Shin Megami Tensei: Lucifer's Call08.07.2005, Jens Bischoff
Shin Megami Tensei: Lucifer's Call

Im Test:

In Japan ist die ungewöhnliche Megami Tensei-Saga, kurz MegaTen genannt, schon seit 8Bit-Zeiten Kult. Trotzdem hat sich bisher noch kein Ableger nach Europa verirrt. Dank Ubisoft kommen mit Shin Megami Tensei: Lucifer‘s Call alias Shin Megami Tensei: Nocturne, wie es in Übersee hieß, endlich auch PAL-Spieler in den Genuss der apokalyptischen Dämonenkriege. Warum interessierte Rollenspieler Bizarres mögen und Frust aushalten sollten, verrät der Test.

Jenseits von Gut und Böse

Ihr habt keine Lust ständig irgendwelche Fantasywelten zu retten und den schimmernden Helden zu spielen? Ihr langweilt euch, wenn immer nur in den Kategorien Gut und Böse gedacht wird? Und ihr fühlt euch im Kampf gegen Elfen, Orks & Co ständig unterfordert?

Bizarres Ambiente: Die Locations und Charaktere versprühen den Falir eines düsteren Anime.
Dann könnte Lucifer‘s Call genau euer Spiel sein. Statt die Welt zu retten, werdet ihr kurz nach Spielbeginn Zeuge der Konzeption, einer Art Apokalypse, die fast sämtliches menschliches Leben auslöscht und eine Heerschar von verfeindeten Dämonen auf den Plan ruft. Auch ihr werdet in einen Dämon verwandelt und könnt fortan selbst bestimmen, in welche Richtung sich die bizarre neue Welt entwickeln soll. Je nachdem, welche Gesinnung ihr verfolgt, sind bis zu sechs verschiedene Ausgänge möglich.

Verdammt harte Brocken

Allerdings ist es auch möglich, dass ihr schon nach wenigen Stunden aufgebt und das bizarre Abenteuer vorzeitig beendet, denn einige Kämpfe sind ohne exzessives Aufleveln und ausgeklügeltes Party-Management selbst auf dem einfacheren der beiden Schwierigkeitsstufen unschaffbar - was vor allem ungeduldige und unerfahrene Spieler zur Weißglut treiben dürfte. Aber auch Veteranen haben hin und wieder mit dem sprunghaften Ansteigen des Schwierigkeitsgrads zu kämpfen: Herausforderungen sind zwar gut und recht, aber stellenweise haben es die Entwickler einfach übertrieben. Selbst ein harmloser Zufallskampf wird zur tödlichen Falle, wenn ihr auf dem falschen Fuß erwischt oder von einem Bannzauber überrascht werdet, den selbst schwache Gegnern beherrschen - Game Over.

Hinzu kommt, dass Speicherpunkte relativ rar gesät sind und man nicht einmal bei Streifzügen auf der leider sehr primitiv gehaltenen Weltkarte sichern kann. Da man seine Widersacher erst im Kampf unvermittelt zu Gesicht bekommt, kann man sich auch nicht auf spezielle Feinde vorbereiten. Hinzu kommt ein weiteres Handicap, das sich sowohl auf den Spielfluss als auch die Balance negativ auswirkt:

Schwächen gezielt ausnutzen: Das fordernde Kampfsystem lässt keine Langeweile aufkommen.
Man kann den Zufallskämpfen nicht ausweichen und seine Ausrüstung nach Kampfbeginn auch nicht mehr verändern. Das führt dazu, dass es gerade in neuen Gebieten immer wieder zu unvermeidlichen Fehlbesetzungen samt Niederlage kommt.

Kämpfen ohne Langeweile

Aber sei‘s drum, wer sich trotzdem durchbeißt, erlebt zahllose spannende Konfrontationen, die dank eines ausgeklügelten Kombosystems nur selten mit simplen Standardangriffen bewältigt werden können. Das rundenbasierte Kampfgerüst an sich ist zwar recht simpel und traditionell gestrickt, bietet durch gezieltes Ausnutzen individueller Stärken und Schwächen aber eine Menge Spielraum, durch den man immer wieder selbst überlegen erscheinende Feinde ohne einen Kratzer abzubekommen in ihre Schranken verweisen kann - sofern man über die passenden Mitstreiter und Talente verfügt.            

