Im Test: Mein Freund die Bestie
Gefangen im Kolosseum
Wie soll ich bloß aus diesem steinernen Kolosseum entkommen? Ich bin umgeben von steilen Felswänden. Aus ein paar hundert Metern dringen Lichtstrahlen durch ein Gitter von der Decke auf den Boden, bilden ein schachbrettartiges Muster im Staub. Aber ich erkenne keine Leiter, keinen Aufgang. Ich schaue mich in der Stille um. Alle Wächter sind tot, ihre Rüstungen liegen verstreut am Boden. Wie Golems erwachten sie plötzlich in ihren Nischen mit einem Glimmen in den Augen und verfolgten mich. Ob ich vielleicht wieder einen ihrer Helme einsetzen muss? Oder habe ich einen Hebel übersehen?
An einer Mauer schnüffelt Trico. Er sieht aus wie ein Fabelwesen aus einem mittelalterlichen Bestiarium. Er erinnert an Hyäne, Katze und Vogel, hat zwei gestutzte Flügel auf dem Rücken und trägt ein Federkleid. Mein Streicheln hat ihn nach dem Kampf wieder beruhigt. Er scheint diese Steinwächter regelrecht zu hassen, zerfetzt sie voller Wut, ist danach immer so aufgewühlt, dass ich kaum an ihn herankomme. Er
Der Junge und das Monster
Wir sind eine ungleiche Schicksalsgemeinschaft, die ihre Fähigkeiten vereinen muss, um aus diesem Tal mit seinen labyrinthisch verwobenen Ruinen, Türmen und Burgen zu fliehen. Schon als ich Trico das erste Mal traf, war er furchterregend. Ich bin als kleiner Junge in einer Höhle erwacht, zunächst ohne Erinnerungen. Wie kam ich hierher? Warum war mein Körper voller Tätowierungen? Ich tapste auf Zehenspitzen umher, suchte nach Ausgängen, wollte nur in mein Dorf zurückkehren. Dann erwachte die von Speeren verwundete Bestie, ihre riesigen Augen fixierten mich und ich war froh, dass sie angekettet war. Dieser Respekt vor der Kreatur wurde umso größer, wenn sie wie ein Löwe brüllte.
Die Entwicklung einer Beziehung
Diese Beziehung zur Bestie beginnt damit, dass man Wunden heilt. Im Einstieg lernt man, wie man die Speere aus seinem Rücken entfernt und den entkräfteten Trico mit Fässern füttert. Darin befindet sich ein für ihn unwiderstehliches Futter. Damit kann man langsam Vertrauen aufbauen, ihn stärken und irgendwo hin locken. Und es ist schön, wie man schrittweise immer mehr akrobatische Möglichkeiten in der Kooperation mit ihm kennenlernt. Die Regie lässt sich die Zeit, ein Verhältnis aufzubauen. Dass sich etwas verändert, wird auch visualisiert: Die abgeschlagenen Hörner von Trico wachsen sichtbar nach, je länger man mit ihm unterwegs ist und ihn füttert. Und auch seine Flügel heilen.
Das geduldige Grübeln
Aber er weiß nicht so recht, was ich von ihm will und blickt unschlüssig von links nach rechts. Ich rufe ihn erneut und zeige auf den Karren vor mir. Er schnüffelt daran, berührt das Holz misstrauisch und ganz leicht mit seiner Klaue - wie eine Katze, die das neue Spielzeug noch nicht kennt. Es ist verblüffend wie vielfältig seine Bewegungen auf die Umgebung abgestimmt sind, wie behutsam sich dieser Kolosse regen kann. Dann wendet er sich wieder ab. Aber ich weiß, dass ich manchmal Geduld mit ihm haben muss. Also versuche ich es erneut.
Archaische Raketentechnik
Gerade in diesen unentschlossenen Momenten wirkt dieses digitale Wesen besonders lebendig. Und ich genieße das Grübeln, denn bisher gab es immer einen logischen Weg. Aber im Gegensatz zu üblichen Spielen glitzern hier keine interaktiven Ziele aus der Distanz, werden keine Routen eingeblendet. Trotzdem gibt es manchmal angenehm subtile Hinweise, von farbigen Steinen oder Scherben bis hin zu bunten Schmetterlingen. Nur diesmal ist davon nichts zu sehen.
