaughton versteckt! Es gibt keine Markierungen, keine Karte – es fehlt das drängelnde Gefühl Dinge erledigen zu müssen. Es ist im kleinen Sinne eine echte offene Welt.
Mittendrin
Und ich kann mich übrigens nicht des Gefühls erwehren, selbst Teil der Handlung zu sein – in welcher Form, kann ich nicht sagen.
Aber das ist sicherlich nur überhöhtes Geschwafel eines verquasten Sinnsuchers, oder? Tatsächlich spreche ich nach einer Dreiviertelstunde einen der Entwickler darauf an - und sie wollten genau diesen Eindruck erzeugen. Ich bin gespannt, was es damit auf sich hat!