Tokyo Jungle10.10.2012, Jan Wöbbeking
Tokyo Jungle

Im Test:

Sony hat die Nase voll von schlurfenden Zombies: Im PSN-Titel Tokyo Jungle (ab 53,12€ bei kaufen) beißt man sich als flauschiger Zwergspitz durch die Apokalypse. Nach dem Aussterben des Menschen kämpfen Schoßhunde, Waldtiere und ehemalige Zoobewohner ums Überleben.

Von Wildkatzen und Killerdackeln

So einen Überlebenskampf habe ich noch nicht gesehen: Mein knuffiger kleiner Teppichporsche springt einem zehn mal so schweren Reh an die Kehle - und hat Erfolg. Sekunden später liegt das erlegte Wild am Boden, fertig zum Verspeisen. Das wurde auch Zeit, die rapide fallende Hungeranzeige hat die Energieleiste meines Hündchens empfindlich geleert.

Mit lauten Piepsgeräuschen fresse ich die Beute. Auch der Rest der Soundeffekte klingt wie in der Pachinko-Halle aufgnommen. Klingklong: Herausforderung gemeistert, zwei Gegner gerissen. Wiuwiuwiu: Ein schwebendes Geschenk rotiert wild vor meiner Nase. Darin steckt ein knallbuntes Hundekostüm, welches meine Attacken um ein paar Punkte verstärkt. Begleitet wird das surreale Schauspiel von einem überdreht euphorischem Mix aus Techno und Sambatrommeln, der eher an einen Fußballtitel aus den Neunzigern als an die Apokalypse erinnert.

Trash oder Überlebenskampf?

Vor einer Runde entscheidet man sich für ein Raubtier oder einen schleichenden Pflanzenfresser.
Vor einer Runde entscheidet man sich für ein Raubtier oder einen schleichenden Pflanzenfresser.
All das wirkt so schrecklich deplatziert und wild zusammengewürfelt, dass zunächst meine Vorliebe für japanischen Trash zum Weiterspielen motiviert hat. Passend dazu wird das menschenleere Tokio auch technisch erstaunlich schwach inszeniert: Die Animationen wirken abgehackt und der Hintergrund wird in einen hässlichen Unschärfefilter getaucht. Teile des Bodens bestehen aus derart verwaschene Monstertexturen, dass Michael mich zwischendurch fragte, ob die PS2 wieder in Betrieb genommen hätte.

Trotzdem lohnt es sich, dranzubleiben. Hinter der bizarren Fassade steckt ein motivierender Überlebenskampf mit einem gelungenen Zusammenspiel vieler Tierarten. Der Ablauf ähnelt Spielen aus dem Roguelike-Genre wie Spelunker. Ich starte mit einem von vielen freischaltbaren Tieren in eine Runde und versuche, so lange wie möglich zu überleben.

Nahtloser Generationswechsel

Neben Zoo- Haus- und Wildtieren stromern sogar Dinos durch die postapokalyptische Welt. Ein paar besonders coole Biester wie das Krokodil muss man im PSN dazukaufen.
Neben Zoo- Haus- und Wildtieren stromern sogar Dinos durch die postapokalyptische Welt. Ein paar besonders coole Biester wie das Krokodil muss man im PSN dazukaufen.
Dabei erforsche ich die ehemaligen Einkaufsviertel Tokyos, springe anderen Hunden, Hyänen sowie Wildkatzen an die Gurgel und stille den blitzschnell wachsenden Hunger. Wichtig ist auch das Markieren neuer Reviere, welche ich danach als Speicherpunkt und zur Aufzucht meiner Jungen nutze. Da das durchschnittliche Haustier nur rund 15 Jahre lebt, darf ich nicht trödeln. Ich pirsche mich an jedes potenzielle Opfer heran, um meinen Ruf als Jäger zu verbessern.

Zu Beginn zeigen mir attraktive Weibchen sonst die kalte Schulter. Hat jedoch eine angebissen, trabt sie mir treu ergeben ins Versteck hinterher und das albern inszenierte Paarungsritual kann beginnen. Der Bildschirm färbt sich schwarz, es erklingt eine schmalzige Saxophon-Melodie und der Controller beginnt wild zu vibrieren. Kurz danach liegt ein kompletter Wurf im Korb. Ich schlüpfe in die Rolle eines der Jungen, welches Teile der Fähigkeiten seiner Eltern übernimmt. Auf meiner ersten Entdeckungstour dackeln mir meine Geschwister treu hinterher.

Hektische Familienplanung

Bei Monstertexturen wie diesen fragt man sich, warum das Spiel Viereinhalb Gigabyte auf der Festplatte belegt.
Bei Monstertexturen wie diesen fragt man sich, warum das Spiel Viereinhalb Gigabyte auf der Festplatte belegt.
Die Familienplanung und kleine Extra-Herausforderungen bringen Schwung in den Überlebenskampf. Wenn mir sowohl der  Hunger als auch das fortgeschrittene Alter im Nacken sitzen, muss ich Prioritäten setzen und schnelle Entscheidungen treffen. Nehme ich den Umweg in Kauf, um mich mit drei Küken zu stärken oder soll ich mir eine der beiden Hündinnen schnappen, um rechtzeitig für Nachkommen zu sorgen? Reicht mein Rang überhaupt aus, um die potentielle Partnerin zu beeindrucken?