Oder könnte ich doch klettern? Wie so oft vielleicht erst auf seinen Rücken und dann, wenn er sich erhebt, noch weiter an seinem Federkleid hinauf? Aber warum dann dieser Karren? Der muss doch etwas bedeuten! Ich rufe Trico noch einmal
Hey, rede ich auf ihn ein, hau doch mal richtig da...plötzlich kracht es! Ich jage schnurstracks wie eine Rakete in die Luft und hänge ein paar Sekunden später weit oben an dem Gitter. Die Entwicklung dieser Situation gehört zu den vielen großartigen Highlights des Abenteuers. Ich ziehe mich hoch, drehe die Kamera nach unten und schaue in Tricos dunkle Augen. Ich liebe diesen Kerl einfach. Von hier oben sieht er fast klein und so putzig wie ein Welpen aus. Dann brüllt er und ich weiß, dass er einen Weg zu mir sucht. Jetzt kann ich uns helfen und vielleicht irgendwo eine Öffnung für ihn freimachen.
Die wichtige Sturheit
Trico ist kein Befehlsempfänger, kein Haustier, kein "Pet". Immer wieder merkt man das. Auch wenn man ihm ab einer gewissen Stelle eine Richtung vorgeben kann, ihn also auf eine Stelle aufmerksam machen kann: Man braucht Geduld, wenn er eigensinnig agiert. Auch kleine Aktionen wie das Streicheln wirken sich aus: Trico reagiert auf bestimmte Stellen unterschiedlich und beruhigt sich so schneller nach Kämpfen. Zu den besonderen Momenten gehören auch die Szenen, in denen man Trico die Führung überlassen muss - ganz einfach, weil es um unüberbrückbare Distanzen geht. Wenn er Anlauf nimmt und über eine Schlucht auf einen Felsen springt, während man sich an seinem Nacken festhält, sind das tolle Momente.
Steinerne Wachen und spektakuläre Akrobatik
Es gibt auch eine Vielzahl an klassischen Rätseln, die angenehm logisch aufgebaut sind und die mit der Zeit deutlich an Anspruch gewinnen - bis hin zu Situationen, in denen man auch die Physik des Wassers für seine Zwecke einsetzen muss. Mal gilt es lediglich den Weg zu einem Schalter zu finden, um Tore für Trico zu öffnen, man muss aber auch mit Objekten wie Vasen, Kisten oder Loren an Ketten oder Schienen interagieren. Selbst abgeschlagene Köpfe können sich als hilfreich erweisen und manchmal gilt es, das in Fässern abgefüllte Futter für Trico geschickt über mehrere Plattformen zu werfen. Besondere Spannung kommt auf, wenn der Junge auf der Flucht vor den Wachen von A nach B gelangen muss, indem er sie z.B. clever umrundet. Und spektakulär sind immer wieder die Szenen, in denen man mit Trico akrobatisch kooperiert.
ICO und Shadow of the Colossus lassen grüßen
Wer ICO und Shadow of the Colossus kennt, darf sich nicht nur über viele Déjà-vus freuen: Nicht nur das Monumentale, das Reduzierte sowie die Überleuchtung tauchen wieder auf, auch Kleinigkeiten wie die Echsen aus Shadow of the Colossus oder die Tauben aus ICO. Es ist schön zu sehen, wie Fumito Ueda auch spielerische Elemente seiner bisherigen Abenteuer aufgreift, ergänzt oder umkehrt. So wird aus roher Gewalt erste Hilfe: War man in Shadow of the Colossus noch ein gnadenlosen Monstertöter, der sein Schwert in verwundbare Stellen gigantischer Kreaturen rammen musste, gilt es hier die Speere aus dem Leib von Trico zu ziehen. Manchmal wird er von mehreren Wachen ins Visier genommen, getroffen und verwundet, bis er blutet - dann muss man schnell an seinen Federn hinab klettern und sie mit aller Kraft entfernen, was ihm sichtbar Erleichterung verschafft.
