Earth 216013.05.2005, Jörg Luibl
Earth 2160

Vorschau:

Der Mars ist reif: Nach vier Jahren Entwicklungszeit setzt Earth 2160 (ab 7,00€ bei kaufen) zur Landung an. Das polnische Team von Reality Pump will euch bereits am 2. Juni in futuristischer Prachtkulisse als Feldherren auf den roten Planeten schicken. Dass man dabei nicht nur auf gute alte Aufbautugenden, sondern auch auf jede Menge interessante Neuerungen trifft, konnten wir beim ausführlichen Anspielen vor Ort erfahren!

Augapfel gegen Plug-in?

Irgendwo auf dem Mars im Jahr 2160. Die Erde ist bereits nuklearer Sternenstaub. Treffen sich ein Hacker und ein Cyborg. Sagt der Hacker: "Interessantes Plug-In, das du hast. Kann ich es haben?" RobM60 fixiert die freche Biomasse mit seinem Stahlblick und erwidert: "Interessanter Augapfel den du hast. Kann ich den haben?"

Alles fängt so beschaulich an: An den freien Stellen des Hauptquartiers könnt ihr eure Gebäude bauen - eine Art Legoprinzip.
Ich hab geschmunzelt. Und das nicht nur ein mal, sondern fast immer, wenn mein Feldzug vom witzigen Smalltalk der NPCs aufgelockert wurde. Moment - NPCs? Keine Angst: Wir befinden uns nicht in einem Rollen-, sondern immer noch in einem Aufbaustrategiespiel, und die diskutierenden Herrschaften nennen sich genau genommen "virtuelle Agenten". Sie werden Anfang Juni als animierte Porträts Kontakt mit euch aufnehmen. Zwar nicht immer ganz lippensynchron, aber dafür mit überzeugenden deutschen Stimmen - die Lokalisierung hinterließ einen sehr guten Eindruck.

Natürlich geht es auch in Earth 2160 um das klassische Dreigestirn aus Rohstoffabbau, Basisbau und Kampf. Und natürlich besteht der Alltag hauptsächlich darin, genug Wasser, Erz oder Kristalle zu sammeln, um den Machtbereich der Eurasian Dynasty (ED), der United Civilized States (UCS), der Lunar Corporation (LC) oder der geheimnisvollen Aliens durch kluge Eroberungen zu erweitern. Aber diese neuen käuflichen Helfer verleihen dem Spiel fast schon so etwas wie eine lebendige Partyinteraktion à la Star Wars: Knights of the Old Republic . Und so ganz hinkt der Rollenspielvergleich nicht, denn euer Hauptheld besitzt ein Inventar, kann Waffen und Rüstungen wechseln sowie Bomben legen und Heilpakte nutzen. Sowohl in der Kampagne als auch im Skirmish könnt ihr dann bis zu drei von insgesamt zwölf skurrilen Agenten gleichzeitig unter Vertrag nehmen - darunter Mediziner, Killer, Söldner, Spione, Wissenschaftler und sogar Priester.

Schlacht im Canyon: Während unsere Raketenwerfern von hinten feuern, versucht die Infanterie vorne ihr Glück.
Zicken und Protzer

Untereinander wird dann nicht nur herrlich offen gezickt, geflirtet und gestichelt, sondern eure Werte bekommen einen effektiven Schub: Es gibt Agenten, die eure Ernte- und Forschungszeit spürbar beschleunigen; es gibt welche, die gezielt feindliche Agenten abwerben; es gibt welche, die eure Truppen heilen oder auch welche, die einen mächtigen Panzer oder ein UFO ins Feld führen oder jene, die komplett den Basisbau bzw. die technologische Entwicklung für euch übernehmen. Und da sich die Völker in Earth 2160 ohnehin sehr unterschiedlich spielen, was Rohstoffbedarf, Basisbau und Kampf angeht, kann man ausgiebig experimentieren. Nur als Spieler der Aliens wird man auf die virtuellen Agenten verzichten müssen.

