The Unfinished Swan17.10.2012, Benjamin Schmädig
The Unfinished Swan

Im Test:

Als ich während der E3 mit Farbbeuteln um mich warf, war es das mit Abstand spannendste Erlebnis meines bisherigen Spielejahres: Nur dort, wo Farbe kleckste, konnte ich die Geometrie erkennen. Der Rest der Umgebung war eine flache, weiße Leinwand – ohne Schatten, ohne Umrisse. Ich hatte es mit Haut und Haaren genossen, in das ungewöhnliche Entdecken einzutauchen. Und ich hatte mich auf mehr gefreut...

Aller Anfang ist einzigartig

The Unfinished Swan (ab 12,59€ bei GP_logo_black_rgb kaufen), der unvollendete Schwan, ist die Geschichte Monroes. Der Junge lebt in einem Waisenheim, wo er als Andenken an seine Mutter eins der vielen Gemälde hütet, die sie nie beendet hatte: das Bild eines Schwans. Doch eines Nachts verschwindet der Vogel – durch eine Tür, die Monroe nie zuvor gesehen hat. Natürlich folgt er dem Federvieh. Und plötzlich sieht er gar nichts mehr!

Oder doch? Unbeholfen stehe ich vor einem weißen Bildschirm, drücke ein paar Knöpfe des Move-Controllers. Nichts passiert. Doch, jetzt! Ein Tastendruck schnipst Farbkleckse in hohem Bogen in das Weiß; wo sie zerplatzen, breiten sie sich über Wänden, Kanten, Vasen, Sitzbänken aus. Jetzt hat die Umgebung ein Profil. Jetzt erkenne ich einen Ausgang und betrete die faszinierende Welt, der ich nach und nach ein Gesicht verleihe.

Es ist verblüffend, wie sich ein Teich, ein Steg, sogar Tiere und ein ganzes Schloss aus dem Nichts schälen. Das Schöne: Ich sauge die Eindrücke nicht nur auf, vielmehr ist mein Kopf hellwach. Er forscht und fragt, wie ein Raum wohl aussehen könnte.

Die ersten Minuten gehören zu den ungewöhnlichsten dieses Spielejahres.
Farbkleckse schälen Umrisse aus der komplett weißen Leinwand. Die ersten Minuten gehören zu den eindrucksvollsten des Spielejahres!
Wo sich vielleicht Geheimnisse verstecken. Er liefert sich einen spannenden Wettlauf mit den Füßen, anstatt ihnen im Leerlauf hinterher zu trotten. Jetzt, wo ich gesehen habe, was es in diesem plastischen Gemälde zu sehen gibt, war es in der Tat das aufregendste Entdecken, dass ich seit langem erlebt habe. Einzigartig!

Das Rätsel des grauen Schlosses

Doch The Unfinished Swan ist mehr als das erste, vergleichsweise kurze Kapitel. Es folgen zwei weitere, in denen sich der Ablauf entscheidend ändert. Der auffallendste Unterschied: Im zweiten Kapitel sind die Umrisse der Kulissen klar erkennbar. Der König, der dieses unvollendete Reich geschaffen hat, hörte irgendwann auf die Beschwerden seiner Untertanen und malte Schatten hinzu. Und so bewege ich mich noch immer durch weiße Wände, die jetzt aber als Schloss, Irrgarten oder Wohnviertel zu erkennen sind.

Das Spiel ändert sich – aus dem teils blinden Vorantasten wird das Erspähen des einen möglichen Weges. Denn wenn ich alias Monroe diesmal mit Wasserbeuteln werfe, locke ich grüne Ranken an, mit deren Hilfe ich sogar Mauern empor klettern kann. Und leider ist diese Wegfindung über weite Strecken keine Herausforderung, sondern klar ersichtliches

Rote Paddel steuern im zweiten Abschnitt verschiedene Mechnismen. Kleckst Monroe Wasser auf Boden oder Wand, suchen sich grüne Ranken einen Weg dorthin.
Rote Paddel steuern im zweiten Abschnitt verschiedene Mechnismen. Kleckst Monroe Wasser auf Boden oder Wand, suchen sich grüne Ranken einen Weg dorthin. Knackige Rätsel löst er dennoch zu selten.
Voranschreiten. Noch dazu stellt sich Monroe zuweilen bockig beim Erklimmen mancher Abschnitte an. Viel zu selten musste ich in diesem Abschnitt noch nachdenken. Selbst das Entdecken versteckter Ballons geschieht meist wie von selbst. Wo ist es hin, das neugierige Erforschen einer ungewöhnlichen Welt? Die stilvolle Kulisse alleine reicht mir nicht mehr.

