Rogue System03.05.2016, Benjamin Schmädig

Vorschau: Science-Fiction für Geduldige

Elite Dangerous? Kindergarten! Star Citizen? Ich bitte euch! Auch Independence War, Freespace, Tie Fighter, X und Evochron Legacy: In keinem sitzt man wirklich hinterm Steuer, fliegt man wirklich ein Raumschiff – jedenfalls nicht so, wie man ein Flugzeug in Microsofts Flight Simulator, X-Plane oder IL-2 Sturmovik bewegt. Und das war Michael Juliano schon länger ein Dorn im Auge. Der ehemalige US-Air-Force-Soldat, virtuelle Weltraumflieger und Grafiker sehnte sich nach der Hardcore-Simulation des Cockpits eines Raumschiffs. Und weil es die so nicht gab, entwickelt er sie einfach selbst. Rogue System nennt er sie und wir haben erste Flugstunden genommen.

Der erste Raumkampfsimulator?

Endlich: Zum ersten Mal bin ich ohne Schritt-für-Schritt-Anleitung gestartet! Ich habe die Triebwerke angelassen, um Starterlaubnis gebeten – los ging's. Ein großartiges Gefühl!

Ihr seid nicht beeindruckt? Kein Wunder: Fliegt man Raumschiff nach Chris Roberts oder David Braben, ist selbst die ausführlichste Startvorbereitung nur ein paar Knopfdrücke lang, wenn überhaupt. Doch da beginnt der Aufwärmprozess in Rogue System erst, denn hier besteht jedes Raumschiff aus einer Vielzahl voneinander abhängiger Systeme, deren Einschalten schon mehr erfordert als das Drücken der richtigen Taste.

Licht an, Motor laufen lassen... warten

Oder anders: Bevor die Motoren überhaupt starten, sollte man im Pilotensitz Platz nehmen, ihn sichern, das Licht im Cockpit ab- und die Hintergrundbeleuchtung der Armaturen einschalten. Für den kompletten Vorgang kann man längst

Ein Traum für Science-Fiction-Fans: Jeder Knopf und alle Hebel sind bedienbar.
Checklisten herunterladen; ich habe mir eine eigene geschrieben. Die Batterien müssen eingeschaltet sowie die Energieverteilung aktiviert und in den richtigen Modus versetzt werden. Da nicht gleich genügend Strom anliegt, springen sofort mehrere Warnmeldungen an – auch die bestätigt man händisch.

Zieht man zunächst Strom von der Station, an die das Schiff gekoppelt ist, kappt man die Verbindung, sobald es aus eigener Kraft genug Saft erzeugt. Man aktiviert Treibstofftanks und sagt der Maschine, welchen sie nutzen soll. Man schaltet die zentrale Multifunktionsanzeige ein, versetzt sie in den richtigen Modus, wärmt die Maschinen an, bittet um Erlaubnis, die Haupttriebwerke einzuschalten... irgendwann genießt man dann das leise, tiefe Brummen des betriebsbereiten "Motors". Und für Raumschiff-Träumer wie mich fühlt es sich wie ein Ankommen Zuhause an.

Schlafen statt Warpbeschleunigung

Genau das hat mir immer gefehlt: ein echtes Raumschiff zu steuern – oder so zu tun. Und auch wenn Rogue System kein reales Space Shuttle simuliert, wie es die kostenlos spielbare Simulation Orbiter u.a. tut, so ahmt Michael Julianos Fiktion mit realistischer Physik und realitätsnaher Bedienung

Zeitbeschleunigung verringert zwar langes Warten, trotzdem dauert der Flug von einem Himmelskörper zum nächsten eine Weile.
doch die Wirklichkeit nach.

Das fängt bei komplett mit der Maus (bzw. wahlweise per Tastatureingaben) bedienbaren Armaturen sowie digitalen Anzeigen an und geht über das notwendige Absetzen wichtiger Funksprüche bis zu einer Physik, die den Flug in der Schwerelosigkeit nachstellt.

Wer in Rogue System einen anderen "Mond" erreichen will, schaltet deshalb nicht auf Warp fünf, sondern heizt die Langstreckentriebwerke an, zündet und... wartet. Zeitbeschleunigung sowie ein unmittelbares Vorspulen zum nächsten erforderlichen Eingreifen verhindern stunden- oder tagelange Wartezeiten. Im Grunde fliegt man aber auf eine Art von A nach B, wie es echte Kosmonauten, Satelliten oder Sonden tun.