Während man Letztere durch Stufenanstiege immer weiter verfeinert, werden neue Weggefährten in erster Linie durch diplomatische Verhandlungen während eines Kampfes rekrutiert. Diese könnt ihr dann unverändert in eure Party aufnehmen oder mit anderen Mitstreitern zu noch stärkeren Kreaturen fusionieren. Bevor sich euch weitere Dämonen anschließen, wollen diese meist erst ein paar Aufmerksamkeiten wie Geld, Lebensenergie oder bestimmte Gegenstände von euch.

Überredungskunst: Neue Mitstreiter müssen erst mit Diplomatie und Geschenken geködert werden.
Manchmal stellen sie euch auch Fragen, die ihr zu deren Zufriedenheit beantworten müsst, bevor sie sich euch anschließen. Besonders widerspenstige Artgenossen lassen sich teilweise auch erst mit der Überredungskunst bereits rekrutierter Mitstreiter überzeugen - vor allem, wenn diese der gleichen Gattung angehören oder spezielle Talente besitzen. Wenn‘s trotzdem nicht klappt, kann‘s aber auch daran liegen, dass euer Level noch zu niedrig oder gerade Vollmond ist.

Unter dem Einfluss des Mondes

Bei Vollmond sind die umherstreunenden Dämonen nämlich besonders aggressiv und alles andere als gesprächig. Die stets eingeblendete Mondphase wirkt sich aber auch noch in anderer Form aus: So führen Gegner bei Vollmond schon mal seltene Kleinode mit sich, während bei Dämonenfusionen auch mal was schief laufen kann. Andererseits sind manche Fusionen wiederum überhaupt nur bei Vollmond möglich. Die Zeit verstreicht in Lucifer‘s Call allerdings nicht in Echtzeit, sondern nur wenn ihr euch bewegt, so dass man die Mondphasen nicht manipulieren kann, um Rekrutierungsgespräche aufzuschieben oder gezielte Juwelenjagden anzusetzen. Denn auch wenn die Kämpfe auf zufälligen Monsterbegegnungen basieren, wird euch doch stets farblich angezeigt, wie hoch die momentane Wahrscheinlichkeit eines Gegnerkontakts ist.

Frust-Boss: An diesem frühen Zwischengegner werden sich viele Spieler die Zähne ausbeißen.
Die entsprechende Farbskala ändert sich jedoch nicht beim Betreten bestimmter Gebiete, sondern wechselt unanhängig von euren Aktionen und Aufenthaltsorten ganz allmählich von Gelb über Orange bis hin zu Rot, wo man jederzeit mit einem Angriff rechnen muss.

Überall lauern Gegner

Selbst in Städten und Siedlungen seid ihr fast nie vor Dämonenangriffen gefeit. So kann es vorkommen, dass ihr kurz vor dem lebensrettenden Heilbrunnen oder dem örtlichen Speicherterminal noch in einen Hinterhalt geratet und mit völlig erschöpfter Party um euer Leben kämpfen müsst. Zum Glück kann man in den meisten Kämpfen auch versuchen die Flucht zu ergreifen. Mittels spezieller Items lässt sich diese sogar garantieren, sofern es sich nicht um einen Bosskampf handelt. Rettende Stadtportale oder Ähnliches, um aus einem unterschätzten Dungeon zu entrinnen, gibt es allerdings nicht. Dafür dienen die leider viel zu seltenen Speicherterminals später auch als Teleporter, mit denen man in Sekundenschnelle bereits besuchte Orte erreicht.

Gegen den Matador ist der spätere Kampfmarathon gegen Thor und seine Schergen geradezu harmlos.
Hin und wieder könnt ihr dieses Dimensionsnetzwerk sogar direkt betreten, um dessen Geheimnisse zu lüften oder Kontakt mit euren zwielichtigen Gönnern aufzunehmen, in deren Auftrag ihr spezielle Kandelaber ausfindig macht.

Wo bleibt die Story?