Wem das pausenlose Zerfleischen zu martialisch ist kann auch als Pflanzenfresser starten. Dann konzentriert sich das Spiel noch stärker aufs Schleichen und Erreichen essbarer Pflanzen,  Revierkämpfe sind aber auch hier nötig. Als Küken, Henne, Hase, Nilpferd oder eines der vielen anderen freischaltbaren Arten tripple ich von einem schützenden Grasbüschel zum nächsten. Als Reh hüpfe ich mit Hilfe meines Doppelsprungs durch Einkaufszentren und andere Schleichwege, um neue Viertel zu erkunden, dort Revierkämpfe auszutragen und sie als mein Gebiet zu markieren.

Flucht oder Angriff?

Die hinterlistigen Hyänen vergreifen sich in hektischen Kämpfen gerne einmal an der Beute des Spielers.
Die hinterlistigen Hyänen vergreifen sich in hektischen Kämpfen gerne einmal an der Beute des Spielers.
Jede noch so erfolgreiche Runde endet aber irgendwann. Meist nach rund einer halben Stunde, wenn ich z.B. im Dunkeln in die Nachtstätte eines Löwenrudels tapse. So geschickt ich auch mit dem rechten Stick ausweiche – die Jäger lassen nicht von mir ab. Ein paar Fluchtminuten und Tatzenhiebe später ist mein Hund ein Kadaver und das Spiel vorbei. Bei weniger rigorosen Feinden schaffe ich es aber öfter einmal, mich abzusetzen und ins hohe Gras zu fliehen. Bin ich weit genug entfernt, verfliegt meine Duftspur und der Jäger lässt von mir ab.

Bevor sie mich entdeckt haben, grasen meine Gegner nur stumpf ihre Bahnen ab, im Kampf oder bei der Flucht wirkt die KI aber deutlich glaubwürdiger. Umsonst war mein von den Löwen gestoppter Ausflug übrigens nicht, weil ich wieder ein paar Extras freigeschaltet und mich in der weltweiten Bestenliste verbessert habe. Die Ausweich-Bewegung braucht man übrigens auch als Jäger für einen einfachen Konter. Der Rest der Steuerung ist ebenfalls einfach gehalten. Tatzenhiebe, Schleichgang und der tödliche Kehlenbiss werden jeweils mit einem Knopfdruck gestartet. Beim Finisher muss allerdings das Timing stimmen: Den passenden Zeitpunkt erkenne ich an einem rotierenden Biss-Symbol.

Nächste Station: Apokalypse! Kurze Bonus-Missionen und Notizzettel der Menschen erzählen die Geschichte hinter der Katastrophe.
Nächste Station: Apokalypse! Kurze Bonus-Missionen und Notizzettel der Menschen erzählen die Geschichte hinter der Katastrophe.

Solid Dog

Obwohl Tokyos Straßen schmal sind, erwarten mich auf meinen Entdeckungstouren immer wieder kleine Überraschungen. Mal imitiere ich Solid Snake und nutze einen Karton als mobile Tarnung, später versuche ich, unter Zeitdruck aus einem verseuchten Gebiet entkommen. Oder ich stecke mich mit Parasiten an, welche mich durch das ständige Kratzen ausbremsen und sich mit Flohpulver bekämpfen lassen.

Auch andere Überbleibsel der Menschen werden nützlich: Eine Flasche mit Mineralwasser z.B. entgiftet den angeschlagenen Körper ein wenig. Die Geschichte hinter der Apokalypse wird in den ausgelagerten Story-Missionen erzählt. Dort muss ich nicht endlos überleben, sondern nur ein paar Aufgaben meistern. Offline dürfen übrigens zwei Spieler kooperativ im gleichen Bildausschnitt loslegen. Da man sich gegenseitig mit einigen Medizin-Rationen heilen kann, fällt das Überleben dann deutlich einfacher.

Fazit

In den ersten Minuten wirkt Tokyo Jungle wie ein riesiges Durcheinander: Der überdrehte Samba-Techno passt einfach nicht zum düsteren Szenario und die wild klingelnde Statusmeldungen nicht zum gnadenlosen Überlebenskampf. Außerdem sieht es reichlich albern aus, wenn man sogar als Zwergspitz oder winziges Küken große Jäger abwehrt. Doch je länger ich spielte, desto mehr ging die Formel auf. Tokios animalischen Bewohner agieren zwar nicht besonders realistisch, im Rahmen des Spiels funktioniert das Zusammenspiel der Arten aber gut. Es ist richtig motivierend, sich als agiles Fluchttier durch die Ruinen zu schleichen – oder als Raubtier den unbändigen Hunger nach frisch erlegten Opfern zu stillen. Als kleine Spaßbremse erweist sich die nötige Fleißarbeit: Der Großteil anderer Spezies wird erst nach vielen mühsamen Runden freigeschaltet. Aber auch mit Reh, Zwergspitz und Raubkatze gestalten sich die Entdeckungstouren durch die verseuchten Ruinen überraschend unterhaltsam.

Pro

ungewöhnliche Spielidee
motivierender Überlebenskampf
bizarres Szenario
viele Tiere und Extras zum Freispielen
gelungenes Zusammenspiel der Arten

Kontra

Freischalten neuer Tiere benötigt zu viel mühsame Fleißarbeit
karge Kulissen mit riesigen Matschtexturen
unpassender und billig produzierter Samba-Techno
Unmengen klingelnder Einblendungen passen nicht zum Thema

Wertung

PlayStation3

Trotz schwacher Inszenierung bietet Tokyo einen unterhaltsamen Überlebenskampf in einer tierisch verrückten Welt.

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