Verräter!

Wem bei der Beschreibung die Lider zu fallen, für den ist Rogue System selbstverständlich nicht gemacht. Juliano weiß, dass er für eine Nische entwickelt und hat sich selbst von Beginn an moderate Ziele gesetzt: Das so genannte "Core Module", die kleinstmögliche Grundfassung, wird lediglich die Kampagne für Solisten enthalten. Für später geplant sind das Maverick-Modul, also das offene Spiel à la Elite oder Star Citizen, ein weiteres Modul mit Ego-Shooter-ähnlichen Gefechten beim Entern feindlicher Schiffe und dem Verteidigen des eigenen sowie ein Modul für ein Übertragen aller genannten Inhalte in eine Onlinewelt.

Ich freue mich vor allem auf die Maverick-Erweiterung, aber auch die Kampagne macht mich neugierig. Sie erzählt immerhin die Geschichte einer Kolonie, die sich der aktuellen Regierung widersetzt – das englische "rogue" bedeutet u.a. "abtrünnig" – und Missionen sollen ähnlich wie in Flugsimulatoren auf Grundlage der jeweiligen Lage des Konflikts vom Zufall erstellt werden. Erfolge bzw. Misserfolge beeinflussen diese Situation und gelegentlich erhält man auch Aufträge, die die Handlung voranbringen, deren genaue Inhalte aber ebenfalls von den eigenen Ergebnissen

Die Kampagne ahmt den dynamischen Verlauf eines Konflikts nach. Zwischen den Einsätzen bewegt man sich frei auf Raumstationen.
abhängen. Man werde dabei, vermutlich abwechselnd, an Bord von drei Schiffen sitzen, die wiederum entsprechenden Geschwadern angehören: Verbände aus Jägern, Bombern und Bergungsschiffen sollen sich sinnvoll ergänzen.

Später, aber komplett

Bedenkt man, dass im Wesentlichen nur Juliano an Rogue System arbeitet (sein Mitarbeiter Michael Manning ist "lediglich" für Ton und Musik verantwortlich) , dürfte schon das zentrale Modul ein gewaltiges Stück Arbeit bedeuten! Kann er das alleine überhaupt stemmen? Diese Frage muss die Zeit beantworten. Mir gefällt aber, wie offen der Entwickler von Beginn an mit seiner Situation umgeht. Im offiziellen Forum gab er z.B. in Zahlen Auskunft darüber, wie gut sich die seit Mitte letzten Jahres erhältliche, so genannte eAccess-Version verkauft hat – mir schreibt er außerdem: "Ich hänge meinem ursprünglichen Zeitplan etwa sieben Monate hinterher." Der hauptsächliche Grund für die Verzögerung ist die Umstellung auf eine neue Engine.

Gleichzeitig betont Juliano, dass inhaltliche Abstriche selbst jetzt nicht infrage kommen: "Es wird fertig werden – ich bin nur zeitlich nicht dort, wo ich es gehofft hatte." Rogue System ist ein Projekt aus Leidenschaft und er will es so

Alleine das Andocken fordert allerdings Erfahrung und Geschick.
fertigstellen, wie er es von Beginn an vor Augen hatte.

Science-Fiction als Experiment

Dazu zählt auch die Simulation fehlender Schwerkraft: So lange das Schiff nicht beschleunigt, also keine G-Kräfte entstehen, wird man nicht ins Cockpit laufen, sondern schweben. An Bord von Raumstationen gelte dasselbe Prinzip – dort wird künstliche Schwerkraft allerdings durch Rotation erzeugt, wobei die Übergänge zwischen Schiffen und Basen nahtlos sein sollen. Auf diese Art werde man sich zwischen den Missionen frei auf den Stationen bewegen, während Techniker Schäden am Schiff reparieren. Und mit Defekten, die sie bis zum nächsten Start nicht beheben können, wird man leben müssen, falls kein anderes Schiff im Hangar steht. Nicht zuletzt sollen die Schiffe mit fortlaufender Lebensdauer sogar fehleranfälliger werden.

