Gravity Rush 213.01.2017, Benjamin Schmädig

Im Test: Die Welt steht Kopf

Und plötzlich ist unten dort, wo gerade noch oben war. Was das heißt? Das heißt, die junge Dame fällt an die Decke, als wäre dort das Zentrum der Schwerkraft. Und dann hebt sie diese falsche Schwerkraft einfach auf, verlegt sie dorthin, wo eine fliegende Insel hoch über den Wolken schwebt, und fällt sofort drauf zu... Der Vorgänger war eines der aufregendsten Erlebnisse auf Sonys Vita-Handheld! Deshalb muss Gravity Rush 2 (ab 24,00€ bei kaufen) im Test erst mal beweisen, dass dieser freie Fall auch auf PlayStation 4 Spaß macht.

In Richtung Kopf gefallen

Ich liebe Bewegungsfreiheit, im echten wie im virtuellen Leben! Deshalb begeistern mich vor allem solche Spiele, deren Helden besonders akrobatisch oder in Windeseile Distanzen überwinden, um ihre Gegner zu überlisten oder prachtvolle Aussichten zu genießen. Und Gravity Rush 2 hat all das.

Kat, die junge Dame, von der ich sprach, fällt… so schnell man eben gen Boden fällt… über Wolkenkratzer, an Flugzeugen vorbei, unter ganzen Stadtvierteln hindurch. Ihre Welt sind fliegende Berge, schwebende Städte – und zu Beginn des Spiels eine kleine Flotte hölzerner Luftschiffe, deren Passagiere in einer scheinbar ewigen, in alle sechs

Kats zweites Abenteuer startet bei einer Gemeinschaft kleiner Holzschiffe.
Richtungen ausgedehnten Wolkendecke Edelsteine schürfen. Sie haben Kat bei sich aufgenommen, nachdem sie von einem Strudel aus ihrer Heimat gesogen wurde .

Wer wird sich denn streiten wollen?

Eine interessante Geschichte erzählt Keiichiro Toyama da, der auch für den Vorgänger, die Forbidden-Siren-Serie sowie das ursprüngliche Silent Hill verantwortlich zeichnet. Denn Kat erlebt kein Gut-gegen-Böse aus dem Handbuch der Dramaturgie. Vielmehr ist Gravity Rush 2 eine Sammlung in sich geschlossener, wie Comics erzählter Kurzgeschichten, alle mit ihren eigenen Bösewichten, vermeintlichen Feindbildern und moralischen Erkenntnissen. Im übergeordneten Bogen folgt Toyama Kats Suche nach ihrer Heimat und ihren Freunden. Doch in deren Rahmen erlebt die verschmitzte „Königin der Schwerkraft“ etliche kleine Episoden.

Dabei ist dem Spieleregisseur eine furchtbar sympathische Heldin gelungen: Kat kämpft ganz selbstverständlich für die Freiheit, die Rechte der Schwächeren sowie das Leben aller und stolpert nur deshalb durch moralische Dilemmas, um diese ebenso schnell aufzulösen wie sie Edelsteine der Reichen zu hungernden Armen transportiert. Konflikte beendet sie einfach mit ihrem großen Herz und einem frohen Lachen.

Die Erzählweise ist naiv. Schwere Themen spricht Toyama zwar an, überspielt sie aber mit einer beinahe ignoranten Unbeschwertheit. Dazu geschehen viele Entwicklungen dermaßen abrupt, das von einem dramaturgischen Aufbau nur am Rande die Rede sein kann. Urplötzlich rappelt sich ein fauler Schurke zu einer letzten Heldentat auf; Sekunden später ist seine Geschichte schon abgeschlossen.

Action in allen Richtungen

Interessanterweise ist es aber genau diese Naivität, die der Gravitationsumkehr das rechte Leben einhaucht. Immerhin hat Toyama eine ebenso fantasievolle wie farbenfrohe Welt geschaffen, mit einer Heldin, die verheerende Schäden anrichtet. Kat reißt ja sämtliche Menschen um sich herum mit, wenn sie mal wieder in den Horizont fällt – nur dass ihre unfreiwilligen Begleiter schnell den Halt verlieren und einfach in die Tiefe stürzen. Dass Toyama all das mit den Augen eines vergnügten Kindes betrachtet, macht Gravity Rush 2 erst zu einem unterhaltsamen Spiel.