Für alle anderen könnte sich folgende Situation ergeben: Ihr schickt die Truppen in den Kampf, während die Basis komfortabel von einem Agenten verwaltet wird - ihr verschwendet für das Mikromanagement keine Sekunde mehr! Allerdings tauchen diese Agenten wie Spielkarten zufällig auf und ihr könnt sie euch nicht einfach aussuchen. Wen nehmt ihr an? Wen lehnt ihr ab? Gerade Multiplayerschlachten werden damit um eine ungewisse Note bereichert - zumal die Söldner nach dem Vertragsende frech nachfragen, ob ihr ihre Hilfe weiter in Anspruch nehmen wollt. Wer auf die Agenten keine Lust hat, kann sich allerdings auch ohne sie auf den 16 Karten austoben. Im Skirmish stehen vier Siegbedingungen zur Wahl: alle Gebäude zerstören, einen Helden töten, friedfertiger Beginn mit Countdown zum Krieg sowie Onkel Sam - ein Modus, in welchem ihr ständig Rohstoffnachschub bekommt.

Zwischensequenzen werden alle in Spielgrafik inszeniert - und die kann sich sehen lassen.
Prächtiger Mars

Aber nicht nur bei den Agenten zeigt sich, dass das polnische Team sehr viel Innovation und Herzblut in den Nachfolger des mittlerweile knapp fünf Jahre alten Kultspiels gepumpt hat. Schon der erste Blick auf die Kulisse offenbart eine Pracht, die derzeit seinesgleichen sucht und Titel wie Perimeter oder Ground Control 2 locker in den Schatten stellt: Der rote Planet wird mal von sanften Höhenzügen, mal von tiefen Schluchten zerfurcht, während Wolken über den Himmel rasen.

Sandstürme rauben euch die Sicht und der fließende Tag- und Nachtwechsel taucht die Landschaft mal in gleißend helle, mal in schattig kühle Farben. Es gibt sowohl natürlichen Nebel als auch eine Art Elektrosmog, der den Nebel des Krieges darstellt. Und die Echtzeitschatten wandern mit dem Sonnenstand um Objekte herum. Kurzum: Der Mars sieht schon friedlich fantastisch aus. Wenn dann erst Laser und Raketen loslegen, gibt`s eine silvesterreife Partikelparty mit sternförmigen Rauchfontänen…

                

All die Kasernen, Türme, Fahrzeuge und Figuren reihen sich nahtlos in das gelungene Design ein. Die metallisch glänzenden Panzerplatten und Stahlträger sowie die von bekannt bis bizarr reichenden Einheiten laden immer wieder zum Drehen und Zoomen ein: Es gibt sowohl konventionelle Truppen als auch futuristische Amazonen, mechanische Droiden und insektoide Aliens, die sich verpuppen, klonen sowie mutieren können. Und das Schöne ist, dass ihr aufgrund des modularen Bauprinzip bis zu einem gewissen Grad selbst das Aussehen eurer Truppen bestimmen könnt: Man kann sich über wenige Klicks

Schlacht im Nebelfeld: Trotz schlechter Sicht sind Raketen im Sechserpack immer eine gute Wahl.
aussuchen, welches Chassis, welchen Laser und welche Panzerung man seinem künftigen Gefährt verpassen möchte und dem Ganzen sogar noch einen Namen geben. Ihr wollt einen schnellen Buggy mit Raketenwerfer statt Laser? Kein Problem. Die Technologiebäume der Völker bieten euch so viele Zweige zum Ausprobieren, dass man sich in Anbetracht der ganzen Palette zunächst staunend umschaut und neugierig stöbert.