Die Hintergrundgeschichte ist jedenfalls ähnlich bizarr wie das gesamte Szenario, kommt aufgrund der eher beiläufigen Erzählweise aber nie so richtig in die Gänge, was durch die fehlende Sprachausgabe, die recht schwachen Dialoge und euer extrem wortkarges Alter Ego auch nicht gerade erleichtert wird. Zudem fällt die deutsche Übersetzung ziemlich durchwachsen aus: Insgesamt ist die Qualität zwar ganz annehmbar, wird aber immer wieder durch peinliche Fehler und merkwürdige Abkürzungen erschüttert. Zum Glück könnt ihr aber jederzeit auch auf englische Texte und Menüs umschalten. Sprachausgabe gibt es jedoch auch hier keine. Ähnlich durchwachsen präsentiert sich im Übrigen auch die Soundkulisse, die zwar mit einem gelungenen Soundtrack aufwartet, aber nur durchschnittliche Sound-FX und kaum Umgebungsgeräusche bietet, was die teils ohnehin schon recht sterilen Levels noch zusätzlich Atmosphäre kostet.        

Bizarre Anime-Welt

Ansonsten glänzt die verschrobene Spielwelt aber mit jeder Menge skurriler Locations und Charaktere, die im Strudel von Mythologie, Philosophie, Ideologie und Religion eine erfrischend ungewöhnliche Stimmung erzeugen. Schade nur, dass alle Figuren immer nur wie angewurzelt in der Gegend herumstehen und auf der Weltkarte wie ihr selbst zu bloßen Symbolen degradiert werden. Das ist umso verwunderlicher, da die Welt an sich, das postapokalyptische Tokio, trotz Deformierungen durch die Konzeption sehr authentisch wirkt und viele bekannte Distriktnamen und Bauwerke beinhaltet.

Prominenter Stargast: Devil May Cry-Held Dante könnt ihr später sogar in eure Party aufnehmen.
Der verwendete Grafikstil kommt aber auch ohne aufwändige Animationen und Charaktergestaltungen gut rüber. Durch das Flat-Shading mutet die Grafik fast wie ein düsteres Anime an, auch wenn sie stellenweise doch etwas zu spartanisch wirkt und nicht ganz frei von Kantenflimmern ist. Dafür gibt es aber einen 60Hz-Modus und eine bis auf die gewöhnungsbedürftige Kamerajustierung sehr handliche Third-Person-Steuerung.

Magamtama - oder wie spritze ich mir einen Parasiten

Zudem dürft ihr euch über eine praktische Automap und eine ansehnliche Spielzeit freuen, die vom Hersteller mit 50 Stunden veranschlagt wird. Wer Spaß an der Dämonenzucht findet und alle der über hundert möglichen Originale und Kombinationen sein Eigen nennen sowie jeden optionalen Boss bezwingen und Bonus-Dungeon bewältigen will, kann aber noch weit mehr Zeit mit Lucifer‘s Call verbringen. Die Beschäftigungsmöglichkeiten sind jedenfalls sehr tiefgehend und der Wiederspielwert aufgrund der sechs verschiedenen Enden und des übertragbaren Dämonenkompendiums recht hoch. Auch das unkonventionelle Ausrüstungssystem, mit dem ihr eurem Protagonisten statt Kleidung und Rüstzeug spezialisierte Parasiten, so genannte Magatama, injizieren könnt, um bestimmte Resistenzen zu erzielen, Charakterwerte zu verbessern oder Talente zu erlernen, ist sehr gut gelungen.

Von allen guten Geistern verlassen: Anfangs seid ihr noch ganz allein im Dämonenreich unterwegs.
Das Leveldesign ist hingegen recht linear und wirkt mit seinem blockhaften Layout oft geradezu statisch. Auch die Oberwelt bietet kaum Platz für Erkundungen oder Überraschungen abseits der Hauptpfade, Interaktionsmöglichkeiten mit der Spielumgebung gibt es so gut wie gar keine und die meisten Charaktere wirken oberflächlich und blass.

Hausgemachtes Frustpotential

Als nervig empfand ich auch, dass man Zwischensequenzen oder Dialoge nicht abbrechen konnte, was einem besonders dann auf den Keks ging, wenn man mehrmals erfolglos versuchte, einen zähen Bossgegner zu bezwingen und bei jedem neuen Versuch immer wieder das ganze Vorgeplänkel über sich ergehen lassen musste. Ärgerlich auch, dass es in solchen Fällen keine Continue-Funktion gab und man immer wieder dazu gezwungen war, sich vom letzen Speicherpunkt, der nur selten in unmittelbarer Nähe lag, erst wieder bis zum Bossfight durchzukämpfen. Ähnlich nervig waren auch die zufälligen Talentwechsel von Dämonen, die fernab jeden Speicherpunkts einen Level aufstiegen und anschließend versuchten, ein vorhandenes Talent zu verbessern.