Kamera, Steuerung & Technik
Etwas nervig ist, dass man die eingeblendeten Steuerungshinweise nicht komplett abschalten kann - dass sie zu Beginn auftauchen ist klar, aber irgendwann weiß man ja, über welchen Knopf man sich festhält oder etwas bewegt. Unglücklich ist zudem, dass der Sprecher manchmal schon vor einer Aktion ihre geglückte Ausführung kommentiert. Ich konnte The Last Guardian nur auf der PlayStation 4 Pro testen: Ab und zu kann es dort Probleme mir der Bildrate geben, die in wenigen Situationen auch mal in die Knie geht, aber über die dreizehn bis fünfzehn Stunden nie so oft und stark, dass es das Spielgefühl negativ beeinflusst. Es ist angesichts der Größenunterschiede zwischen dem Jungen und Trico sowie der vielen verwinkelten Räumlichkeiten übrigens erstaunlich, wie wenig klassische Grafikfehler es gibt - es gibt ganz selten Clipping & Co.
Fazit
Ich verneige mich vor Fumito Ueda. Er hat mit Trico ein lebendiges Wesen voller Charakter erschaffen. Viel zu oft werden Pionierleistungen in der Spielebranche an der Technik festgemacht - an größer, schneller, prächtiger. Dabei entsteht die wahre Magie hinter dem Offensichtlichen, wenn eine künstlerische Vision über den kreativen Geist ihre Gestalt annehmen kann. Und Trico ist für mich die faszinierendste Gestalt der Videospielgeschichte. Ich habe stellenweise wie ein kleines Kind gestaunt, das zum ersten Mal in einem Zoo einen Elefanten sieht. Man entdeckt ständig neue Regungen, Bewegungen und spürt im Laufe des Abenteuers, wie die Beziehung zwischen Junge und Fabelwesen immer stärker wird. The Last Guardian ist der totale Kontrapunkt zu einem hektischen Spieldesign, das mich ständig mit Klimbim berieselt und belohnt. Hier muss man viel Geduld mitbringen, sich auch mal zurücklehnen und grübelnd verharren. Denn man ist nicht der alles beherrschende Meister, der mit jedem Knopfdruck präzise Befehle erteilt - man ist ein kleiner Junge, der seinen störrischen Gefährten beobachten und auch mal warten muss. Fumito Ueda hat nicht einfach einen Koloss mit Federn animiert, sondern ihm über verblüffend authentisches Verhalten digitales Leben eingehaucht. Trico ist in seinem ganzen Wesen ein technisches Meisterwerk. Denn auch im Kleinen und Stillen gibt es sehenswerte Momente, die plötzlich in spektakuläre Akrobatik in architektonisch atemberaubenden Kulissen übergehen. All das wird nicht kitschig, sondern angenehm zurückhaltend inszeniert, als würde man am Lagerfeuer einer Sage aus alter Zeit lauschen. Ja, es gibt Defizite hinsichtlich der Kamera und der Steuerung. Hinzu kommen Bildratenprobleme. Aber all das verschwindet über 13 Stunden im Schatten von etwas Großartigem. Auch wenn eine Freundschaft mit einem Fabelwesen vielleicht nicht die dramatische Sogkraft der heroischen Duelle aus Shadow of the Colossus entfachen kann: Das, was The Last Guardian auf den Bildschirm zaubert, hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Es sind diese einzigartigen Erlebnisse, für die ich Videospiele liebe.
(Wir haben The Last Guardian auf der PlayStation 4 Pro getestet. Anm.d.Red.)
Pro
Kontra
Wertung
PlayStation4
Ich verneige mich vor Fumito Ueda. Trico ist für mich die faszinierendste Gestalt der Videospielgeschichte. Auch wenn es technische Defizite gibt: The Last Guardian zaubert etwas bisher nicht Erlebtes auf den Bildschirm.
Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.