Kingdom Come: Deliverance09.06.2016, Jörg Luibl
Kingdom Come: Deliverance

Vorschau: Zeitreise ins Spätmittelalter

Wie steht es um Kingdom Come: Deliverance (ab 7,49€ bei GP_logo_black_rgb kaufen)? Das mittelalterliche Rollenspiel hatte im März die Betaphase erreicht. Statt wie geplant im Sommer wird es allerdings erst 2017 erscheinen, sowohl auf PC als auch PS4 und Xbox One. Das ist schade, aber angesichts der Ambitionen der Warhorse Studios, eine möglichst realistische Erfahrung anzubieten, eine weise Entscheidung. Welchen Eindruck wir bei der Zeitreise ins Jahr 1403 gewonnen haben, verrät die Vorschau.

Mord und Totschlag im Jahr 1403

Wer brandschatzt so skrupellos, dass selbst Pferde nicht verschont werden? Wer nagelt denn Leute an Türen? Sind es brutale Banditen? Oder diese eingefallenen Ungarn? Ich mache mich im Auftrag des Burgherrn Sir Robard auf die Suche. Der einzige Hinweis: Ein Kerl namens "Reeky" soll etwas damit zu tun haben. Kaum schließt sich das Fallgatter hinter mir, zeigt der Blick vor mir sanfte Hügel, idyllische Wälder und einen kleinen Bach - dieser Landstrich existiert genau so im heuten Tschechien. Mit Pferd, Schwert und vielen Fragen reite ich gemächlich den Hang hinunter nach Talmberg. Trotz der Egosicht erinnert das zunächst an einen Ausritt mit dem Hexer auf Plötze in The Witcher 3. Ich kann auch eine hübsch illustrierte regionale Karte öffnen und muss viele verborgene Orte erstmal entdecken. Die Ähnlichkeiten werden aber nicht all zu lange währen - nicht nur, weil die Farben dezenter ausfallen und keine Monster in Büschen lauern, sondern weil sich Kampf und Charakterentwicklung sehr stark unterscheiden und vor allem der Rhythmus hier wesentlich gemächlicher ist. Man hat fast das Gefühl, ein spazierendes Rollenspiel zu erleben.

In der Rolle des Schmiedesohns Heinrich soll man ein Verbrechen recherchieren. Man kann seinen Charakter über zig Fähigkeiten prägen.
Noch fehlt mir leider der wichtige Einstieg, so dass es schwer fällt, sich mit dem jungen Heinrich zu identifizieren - immerhin soll es in diesem Abenteuer auch um seine Heimat und seine Familie gehen, deren Mitglieder beim Einfall der Söldner von König Sigismund ermordet wurden. Man weiß eigentlich nur, dass man der einzige Überlebende und ein Schmiedesohn mit Rachegedanken ist. Außerdem hat man mittendrin natürlich kein Gefühl für die Lehnsverhältnisse in der Region. Wer übt hier welche Rechte aus? Wer ist wem verpflichtet? Diese gesellschaftlichen Zusammenhänge des 15. Jahrhunderts sind natürlich undurchsichtiger als der klare Gut-Böse-Kompass gewöhnlicher Fantasy. Daher folgt jetzt eine kurze Übersicht des politischen Status quo dieses Jahres 1403, damit ihr ein Gefühl für die Zeit bekommt.

Machtkonflikt zwischen Königen

Das Rollenspiel der Warhorse Studios entführt euch ins böhmische Spätmittelalter. Bei Erscheinen im Jahr 2017 wird das Spiel komplett auf Deutsch für PC, PS4 und Xbox One erhältlich sein.
Im Hintergrund des Rollenspiels tobt ein Machtkampf, der auf historischen Tatsachen des Spätmittelalters beruht. Der ungarische König Sigismund von Luxemburg (1368 - 1437), der übrigens den katholischen Drachenorden gründete, dem später ein gewisser Vlad II. Dracul (1395 - 1447) beitrat, fällt mit seinen Söldnern in Böhmen ein und nimmt seinen Halbbruder Wenzel (1363 - 1419) gefangen. Warum? Weil der nicht nur römisch-deutscher Kaiser, sondern auch gerade böhmischer König geworden ist. Dieser vierte Wenzel gilt unter Historikern als einer der schlechtesten deutschen Könige, ist als Tyrann, Paranoiker und Alkoholiker verschrien. Inwiefern wird man ihm oder seinem Bruder, der ja die Familie von Heinrich auf dem Gewissen hat, im Spiel begegnen?