Und die Technik hat noch zwei weitere Joker parat: Erstens werden im Kampf selbst die Rüstungen von einzelnen Einheiten realistisch versengt und verbeult, so dass man nach einem Gefecht keinen glänzend polierten, sondern staubig demolierten Stahl auf seinem Panzer sieht - Materialverschleiß in Echtzeit. Und zweitens kommt eine Physik-Engine zum Einsatz, die euch mit der Umgebung spielen lässt: Ihr könnt z.B. eine Geröll-Lawine auslösen, indem ihr Felsen an einem Abhang so vorteilhaft anschießt, dass sie Richtung Tal und Feind donnern - auf dem Weg walzen sie alles nieder. Das Schöne ist, dass Earth 2160 laut Entwickler vor allem eine leistungsfähige Grafikkarte, aber nicht unbedingt einen ultraschnellen Prozessor benötigen soll. Ein Minimum liegt allerdings bei einer GeForce 3Ti, 1,5 Ghz samt 512 MB Ram.

Friede, Freude, Awardkuchen?

Jetzt haben wir so viel gelobt, aber so wenig kritisiert. Gibt`s denn keine Schwächen? Doch, die gibt es u.a. im Truppen-Management: Es gibt zwar die Wahl zwischen Feuerstoß und genauem Zielen sowie freiem Feuer und Feuer erwidern, aber leider keine Formationen, sondern nur die automatische Ausrichtung von Artillerie hinten und Panzern bzw.

Ein Technologiewald zum Austoben: Earth 2160 lässt euch bei der Forschung die Qual der Wahl.
Infanterie vorne. Man kann z.B. auf Befehl keine Linie bilden, so dass einige hintere Soldaten oft tatenlos zusehen wie ihre vorderen Kameraden schießen - hier muss man noch umständlich oft mit Klicks nachhelfen. Auch die vielen interaktiven Deckungsmöglichkeiten hinter Stahlwänden oder in Ruinen haben noch ihre Tücken: Wir haben deutliche Reichweitenvorteile oder eine manuelle Richtungsänderung à la Ground Control 2 vermisst.  Hier muss Earth 2160 im Härtestest erst noch beweisen, ob sich das auf Dauer nachteilig auswirkt. Dazu gehört auch die bisher nur unzureichend funktionierende Vereinheitlichung der Marschgeschwindigkeit. In unseren Probekämpfen spazierten durchmischte Truppen auch nach einer Gruppenbildung noch mit langen Kolonnen statt mit kompakten Verbänden über den Mars. Das soll allerdings laut Entwickler noch genau so verbessert werden wie gelegentliche Grafikfehler, die einen Schützen z.B. mit Blick und Feuerstrahl nach Süden zeigen, obwohl im Norden ein Feind umfällt.

Sehr optimistisch stimmt wiederum die Möglichkeit der Tarnung, denn ihr könnt nicht nur Bodennebel geschickt ausnutzen, sondern auch das Tarnfeld bestimmter Einheiten aktivieren, um sie unsichtbar zu machen. Auch die Wegfindung zeigte nur selten Aussetzer und selbst Einheiten mit weit entferntem Marschbefehl kamen über die Minikarte heil und korrekt an. Zum logistischen Komfort trägt auch die wunderbare Gruppenbildung beim Truppenbau bei: Habt ihr eine Gruppe 2 weit draußen im Feld und wollt diese verstärken, verpasst ihr den Einheiten in eurer Fabrik einfach die Ziffer 2 als Ziel und schon rattert der frische Nachschub automatisch da hin, wo er gebraucht wird - das erspart wiederum umständliches Klicken. Selbst ganze Produktionspakete aus unterschiedlichen Truppentypen lassen sich hier schon einplanen.

Epische Kampagne

Ein großes Fragezeichen lassen wir für den Test noch hinter drei elementaren Wertungspfeilern stehen: dem Leveldesign, der KI und der Kampagne. Ersteres muss noch beweisen, ob es in Sachen Spielfluss und Abwechslung punkten kann. Die anfänglichen Missionen beinhalteten sowohl unterhaltsame Überraschungen und interessante Ziele als auch zähe Momente, die durch missverständliche Anweisungen bzw. eine sehr hartnäckige KI entstanden sind. Da euer Gegner bis zum letzten Mann und Rohstoff komplett autark im Hintergrund werkelt, kann es sehr langwierige Auseinandersetzungen geben, die erst mit der Zerstörung der letzten Gegnerstruktur das Ende einläuten - wir haben für die erste Mission z.B. 75 Minuten gebraucht.

