What Remains of Edith Finch25.04.2017, Jörg Luibl
What Remains of Edith Finch

Im Test: Traurigschöne Familiengeschichte

"Our dream is to make the world a stranger, more interesting place." - Das ist das hehre Credo von Giant Sparrow. Mit The Unfinished Swan haben sie vor fünf Jahren ein ästhetisch und spielmechanisch überaus interessantes Adventure für PlayStation 3 veröffentlicht - nur konnte die surreale Rätselreise ihre erzählerische Leere nicht kaschieren. Jetzt legt das Team aus Santa Monica auf PC und PlayStation 4 ausgerechnet mit einem Erzählspiel nach. Im Adventure "What Remains of Edith Finch (ab 17,09€ bei GP_logo_black_rgb kaufen)?" erforscht man die ebenso mysteriöse wie morbide Vergangenheit seiner Familie. Ob das Storytelling-Experiment überzeugen kann, verrät der Test.

Edith im Wunderland

Langsam dreht Edith an dem Schloss, bis es mit einem Klicken aufspringt und ein weiterer Geheimgang sichtbar wird. Sie kriecht hinein und sieht zum ersten Mal das Zimmer ihrer verstorbenen Verwandten Barbara. Ihre Mutter hat es wie so viele andere Räume versiegelt und wie einen alten Schatz gehütet. Als würde sie eine fremde Welt erforschen, schaut sich Edith langsam in Egosicht um. In den Regalen, auf den Tischen und an den Wänden wird das Leben eines Teenagers sichtbar, der mal ein gefeierter Kinderstar war - in den Vitrinen glänzen noch die Pokale, das hübsche Kleid liegt auf dem Bügelbrett.

Die 17-jährige Edith Finch kehrt in das Haus ihrer Kindheit zurück. Was wird sie dort antreffen?

Aber warum ist Barbara 1960 mit 16 Jahren gestorben? Edith weiß nichts über ihren Tod. Und auch nichts über den Tod all der anderen Verwandten, die in diesem riesigen Anwesen mit seinen versteckten Zimmern starben. Sie weiß nur, dass sie die einzige Überlebende ist, die jetzt im Jahr 2010 in dem verlassenen Haus in der Nähe Washingtons nach Antworten sucht. Auf dem kleinen Schminktisch findet sie einen Gruselcomic aus dem Jahr 1951: "Dreadful Stories". Ein weißes Leuchten zeigt an, wenn man interagieren kann. Mit der L2-Taste schaue ich den Comic näher an, dessen Titel lautet: "Das überraschende Ende der Barbara Finch".

Vom Spiel zum Comic ins Spiel

Mit dem rechten Analogstick schlage ich die erste Seite auf und ein

Die Kulisse überzeugt mit ihrem realistischen Interieur und vielen Kleinigkeiten. Falls man interagieren kann, leuchtet ein weißer Punkt.

Kürbiskopfmonster beginnt zu sprechen. Es liest die Einleitung der Geschichte vor, in der Barbara ihre gefeierte Stimme aus Kindertagen verloren hat. Sie will sie zurück, schlüpft in die Opferrolle und der Regisseur fordert sie auf, den ganzen Terror in ihren Schrei zu legen. Plötzlich hört und schaut man nicht mehr nur zu, sondern kann aktiv in den Comicbildern spielen, schlüpft in Barbaras Haut, erkundet Räume und schlägt mit dem Baseballschläger auf Monster, während der Kürbiskopf das Horrorstück bis ins morbide Finale genüsslich weiter erzählt.

Als Edith den Comic beendet, bekommt sie eine schreckliche Ahnung vom Tod ihrer Verwandten. Und als Spieler erlebt man ein weiteres Mal, wie kreativ die Entwickler von Giant Sparrow ihre Geschichte erzählen, indem sie dynamisch zwischen passiver und aktiver Teilnahme wechseln, so dass man vom Zuhörer zum Teilnehmer wird. Entdeckungen in der Gegenwart, wie dieser Comic, gehen zu gespielten historischen Rückblicke und Minispielen über. Zwar schwanken diese stark in ihrer Qualität, es gibt keine anspruchsvollen Rätsel, sondern lediglich Fingerübungen und die Steuerung kann auch mal zicken. Außerdem hätte ich sehr gerne mehr Freiheiten in der Interaktion mit Gegenständen gehabt, denn man kann bis auf die angezeigten Interaktionspunkte leider nichts näher untersuchen, obwohl sich angesichts des verwinkelten Hauses mit seinen Geheimgängen vielleicht einige klassische Mechaniken à la Obduction angeboten hätten.