Trutzige Burgen und idyllische Landschaften voller Wälder, Wiesen und Dörfer prägen die Kulisse.
Kein Wunder ist jedenfalls, dass dieser Wenzel auch bei den Einheimischen eher Abneigung hervorrief. Es ist zudem eine Zeit des aufkommenden nationalen Selbstbewusstseins unter den Böhmen und der militärischen Unruhen, die nicht nur mit dem Kampf gegen die Türken, sondern vor allem mit den religiösen Konflikten und Ketzervorwürfen unter Christen zu tun haben, die zu Mord, Hinrichtungen (Jan Hus wurde 1415 verbrannt) und Vertreibungen inklusive Kreuzzügen geführt haben - Stichwort: Katholiken gegen Hussiten. Die Warhorse Studios haben sich also eine überaus turbulente und spannende Epoche ausgesucht, in der Märtyrer, Nationalhelden wie Jan Zizka und sogar der Dracula-Mythos ihre Spuren hinterlassen haben. Es gibt theoretisch viele interessante und extreme Charaktere, die dramatische Entwicklungen versprechen. Innerhalb des beschaulich dahin fließenden Spiels der ersten Stunden konnte man davon - natürlich - noch nichts spüren. Ich bin sehr gespannt, wie sich die Regie entwickelt und welche historischen Motive und Personen sie enger mit dem Schicksal des Protagonisten verknüpft. In der Beta ist man zunächst als eine Art Detektiv in den Dörfern und Wäldern unterwegs, um Spuren dieses "Riechers" zu finden. Der Kerl muss eine markante Nase haben...

Gemächliches Mittelalter

Kaum erreicht man das erste Dorf, kann man den Alltag beobachten, der alles andere als turbulent, sondern eher verschlafen anmutet. Hier mal ein Angler, da mal ein Bauer, dort ein Reiter. Es fehlen lebendigere Szenen, spielende Kinder oder laufende Debatten. Ob das in späteren Siedlungen noch kommt? Schön ist: Leute tauchen nicht einfach irgendwo aus dem Nichts auf, sondern folgen ihrem Tagesablauf - man kann also jeden irgendwo finden, ohne dass Skripte ausgelöst werden müssen. Theoretisch könnte ich also den Gesuchten durch Zufall irgendwo im Wald treffen. Aber die Spielwelt ist so groß, dass man Hinweise über Gespräche sammeln sollte, die dann kleine Zielfähnchen auf der Karte

Die Bewohner sehen gut aus, allerdings lassen Mimik und Gestik manchmal zu wünschen übrig. Die Dialoge wirken noch recht steif.
erscheinen lassen. Selbst dieser Weg zum Ziel ist angenehm offen, denn man kann Reeky auf mehrere Arten ausfindig machen. Und nicht nur das: Je nach Spielart kommt es zu einer anderen Auflösung - wenn ich bei meiner Recherche mit dafür sorge, dass z.B. eine Farm letztlich niedergebrannt wird, wirkt sich das auch auf die Anzahl der späteren Feinde in einem großen Gefecht aus.

Es ist zwar beeindruckend, wie authentisch Warhorse die böhmische Landschaft mit der CryEngine abbildet: In der Beta sind knapp drei Quadratkilometer an Tälern, Dörfern und Wäldern erkundbar - die finale Spielwelt soll fünfmal so groß sein. Aber in den vielen Gesprächen mit den Dorfbewohnern lässt die Faszination merklich nach, nicht nur weil man kaum reges Leben beobachten kann. Obwohl die Gesichter inklusive Mimik ganz gut aussehen, werden die Szenen hinsichtlich der Gestik und Körpersprache einfach zu steif und auf Dauer zu ähnlich ausgespielt - im Vergleich zu den lebendigen Dialogen in The Witcher 3 wirkt das hier manchmal wie eine Art Laientheater. Selbst heikle Situationen werden so ihrer Brisanz sowie Emotionalität beraubt.