Trostloser Stadtrundgang: Auf der mickrigen Weltkarte gibt es nicht viel zu sehen und entdecken.
Da konnte es schon mal vorkommen, dass aus der erhofften Verbesserung des Heilzaubers ein ganz anderer Zauber wurde und man plötzlich keinen Heiler mehr in der Party hatte. Die Folgen spontaner Talentwechsel sind nämlich völlig unabsehbar und lassen sich nicht wieder rückgängig machen.

El Dorado für Dämonenzüchter

Ganz anders verhält es sich hingegen bei der ungemein motivierenden Dämonenfusion, wo ihr das Resultat eurer Schöpfung noch vor der endgültigen Bestätigung einsehen und bei Nicht-Gefallen verwerfen könnt, was aufgrund vieler durch Zufall bestimmter Merkmale geradezu ein Segen ist. Warum es diese Möglichkeit nicht auch bei den spontanen Talentwechseln gibt, ist mir völlig unerklärlich. Zumindest könnt ihr eure Dämonen bei Stadtbesuchen in ein Kompendium eintragen lassen, wodurch ihr sie bei Bedarf jederzeit gegen Bares wieder in der abgespeicherten Form auferstehen lassen könnt, denn der Platz an aktiven (bis zu drei) und passiven (bis zu neun) Mitstreitern in eurer Party ist ziemlich begrenzt. Praktischer wäre es allerdings gewesen, ein mobiles Kompendium zu haben, um flexibler auf ungewollte Veränderungen durch Levelaufstiege reagieren zu können. Alternativ hätte aber auch ein flexibleres Speichersystem viele unvorhersehbare Ärgernisse ersparen können. Vielleicht klappt‘s ja beim nächsten Mal, denn mit etwas mehr Feinschliff wäre selbst bei Lucifer‘s Call statt einer "guten" eine "sehr gute" Wertung drin gewesen...       

Fazit

Eigentlich ist Lucifer‘s Call ein genauso bizarres wie motivierendes Rollenspielerlebnis, das selbst so manchen RPG-Veteranen ins Schwitzen bringt. Hin und wieder haben es die Entwickler mit dem Schwierigkeitsgrad aber gewaltig übertrieben. Wer nicht bereit ist, sich vor gewissen Schlüsselkämpfen stundenlang aufzuleveln und mit verschiedenen Partybesetzungen herum zu experimentieren, wird schon auf dem einfachsten der beiden Schwierigkeitsgrade nach wenigen Stunden frustriert die Flinte ins Korn werfen. Wer durchhält, wird hingegen mit einem genauso fordernden wie umfangreichen Endzeitabenteuer belohnt, das mit über hundert rekrutierbaren Dämonen wie z.B. auch Dante aus Devil May Cry, einem halben Dutzend möglicher Enden sowie einem ausgefeiltem Kombosystem lockt. Schade nur, dass die an sich interessante Story ziemlich stiefmütterlich eingebunden wurde und die relativ einseitigen Dialoge nur in Textform abgespult werden. Die deutsche Übersetzung ist zwar ganz passabel, aber angesichts teils haarsträubender Übersetzungsfehler und völlig konfuser Abkürzungen empfehlen wir die Spielsprache trotzdem gleich zu Beginn auf Englisch zu stellen. Ansonsten bitte mehr davon, denn mit dem nötigen Feinschliff und einer ausgewogeneren Spielbalance hätte schon Lucifer‘s Call den Award erobern können.

Pro

60Hz-Modus
günstiger Preis
enormer Umfang
praktische Automap
sechs mögliche Enden
ungewöhnliches Setting
bizarres Charakterdesign
motivierende Dämonenzucht
originelles Mondphasen-Feature
flottes & forderndes Kampfsystem

Kontra

primitive Oberwelt
kaum Storyelemente
keine Sprachausgabe
sehr lineares Leveldesign
durchwachsene Übersetzung
gewöhnungsbedürftige Kamera
unkomfortables Speichersystem
unausgewogener Schwierigkeitsgrad
nicht abbrechbare Zwischensequenzen
teils nervige Zufallskämpfe & -ereignisse

Wertung

PlayStation2

Bizarre und fordernde Dämonenhatz, der es leider am nötigen Feinschliff mangelt.

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.