Dafür ist die Freude nach dem Sieg umso größer, da alle Einheiten Erfahrungspunkte gewinnen und ihr Veteranen sogar in die nächste Mission übernehmen könnt. Das ist ein großer Pluspunkt für Earth 2160, denn so kann man sich wesentlich besser mit seinen Einheiten identifizieren und ist stets bemüht, Kanonenfuttertaktiken zu vermeiden und klug vorzugehen. Trotzdem muss der schmale Grad zwischen Herausforderung und Frust über die Missionsziele gemeistert werden - wir sind gespannt, ob Reality Pump diesen Spagat leisten kann. Insgesamt wird es übrigens drei

Raser mit Raketenaufsatz Marke Eigenbau. Im Baukasten könnt ihr komfortabel neue Fahrzeuge zaubern.
Schwierigkeitsgrade geben, die laut Entwickler nicht einfach durch mehr oder weniger Hitpoints, sondern durch mehr oder weniger komplexe Verhaltensweisen bestimmt werden: In der leichten Stufe greifen euch Kontrahenten vielleicht ohne das Ausnutzen ihrer Flugfähigkeit an, während sie in der normalen aus der Luft attackieren und in der schweren sogar aus zwei Richtungen kommen.

Die Kampagne soll euch über 100 Stunden (!) mit allen vier Völkern vertraut machen und eine umfangreiche Story aus zwei Perspektiven erzählen - das wäre meines Wissens ein Epos, das es in dieser Opulenz noch nicht im Genre der Echtzeit-Strategie gegeben hat. Unsere Spielzeit hat allerdings noch nicht ausgereicht, um die Qualität in Sachen Spannungskurve, Charaktere und Plot zu beurteilen. Die ersten Zwischensequenzen in Spielgrafik wurden jedenfalls sehr gekonnt inszeniert und die Story kommt dank mysteriöser fremder Lebensformen recht schnell in Gang. Bisher schien uns Held Falkner allerdings noch ein bisschen zu blass im Vergleich zu den skurrilen virtuellen Agenten, die wesentlich knackiger wirken. Aber vielleicht entwickelt er sich ja im Laufe des Abenteuers noch? Zeit genug hat er.          

Ausblick

Mist, so viel wollte ich gar nicht schreiben! Aber Earth 2160 ist so verdammt umfangreich und vielschichtig, dass ich etwas weiter ausholen musste. Ach ja: Habe ich schon erwähnt, dass kleine Drohnen Munitionsnachschub zur Front liefern? Dass es eine Bild-in-Bild-Funktion zum Auskundschaften gibt, die euch auch in Egosicht schlüpfen lässt? Nein? Dann vergesst es einfach und merkt euch das hier: Earth 2160 ist tatsächlich das opulente Schwergewicht, das viele Fans da draußen erwarten. Schon jetzt ist klar, dass Reality Pump an die hohe Qualität der Vorgänger anknüpfen und nicht nur grafisch Maßstäbe setzen kann. Nach all den auf Mainstream getrimmten RTS-Leichtgewichten gibt`s hier die volle Packung für Profis: Ihr bekommt einen komplexen Aufbauteil mit satten vier Völkern, einen dichten Technologiewald sowie eine reichhaltige Einheitenpalette mit allem, was Panzer-, Laser-, Droiden- und Aliengourmets den Mund wässrig macht. Dazu witzige Neuerungen wie die hilfreichen und höchst gesprächigen Agenten, ein modulares Bausystem für Einheiten nach Wahl, physikalisch korrekte Felslawinen und eine Kampagne, die mit über 100 Stunden Spielzeit selbst Rollenspiele in den Schatten stellen will. Aber ist die Story auch so gut wie sie lang ist? Kann das Leveldesign auf Dauer überzeugen? Stimmt die Spielbalance? Bei all seinen hitverdächtigen Qualitäten in Sachen Kulisse, Innovation und Masse muss Earth 2160 erst noch beweisen, ob es das Zeug zum echten Epos hat. Bisher sieht`s gut aus!

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