Fähigkeiten steigen mit Gebrauch

Auch auf dem Pferd ist man unterwegs. Manchmal begegnet man Reisenden wie diesem Bogenschützen. Jeder Bewohner hat einen festen Tagesablauf.
Gerade weil der Spielrhythmus so gemütlich ist, weil hier nicht alle Nase lang etwas Dramatisches passiert, sollten diese Gespräche natürlich kleine Höhepunkte sein. Diese Statik ist schade, denn unter der schauspielerischen Kulisse steckt ein durchaus interessantes kommunikatives System. Man gewinnt im Laufe des Spiels durch praktische Anwendung nicht nur körperliche, sondern auch rhetorische Fähigkeiten, indem man mit den Leuten spricht. So hat man in den Dialogen die Wahl, ob man jemanden überzeugt, umschmeichelt, besticht oder einschüchtert. Schön ist, dass die Erfolgschancen auch vom eigenen Aussehen abhängen: In voller Rüstung steigen die Chancen, dass man bedrohlich wirkt; im noblen Zwirn kann man besser beeindrucken.

Die Charakterentwicklung bietet aber nicht nur automatische Erhöhungen beim Aufstieg, sondern auch manuelle Freischaltungen für nahezu alle Fähigkeiten von der Alchemie über den Schwertkampf bis zur Reitkunst. Wer sich auf die Rhetorik spezialisieren oder bei Händlern gute Preise aushandeln will, kann z.B. "Trustworthy Middlesman", "Negotiator" oder "Final Offer" aktivieren.

Der böse Weg und Diebstahl

Auch Alchemie spielt eine Rolle, allerdings ohne Magie, sondern auf einer historischen Basis inklusive Kräuterkunde & Co.
Was ist eigentlich, wenn ich nicht der rechtschaffene Ermittler sein will? Theoretisch kann ich auch kriminell agieren und z.B. klauen oder die Leute beleidigen. Gestohlene Waren werden allerdings als solche markiert und man wird evtl. angezeigt oder gar direkt angegriffen - sehr schön. Allerdings waren die Reaktionen beim Betreten privater Gebäude noch sehr inkonsequent bis nicht existent, obwohl Warhorse in der Theorie ein gutes System anbieten will: Betritt man ein fremdes Haus tagsüber, soll man zwei mal gewarnt werden; betritt man es nachts, soll man sofort rausgeschmissen werden. Hier müssen die Entwickler noch nachbessern, so dass diese Auswirkungen auch konsequent stattfinden; oder dass Leute auf das gezückte Schwert in der Hand des Fremden reagieren.

Wer auf Diebestour geht, muss Schlösser übrigens in einem interessanten Minispiel mit seinem Dietrich knacken, indem er die neuralgischen Punkte findet und den linken sowie rechten Stick entsprechend rotiert - ein angenehm aktives System. Immerhin wirkt im Hintergrund jetzt schon ein Reputationssystem sowohl direkt als Beziehungswert zu einzelnen Leuten als auch zu einem Ort. Ich kann es mir also nicht nur mit dem einen Händler verscherzen, sondern auch mit der gesamten Bevölkerung. Das bedeutet, dass manche gar nicht mehr mit mir reden, Quests nicht auftauchen und ich schließlich ein gesuchter Krimineller bin - hier ist Kingdom Come deutlich fortschrittlicher als etwa The Witcher 3. Wenn ich hingegen Aufträge erledige, wächst mein Ansehen und im Alltag werde ich gegrüßt und freundlicher behandelt.

Authentischer Schwertkampf?

Gleich vorweg: Man zückt sein Schwert in Kingdom Come nicht mal ansatzweise so häufig wie in sonstigen Action-Rollenspielen. Das Kampfsystem wirkt zwar noch etwas steif, wenn man zum ersten Mal auf den Übungsplatz geht, aber verfolgt lobenswerte Ziele: Immerhin will man so nah an reale Gefechte wie möglich. Dafür werden die physischen Kollisionen zwischen Klingen und Rüstung bei der Ermittlung des Schadens ebenso einbezogen werden wie die Art der Attacke etwa über stumpfe, scharfe oder spitze Waffenteile. Wie läuft das genau ab? In Echtzeit über ein Zielsystem, symbolisiert durch einen fünfzackigen Stern.

Spuren der Verwüstung: Wer hat hier gebrandschatzt?
Mit dem Analogstick kann ich aktiv nach oben, links, rechts, unten links oder unten rechts anvisieren, während ich meinen fixierten Gegner umkreise und dann zuschlage oder zustoße bzw. -steche. Mit dem Schild kann man einfacher über Tastendruck blocken als z.B. mit einem Streitkolben. Aber wenn es einem gelingt, einen Schlag genau zur rechten Zeit zu parieren, dargestellt durch eine kurze Zeitlupenphase, bekommt man die Gelegenheit zu einer Riposte. Dieser Gegenschlag ist zwar nicht wie in Dark Souls tödlich, aber sorgt für deutlich mehr Schaden.