Ballonsammler

Wofür ich die Ballons nutze? Zum einen bin ich für jede Herausforderung dankbar. Zum anderen tausche ich Ballons gegen kleine Hilfen oder witzige Extras. Ich könnte etwa die Möglichkeit kaufen, etliche Farb- oder Wasserbeutel in der Luft abzusetzen, um sie per Knopfdruck alle auf einmal loszulassen. Ich könnte außerdem alle Änderungen, die ich in einem Abschnitt vorgenommen habe, rückgängig machen oder ein Symbol einblenden, das größer wird, je näher ich einem Ballon komme. Praktisch, brauchbar, aber natürlich nur Dreingaben.

Augen in der Dunkelheit

Das Abenteuer fängt sich wieder, wenn Monroe in tiefschwarzer Nacht zwischen dunklen Bäumen und geifernden Augenpaaren steht. In der Ferne thront eine Königsstatue; in der Nähe leuchtet nur eine matte Laterne. Wenn ich die anschnipse, gibt sie mir ein paar

Move oder Gamepad?

Wer den Schwan nicht mit Move jagen möchte, kann dies übrigens auch auf herkömmliche Weise tun. Die Bewegungssteuerung funktioniert zwar tadellos, mit Gamepad hat man allerdings mehr Übersicht. Quadratmeter Sicherheit – entferne ich mich aus dem Leuchtkreis, fallen die roten Augen über mich her...

Jetzt ist die Suche nach dem unvollendeten Schwan wieder spannend! Sie kommt etwas vom Weg ab, weil Fingerfertigkeit plötzlich mehr zählt als räumliches Vorstellungsvermögen, doch das Spiel mit wenig Licht in einer stockfinsteren Umgebung hat meine volle Aufmerksamkeit. Es kommt auch dort vom Weg ab, wo ich in den dreidimensionalen Skizzen einiger Gebäude deren reale Ebenbilder fertig malen muss: Dafür errichte ich Quader beliebiger Größe oder lösche sie, indem ich Verdünner drauf schnipse - eine andersartige, aber gelungene Erweiterung des Zurechtfindens im virtuellen Raum.

Wenn die Lösungen zum Vorankommen nur nicht so offensichtlich wären! Wenn es versteckte Ballons gäbe, die spätestens jetzt meinen ganzen Orientierungssinn fordern würden! Und wenn die Geschichte im letzten kurzen Abschnitt doch nur mehr wäre als eine überschaubare Metapher über das Spiel selbst...

Fazit

Ich habe The Unfinished Swan richtig genossen! Jede Minute in der ungewöhnlichen Kulisse ist aufregender als das Kartografieren herkömmlicher Spielewelten. Denn obwohl die Umgebung nur mit wenigen Strichen gezeichnet wird, schaue ich genauer hin: Ich muss die Architektur interpretieren, um voran zu kommen. Die Kulisse selbst gibt mir zu denken – meine ungewöhnlichen Möglichkeiten, sie zu beeinflussen sind der spannende Mittelpunkt des Spiels. So richtig passen die Elemente allerdings nicht zusammen, weil die Kapitel wie unabhängige Gedankenspiele wirken, die auf eine große Collage geklebt wurden. Die Suche nach dem Schwan hätte sich stärker auf clevere Rätsel stützen müssen, um durchgehend so zu fesseln wie in den hervorragenden ersten Minuten. Dass die liebevoll erzählte Geschichte ihrem Anspruch einer bedeutsamen Metapher nicht gerecht wird, unterstreicht das Gefühl der Leere. So bleibt ein einfallsreiches Experiment, dessen mögliche Brillanz aber zu selten durchschimmert.

Pro

ungewöhnliches Entdecken einer unbekannten Welt
einige clevere Rätsel...
leichtfüßig erzählte Geschichte...
Entdecken erzählerischer Monologe als Teil des Spiels
eleganter, minimalistischer Zeichenstil
Aufspüren von Ballons als knifflige Herausforderung

Kontra

wenige, strikt voneinander getrennte Spielelemente
... von denen es zu wenige gibt
... die letztlich zu oberflächlich bleibt
kleine grafische Schwächen

Wertung

PlayStation3

Faszinierendes Experiment mit großartigen Ideen. Leider verlaufen sich Spiel und Geschichte in einer oberflächlichen Leere.

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