Greifen die Nevi an, lässt Kat außerdem Objekte der Umgebung wie in einem magischen Wirbel um sich herum kreisen, bevor sie Tische, Mülltonnen oder Steine auf die rot-schwarzen Tentakelwesen schmeißt. Mit Soldaten sowie fünf Mann hohen Robotern bekommt sie es ebenfalls zu tun und genau wie im Kampf gegen die Nevi greift sie deren deutlich sichtbare Schwachstellen an. Hin und wieder muss sie zuvor eine Panzerung zerschmettern oder andere verwundbare Punkte treffen, bevor diese Ziele offenliegen. Hat sie das erreicht, fliegt sie in Position, um wie ein Pfeil auf die "Achillessehne" zu stürzen. Chaotische Kameraschwenks in der Nähe vieler Mauern und die etwas träge Steuerung versetzen der flotten Action dabei gelegentliche Dämpfer.

Wo auch immer die Heldin hinfällt, warten prachtvolle Aussichten.

Feder und Blei

Der direkte Angriff ist Kats stärkste und zentrale Waffe. Das Schleudern hat gegenüber dem Vorgänger allerdings an Bedeutung gewonnen und auch normale Kicks am Boden sind wichtiger als zuletzt, weil die Gegner vielseitiger geworden sind und Kat in manchen Situationen effektiver kämpft als bei ihrem ersten Auftritt.

Eine große Rolle spielen außerdem zwei neue Stellungen, mit denen sie sich entweder leicht wie eine Feder macht oder schwer wie eine Statue. Mond und Jupiter heißen die Kampfstile und während sie in ihrer Mondform selbst ohne Schwerkraftumkehr weit springt, boxt sie im langsamen Jupitermodus Widersacher mit einem Schlag weg, die sie sonst länger bearbeiten müsste.

Auch ihre Bewegungen, wenn sie die natürliche Gravitation aufgehoben hat, ändern sich dann. In der Jupiterform stürzt sie etwa mit so viel Gewicht in eine Schar Gegner, dass eine Druckwelle gleich mehrere von ihnen zerstört. In der Mondstellung erwischt sie hingegen flinke Nevi, die ihr sonst ausweichen und ihre Geschosse betäuben Bösewichte. Als Jupitermädchen presst sie um mehrere Gegenstände zu einer großen Kugel zusammen.

Wer wissen will, wie Kat bei den Kristallschürfern ankam, sollte sich den zwanzigminütigen Anime ansehen, der eine Brücke zwischen Gravity Rush und seinem Nachfolger schlägt.

„Versteckte“ Schätze

Gerade bei den von Jupiter-Fähigkeiten ausgelösten Druckwellen gelangt die Technik allerdings an ihre Grenzen, denn inmitten mehrerer berstender Objekte läuft das Geschehen deutlich langsamer ab als im Normalfall. In der Nähe eines großen Nevi kann Ähnliches passieren. Und obwohl es in Anbetracht der großen Entfernungen, die Kat überwindet, verständlich ist, dass manche Details nicht über zwei Kilometer schon erkennbar sind, fällt das sehr späte Auftauchen mancher Bäume und Bänke unangenehm auf.

Etwas ärgerlich sind sogar die ebenfalls oft nicht sichtbaren Kristalle. Dabei braucht Kat die Edelsteine, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln, also z.B. mehr Angriffe oder Ausweichrollen aneinander zu reihen. Schön übrigens, dass sie nicht sämtliche Fertigkeiten neu lernen muss, sondern im Wesentlichen dort weitermacht, wo sie nach dem Finale des Vorgängers aufgehört hatte.

Anstatt also zähes Grundlagentraining zu betreiben, rüstet sie Talismane aus, die ihr besondere Eigenschaften verleihen. Dann verbrauchen verschiedene Bewegungen weniger Energie, richten mehr Schaden an oder haben eine größere Reichweite. Man kann Talismane sogar miteinander verschmelzen, um ihre Besonderheiten zu kombinieren. Auch wenn sich spielerische Unterschiede mit verschiedenen Talismanen in Grenzen halten, entwickeln alle Spieler

Ähnlich wie in der PS4-Umsetzung des Vorgängers kann man kleine Korrekturen der Kamera durch Bewegungen des Gamepads vornehmen. Leider lassen sich Kameraschwenk und -drehung dabei nicht auf andere Achsen des Controllers legen, weshalb man nur durch Schieben des Pads auf der waagerechten Achse nach rechts und links blicken kann.
also eine individuelle Heldin.

Vom Papergirl zur Fotografin

Und wo findet Kat die wertvollen Steine? Dafür reist sie zwischen den Missionen in mehrere Schürfgebiete, wo ihr nicht nur zahlreiche Kristalle, sondern hin und wieder auch ein Talisman in die Hände fällt. Mit anderen Tätigkeiten abseits des roten Fadens verdient sie ebenfalls Edelsteine, solche Beschäftigungen dienen aber vor allem der Abwechslung und dem Erkunden der aus vielen Inseln bestehenden Städte.