Kombinationen über die Charakterentwicklung

Was die Männer des Burgherren schon beherrschen, muss man erstmal lernen: Der Kampf mit Schwert und Schild.
Wenn man sich an das Zielsystem gewöhnt hat, entwickeln sich durchaus taktische Gefechte, die allerdings nicht immer so authentisch wirken wie sie sollten - zumal es noch einige Brüche im Ablauf gibt, so dass selten elegante Choreografien entstehen. Das kommt dem Hauen und Stechen des Spätmittelalters vielleicht näher, aber man darf nicht vergessen, dass es auch damals feste Rituale, Haltungen und Schritte für den Kampf Mann gegen Mann gab. Wer sich in der Charakterentwicklung auf den Kampf konzentriert, kann aber auch Kombinationen freischalten, so dass sich mehrstufige Manöver einleiten lassen. Zwar wirkt das in der Visualisierung nicht immer realistisch, wenn man mit dem Bidenhänder austeilt oder mit dem Langschwert auf einen Schild haut, aber deutlich authentischer als in den üblichen Arcade-Gefechten.

Leisetreter können übrigens von hinten angreifen: Man kann seine Opfer sowohl per Stealth-Kill sofort töten als auch bewusstlos schlagen. Man hat auch die Wahl, ob man z.B. ein Lager infiltriert und sabotiert. Wer sich schützen will, hat vom Kopf über den Körper bis hin zu den Beinen sechzehn Bereiche zur Verfügung, die sogar mit mehreren Lagen an Wolle, Leder oder Metall bedeckt werden können - eine gute Idee! Nicht nur Waffen und Rüstungen nutzen sich ab: Etwas Simulationsflair kommt auch durch Müdigkeit und Nahrung hinzu. Man muss also schlafen und essen, um fit zu bleiben. Und selbst das Obst kann schlecht werden oder vergiftet sein.

Ausblick

Kingdom Come: Deliverance ist eines der interessantesten kommenden Rollenspiele. Nicht nur, weil es auf Fantasyelemente wie Drachen, Elfen oder Magie verzichtet und sich um ein möglichst authentisches Bild des spätmittelalterlichen Böhmen bemüht. Sondern auch, weil es ein ganz anderes Tempo vermittelt als sonstige Triple-A-Produktionen: Man muss sich in aller Ruhe auf diese Spielwelt einlassen, kann seinen Charakter nach seinen Taten formen und freie Entscheidungen treffen. Dieses ruhige Spazieren und Recherchieren fühlte sich angenehm an, aber hat mich noch nicht begeistert. In der Betaphase zeigen sich auch einige Schwächen. Die Technik ist nicht mal das größte Problem: Wer auf höchsten Details spielt, muss selbst mit höchst potenter Hardware einige Abstriche machen, damit es flüssig läuft. Aber aus dem Entschleunigen darf kein Einschläfern werden: Wenn man genau hinsieht, vermisst man mehr Lebendigkeit in den Siedlungen, mehr Emotionen in den Reaktionen sowie in der Gestik und Mimik. Gerade weil so wenig passiert, achtet man umso mehr auf die wenigen brisanten Konflikte, die hier viel zu belanglos verpuffen - das darf nicht sein. Die Designziele sind ja auch hinsichtlich des Diebstahl- sowie des authentischen Kampfsystems sehr lobenswert, aber die Schwertduelle wirken noch etwas hölzern und die Bewohner reagieren oftmals unrealistisch, so dass manche dramatische Situation in sich zerfällt. Manchmal wirkt dieses Spiel wie ein idyllisches Stillleben, es fehlt noch mehr Feuer, Konsequenz und Abenteuer. Das mag etwas ungerecht klingen, denn die Dramaturgie konnte sich ja noch gar nicht entfalten, außerdem konnte ich viele spielmechanische Feinheiten noch nicht ausführlich testen. Es war angesichts der Ambitionen dennoch eine weise Entscheidung, die Veröffentlichung ins Jahr 2017 zu verschieben. Ich freue mich darauf, mal die ersten zehn Stunden am Stück zu erleben.

Einschätzung: gut

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