Eskapismus in der Fischfabrik

Mit der Zeit füllt sich die Familienchronik - der Stammbaum reicht zurück bis Odin Finch.

Aber hier wird auf eindrucksvolle Art demonstriert, welche narrative Kraft in diesem Medium steckt, wenn man die interaktiven Möglichkeiten des Spiels mit einer guten Geschichte verknüpft. So wird nicht nur aus einem Comic ein Tor in die Vergangenheit, sondern es gibt eine Vielzahl an Perspektivwechseln, die einem die Persönlichkeit und das Schicksal eines Verwandten näher bringen - diese reichen von realistisch über unheimlich bis surreal. Man erlebt Fotosessions, lässt Drachen steigen, schaukelt in den Himmel, zieht als Katze los, fliegt wie eine Eule oder klettert hinab in ein U-Boot. Nur wartet am Ende des scheinbar Trivialen immer auch das Morbide.

Oder man erträgt den Alltag in einer Fischfabrik, bis man mitten in der Routine der geköpften Lachse plötzlich ein Abenteuer spielt - aber Realität und Fiktion bleiben hier spielmechanisch verbunden, so dass man in seinem Traum nur dann Türen öffnet, wenn man den Lachs weiter enthauptet. Nein, das ist nicht besonders fordernd. Aber diese Szene gehört zu den genialen Momenten, in denen das Interaktive das Metaphorische nochmal verstärkt. So kann man sich gut mit den Tagträumen des Charakters identifizieren und seinen tragischen Eskapismus nachvollziehen. Und sie wird wie fast alle diese Kurzgeschichten auch unheimlich gut beendet, so dass man zurück in Ediths Haut weitere Zimmer durchforstet.

Die Familienchronik füllt sich

Warum hat Ediths Mutter manche Türen versiegelt?

Immer wenn man den mysteriösen Tod eines Verwandten nacherlebt hat, zeichnet Edith sein Gesicht in den Familienstammbaum - und der reicht zurück bis zu Odin Finch, der 1880 in Norwegen geboren wurde und 1936 zusammen mit seiner Frau Ingeborg nach Amerika auswanderte. Natürlich wurde der Name des einäugigen Gottes nicht umsonst gewählt. Die Story spielt auch mit Märchen und Folklore - vor allem die Art der Landung in Amerika erinnert an isländische Sagas. In den Regalen des riesigen Anwesens findet man neben Kochbüchern für Wikinger oder altnordischen Mythen aber auch modernere Schauerliteratur wie "Der König in Gelb" - schade ist, dass sich viele Buchtitel oft wiederholen.

Trotzdem muss man die Hingabe für Kleinigkeiten nochmal ausdrücklich loben. Es macht deshalb richtig Spaß, dieses Haus zu erkunden, weil nicht nur das Interieur und die Architektur so gemütlich und verschroben wirkt, sondern weil all die Bücher und Fotos aus der Vergangenheit eben auch zur Geschichte beitragen. Ähnlich wie in Dear Esther, das übrigens ebenso subtil zitiert wird wie The Unfinished Swan, begleitet einen dabei die (nur auf Englisch verfügbare) Stimme der 17-jährigen Edith, die sich immer noch über dieses Haus und vor allem ihre Mutter und Großmutter wundert. Freut euch nicht nur auf zauberhafte, unheimliche und überraschende Momente, sondern nach zwei bis drei intensiven Stunden auch auf ein ausgezeichnetes Ende, das mir zumindest eine Träne entlockte.