So erledigt die Heldin im Wettlauf gegen die Uhr Nevi, liefert Zeitungen aus oder sucht Schatzkisten. Von deren Aufenthaltsort erfährt sie, wenn sie die von anderen Spielern online gestellten Fotos des Fundortes richtig deutet. Anschließend macht sie selbst ein Foto und stellt es ebenfalls online zur Verfügung. Auch ihre Bestzeit einer gemeisterten Herausforderung kann sie an Freunde oder zufällige Spieler schicken.

Kleine und große Gegner machen Kat zu schaffen, lebendige wie mechanische.
Abstellen darf man die (sehr wenigen) Anzeigen der Online-Herausforderungen zwar nicht, in dem beschwingten Gravity Rush 2 empfinde sich allerdings nicht als aufdringlich.

„Schnitt – und Szenenwechsel!“

Viel eher stört mich der Ablauf einiger Missionen, darunter freiwillige, in kleine Geschichten eingebettete Aufgaben. Denn manche wirken wie aus dem Ganzen gerissene Herausforderungen, denen die Substanz voll ausgearbeiteter Spielelemente fehlt. Mitunter wirbelt Kat nämlich nicht mit aller Kraft, sondern erledigt Botengänge oder darf von Wachen nicht gesehen werden. Ersteres bedeutet oft müßiges Suchen eines nicht markierten Ziels und Letzteres ein banales Vorbeilaufen, bei dem fast jeder vermeintlich clevere Umweg damit bestraft wird, dass Kat ohne Vorwarnung entdeckt wird.

Einerseits gefällt mir die Abwechslung, weil sie dem zweiten Gravity Rush Farbe verleiht: Es ist kein profanes Actionfeuerwerk, sondern ein umfassendes Abenteuer mit vielen einzigartigen Episoden. Wird Kats Handlungsfähigkeit eingeschränkt, verliert das Spiel jedoch an Schwung; das gelegentliche Katz-und-Maus passt einfach nicht zu der stürmischen Heldin und ihren brachialen Fähigkeiten. Abgesehen davon werden Missionen gerne von Comic- oder Filmszenen unterbrochen, bevor sich Kat plötzlich an einem anderen Ort befindet. In solchen Augenblicken fühle ich mich mehr aufgehalten als unterhalten.

Fazit

So lange die „Königin der Schwerkraft“ mit all ihren Fähigkeiten gegen die Nevi kämpft, läuft die luftige Action zur Hochform auf! Das Herumwirbeln und Zerschmettern macht spätestens dann großen Spaß, wenn Schwachstellen fantasievoller Tentakelwesen wie dickes Glas platzen. Nicht jede Mission nutzt die Stärken der grandiosen Bewegungsfreiheit voll aus, manche Einsätze wirken dank häufiger Ortswechsel wie bruchstückhafte Zusammenschnitte und weder Steuerung noch Kamera sind stets präzise. Trotzdem erlebt Kat ein erfreulich langes und abwechslungsreiches Abenteuer. Neue Fähigkeiten sowie das Anlegen seltener Talismane fördern dabei eine individuelle Spielweise, während das freie Schürfen nach Kristallen neben zahlreichen freiwilligen Aufgaben die spielerischen Möglichkeiten erweitert. Gravity Rush 2 verleiht der kleinen Serie vielleicht keine neue Dimension – gehört aber zu den faszinierendsten Abenteuern dieser Generation!

Pro

einzigartige Bewegungsfreiheit
viele Einsätze mit besonderen Herausforderungen...
zahlreiche Fähigkeiten und verschiedene Stellungen für unterschiedliche Taktiken
Individualisierung über kombinierbare Talismane
große Geschichte mit wechselnden Figurenkonstellationen und Schauplätzen
fantasievolle und farbenfrohe Kulissen
etliche Nebenaufgaben, Herausforderungen und Beschäftigungen abseits des roten Fadens

Kontra

bruchstückhafter Missionsverlauf mit vielen Unterbrechungen und geografischen Sprüngen Unterbrechungen
... die oft wie herausgerissene Elemente eines halben Spiels wirken
abrupte erzählerische Sprünge und Auflösungen statt gemächlicher Entwicklungen
starre Schleicheinsätze mit Trial&Error statt dynamischem Katz-und-Maus-Spiel
chaotische Kamera vor nahen Mauern
teils träge Steuerung

Wertung

PlayStation4

Fantasievolles Abenteuer mit einzigartiger Bewegungsfreiheit, aber kleinen spielerischen Schwächen.

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