Wie genau Raumschlachten ablaufen, kann Juliano übrigens noch nicht sagen. Natürlich soll es welche geben! Und Waffen, die mit schnellen Geschossen praktisch im Moment des Abzugs treffen, funktionieren bereits. Wie sich andere Geschosse auf den Verlauf der Kämpfe und damit auch Missionsgestaltung und KI auswirken, ließe sich aber noch nicht absehen. "Es ist in jeder Hinsicht ein Experiment dahingehend, wie Raumkämpfe in einer Hardcore-Science-Fiction aussehen könnten und ich bin davon überzeugt, dass es ein mitreißendes Erlebnis wird", so Juliano.

Auf schnelle Action legt er dabei keinen Wert. Als jemand, der acht Jahre an den Instrumenten eines Bombers gearbeitet hatte, ist ihm wichtig, dass man das Schiff beherrscht; dass man etwa Checklisten zur Problembehebung durchgeht, sobald man in Schwierigkeiten gerät. Als Erfolg soll sich schon anfühlen, wenn Schiff und Pilot nach einem Zwischenfall zur Basis zurückkehren.

Early Access – und dann?

Bleibt die Frage, wann Rogue System erscheinen soll. Die derzeit über die offizielle Webseite erhältliche und von Image Space Incorporated (rFactor) vertriebene Version enthält lediglich Tutorials sowie eine erste Mission und erlaubt das freie Fliegen. Juliano will zunächst die Simulation im Kern fertigstellen, bevor er sich der Kampagne sowie

In Kürze erscheint Rogue System auf Steam. Die Verkaufszahlen werden darüber entscheiden, ob Michael Juliano weitere Entwickler einstellen kann.
anderen Inhalten widmet und immerhin ist man bereits einige Stunden beschäftigt, bevor man nicht nur Schritt-für-Schritt-Anleitungen folgen kann, sondern das Fliegen aus dem Effeff beherrscht.

In Kürze soll Rogue System außerdem auf Steam erschienen, natürlich als Early-Access-Titel. Anderthalb Jahre oder länger soll es daraufhin weiter entwickelt werden – je nachdem, wie viele Mitarbeiter Juliano aufgrund des erzielten Gewinns einstellen kann. Bislang hatte sich das Spiel einfach nicht gut genug verkauft, um weitere Entwickler einzustellen. "Obwohl sich die eAccess-Veröffentlichung von ISI halbwegs gut verkauft hat, brachte sie nicht genug ein, um weitere Einstellungen zu rechtfertigen. Tatsächlich sind die ersten Monate auf Steam die letzte Möglichkeit, ein Budget für weitere Teammitglieder zu erhalten", erklärt Juliano und ergänzt später: "Falls wir erfolgreich sind und ich ein paar Leute an Bord holen kann (am liebsten wären mir Grafiker, so dass ich mich komplett auf das Programmieren konzentrieren kann), dann werden wir die Entwicklungszeit etwas verlängern, um das Meiste aus ihrer Beteiligung rauszuholen." Auf zwei Jahre will Juliano die Early-Access-Zeit dann erhöhen.

Ausblick

Rogue System ist ein Projekt für Liebhaber: für leidenschaftliche Weltraumpiloten, die darin aufgehen, sämtliche Instrumente von Hand zu bedienen, Checklisten wie an Bord eines realen Flugzeugs oder Raumschiffs durchzugehen, die in der Langsamkeit der Schwerelosigkeit eine zweite Heimat finden. Und dieses Prinzip, das manuelle Starten, Landen und Fliegen funktioniert bereits hervorragend! Als kompletter Gegenentwurf zu einer Arcade-Action wie Eve: Valkyrie fühlt sich Rogue System wunderbar nüchtern, erwachsen – real an. Auch die Kampagne mit dynamisch erstellten Aufträgen sowie die für eine Zeit nach der Veröffentlichung des Hauptspiels geplante Erweiterung eines freien Universums für Händler und Entdecker versprechen das Abtauchen in eine fesselnde Utopie. Noch ist es bis dahin aber ein weiter Weg: Alleinentwickler Michael Juliano baut sein Traumprojekt zwar Schritt für Schritt zusammen und hält seine Spieler ehrlich auf dem Laufenden. Trotzdem liegt eine große Menge Arbeit vor ihm und das Ergebnis ist trotz überlegt gesteckter Ziele kaum absehbar. Die große Euphorie halte ich deshalb selbst als Unterstützer vorerst zurück – obwohl ich schon jetzt das vielleicht einzige Spiel genieße, das sich den Begriff "Raumkampfsimulator" wirklich verdient!

Einschätzung: gut

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