Fazit

What Remains of Edith Finch ist das beste Erzählspiel der letzten Jahre. Die magische Traurigkeit erinnert an Ray Bradbury, das morbide Flair an Tim Burton, viele Motive an Jules Verne und alte Sagen - dabei dreht sich alles um rätselhafte Tode in einem Haus, das man wie ein Entdecker à la Nemo erkundet. Die Entwickler demonstrieren auf eindrucksvolle Art, welche narrative Kraft in diesem Medium steckt, wenn man seine interaktiven Möglichkeiten mit einer guten Geschichte verwebt, wenn Entdeckungen in der Gegenwart in historische Rückblicke und Minispiele übergehen. Leider gibt es nur kleine Fingerübungen und keine anspruchsvollen Rätsel, aber die märchenhafte Erzählweise sorgt immer wieder für interaktive Überraschungen - man folgt in der Rolle einer 17-jährigen geheimen Wegen in die Vergangenheit der eigenen Familie, in der man ebenso surreale wie bewegende Kurzgeschichten aus der Perspektive der verstorbenen Verwandten erlebt. Nicht alle bieten dasselbe dramaturgische Niveau, es gibt mitunter kleine Steuerungstücken sowie Bildratenprobleme. Aber wer Storytelling-Experimente à la Dear Esther, Gone Home, The Vanishing of Ethan Carter oder Everybody's Gone to the Rapture mag, erlebt eine zauberhaft inszenierte Geschichte weitab von emotionalem Kitsch, aber dennoch unheimlich bewegend. Falls sich jemand fragt, ob zwei bis drei Stunden für ein Spiel nicht viel zur kurz sind: Nein. Vor allem nicht, wenn man am Ende eine Träne verdrücken muss.

Pro

ausgezeichnete, gut erzählte Geschichte
kreative Erzählweise geht in Interaktion über
Perspektivwechsel sorgen für Abwechslung
gelungene Thematisierung von Tod und Verlust
viele märchenhafte bis surreale Motive
bewegendes Finale
ansehnliche Kulisse und Landschaft
viel Hingabe für Kleinigkeiten im Interieur
stimmungsvolle englische Sprachausgabe
gut übersetzte deutsche Texte

Kontra

manchmal hakelige Steuerung
mitunter Bildratenprobleme
nur simple Interaktionen, kein Rätselanspruch
einige grafische Motive wiederholen sich
keine deutsche Sprachausgabe

Wertung

PlayStation4

Stellt euch vor, ihr findet einen Zauberwürfel mit in sich verdrehten Geschichten. Und ihr könnt ihn betreten, um dem labyrinthischen Schicksal einer Familiengeschichte zu folgen. Das ist Edith Finch.

PC

What Remains of Edith Finch ist ein sehr gutes Erzählspiel. Es demonstriert auf eindrucksvolle Art, welche narrative Kraft in diesem Medium steckt, wenn man seine interaktiven Möglichkeiten mit einer guten Geschichte verwebt.

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Kommentare

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TheoFleury

keine deutsche Sprachausgabe.

Tjo leider leider immer seltener. Schade, wird nicht gekauft.
Seltsam dachte bin einer der wenigen denen es auffällt...und das 2019...hmmmz

vor 5 Jahren
LaggyNET

Dank Epic Store konnte ich das Game auch mal spielen.

Und was soll ich sagen, begeistert hats mich nicht gerade.

Ich meine, es ist schön gemacht und die Story ist "gut". Aber nachdem das Spiel wirklich zu 100% von der Story lebt, hätte ich doch etwas mehr erwartet. Überraschungen oder Wendungen.

Zumal man am Ende nicht wirklich schlau draus wird, warum das nun alles so ist bzw. was dahinter steckt.

Klar, kann man das jetzt "feiern", wie herrlich nichtssagend, mysteriös und melancholisch alles doch sei, aber letzten Endes bleibt für mich doch der Endruck, dass das Spiel ziemlich substanzlos und durch das schöne Artdesign mehr "schein als sein" ist.

Ich hatte es ewig lange auf meiner Steam Wunschliste und bin ich nachhinein doch froh, es nicht gekauft zu haben. Ein wenig Skepsis hatte ich immer "was soll daran so toll sein? Ist die Story wirklich so gut" fragte ich mich.

Aber na ja, der Gedanke hat sich nun leider bestätigt. Die Story ist nett, das Artdesign schön, aber das wars dann aber auch. Kann man kaufen/spielen, muss man aber nicht.

Solche Spiele wie Firewatch oder auch ein Super Hot und selbst ein Pony Island konnten mich als "Indie Perlen" trotz kurzer Spielzeit deutlich mehr begeistern, weil sie einfach das gewisse Etwas hatten. Das Fehlt mir bei edith Finch irgendwie und das können neben der Story weder das Artdesign noch die hin und wieder netten mini-gameplayeinlagen ausgleichen.

Ich würde von der Wertung 10 Punkte abziehen. Es ist ein durchaus "gutes" Indie spiel. Ich wills auch nicht allzu schlecht reden. Aber in Anbetracht dessen, dass es hier nen Gold Award bekommen hat und von 4Players damals auch als eines der Spiele des Jahres gekürt wurde halte ich den Hype für maßlos übertrieben.

vor 5 Jahren