Im Test: Kinoreife Story in offener Welt
Gestandener Held
Insomniac verzichtet darauf, zum x-ten Mal die Ursprungsgeschichte von Spider-Man bzw. seinem zivilen Alter Ego Peter Parker zu erzählen. Stattdessen wird man mit einem nahtlosen Übergang von Zwischensequenz zum Spiel direkt ins Geschehen geworfen, in dem Spidey seit gut acht Jahren für Ordnung sorgt. Genauer gesagt: Man schwingt sich sehr intuitiv durch Manhattan, auf dem Weg zum ersten Ganoven, den man in Form von Wilson „Willy“ Fisk, besser bekannt als Kingpin, dingfest machen möchte. Der Kniff, auf die Ursprünge zu verzichten, hat hier positive Auswirkungen. Nicht nur, weil mittlerweile eigentlich jedem halbwegs interessierten Fan bekannt sein müsste, dass Peter von einer genetisch veränderten Spinne gebissen wurde und er sich bedingt durch den gewaltsamen Tod seines Onkels zum Verbrechensbekämpfer aufgeschwungen hat. Sondern vor allem auch, weil man dramaturgisch gleich Vollgas geben kann. Und das Tempo hält man über drei Akte und insgesamt gut 28 bis 35 Stunden (je nach Nebenaufgaben) bis zum spannenden Finale. Hier zahlt sich aus, dass Insomniac für die Erstellung der Figuren und Hauptgeschichte eng mit Marvel zusammengearbeitet hat. Kinoreif inszeniert sowie unterstützt von einem richtig guten Drehbuch und überzeugenden virtuellen Protagonisten, wird hier bei der Kerngeschichte eine Tour de Force abgefackelt, die inhaltlich keine Probleme hätte, sich in das aktuelle „Cinematic Universe“ einzusortieren.
Postkarten-Grüße aus Arkham City
Das Kampfsystem zeigt in Grundzügen sowohl die Wucht des Dunklen Ritters als auch die Dynamik mit ihrem gelungenen Kontersystem. Über nur wenige Tasten lassen sich sowohl eindrucksvolle Kombos abfackeln, wobei man die Gegner auch in die Luft befördern und sich mit seinen Spinnenfäden allerlei Modifikatoren für seine Attacken schaffen kann. Zusätzlich setzt Spider-Man auf einen verstärkten Fokus der Umgebungsinteraktion. Man kann sich seiner Kontrahenten z.B. entledigen, indem man sie an die Wand (s)pinnt. Und man kann über die Schultertasten z.B. Baugerüste auf die Gegner einstürzen lassen oder Autotüren, Gullideckel etc. zweckentfremden und sie auf die Feinde schleudern. Zusammen mit den Upgrade-Möglichkeiten, die man sich für seine Gagdets oder Erweiterungen besorgen kann, ergeben sich zahlreiche Optionen, die Feinde effektiv und visuell eindrucksvoll auszuschalten – bis hin zu Finishern, die man über die aufgeladene Fokus-Leiste aktivieren kann, um sich besonders gefährlicher Feinde schnellstmöglich zu entledigen. Dennoch lässt sich nicht verhindern, dass auf lange Sicht eine gewisse Routine Einzug hält. Zwar gibt es mit diversen Fraktionen, die ihre Schergen entsenden, nominell viel Abwechslung, während optionale Aufgaben in jedem Kampf eine bestimmte Herangehensweise belohnen. Doch bis auf wenige Ausnahmen setzen sich die Armeen aus den gleichen Prototypen zusammen, sprich: z.B. den normalen Schlägern, denen mit Schlagstock, Schild, den muskelbepackten „Brutes“ usw. Dadurch verlaufen die Gefechte irgendwann sehr ähnlich, da man sich für jeden Typus eine bestimmte Strategie zurechtgelegt hat. Das versucht man zwar meist erfolgreich durch eine entsprechende abwechslungsreiche Zusammenstellung der angreifenden Feinde aufzulockern, wobei natürlich die wenigen Fraktions-spezifischen Gegner wie z.B. die Sable-Agenten mit ihrem Raktenrucksack oder die Schwertkämpfer der „Dämonen“ immer wieder eine gern gesehene Ausnahme bilden. Dennoch hätte es nicht geschadet, wenn man innerhalb der Fraktionen häufiger auf unterschiedliche Kampftaktiken reagieren müsste.
Nicht wie Sam Fisher
Keine Selfie-Flut
Das gilt übrigens auch für die offene Welt. Visuell gibt es zwar nicht viel an ihr auszusetzen: Die Stadt wirkt mit ihren stark befahrenen Straßen und ihren Zivilisten sehr belebt – und das gilt auch für die Vertikale. Pausiert man z.B. beim Wandlauf, stellt man fest, dass sich in den Fenstern nicht nur die Umgebung formschön spiegelt, sondern auch der Blick durch Fenster in schick modellierte Zimmer ermöglicht wird. Zusätzlich kann man ebenfalls auf einigen Hochhausdächern Personen finden, die feiern oder sich in einem angeregten Gespräch befinden. Im Central Park flanieren Familien und scheinen vom Alltagsstress in New York City abzuschalten und der Times Square mit seinen mächtigen Lichtreklamen ist geschäftiger als ein Bienenstock. Der Avengers Tower ist ebenfalls einen Kletterausflug wert. Und mit den unterschiedlichen (vorgegebenen) Licht- und Wetterstimmungen (erst nach dem Abschließen der Story hat man die Option, die Tageszeit zu ändern) bekommt der Big Apple immer wieder einen neuen sehenswerten Anstrich verpasst, der mich über die gelegentlich bei schnellen Schwüngen in Bodennähe aufpoppenden Detailtexturen hinweg sehen lässt. Doch sobald man sich die Zivilisten genauer anschaut, kriegt der eigentlich sehr gute Eindruck erste Risse. Nicht nur, dass sie hinsichtlich des deutlich verringerten Detailgrades im Vergleich zu den Protagonisten aus einer anderen Welt zu kommen scheinen. Hier werden auch zunehmend Klone eingesetzt, die das Bild der lebendigen Stadt zwar nicht ausradieren, aber mit leichten Störstreifen versehen.
Fluch der offenen Welt
Bei den Aktivitäten wie dem Hacken von Polizei-Funkmasten, der Jagd auf entflohene Tauben, den Überwachungsstationen von Oscorp, die auf Umwelt-Missstände in New York hinweisen, dem „Einnehmen“ von gegnerischen Stützpunkten oder auch der allgemeinen Verbrechensbekämpfung verliert man sich nach anfänglicher Neugier und Motivation zumeist in Routine. Man wird der zumeist kleinen Aufgaben zwar nicht überdrüssig – auch, weil sie durchaus plausibel mit dem Spider-Man-Universum verknüpft sind wie z.B. die Logikrätsel, in denen man Schaltkreise optimiert oder im Spektograph Muster übereinander legt. Doch sie haben keinen großen Anteil daran, einen ans Pad zu fesseln. Dazu sind sie zu durchschnittlich designt oder als Variation von Elementen anderer Spiele mit offener Welt erkennbar. Neben der wuchtigen Story-Inszenierung als Hauptfokus hätten aber auch hochwertigere Nebenaktivitäten Probleme, sich zu etablieren. Denn nur die Präsentation der Geschichte war maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich mich über 30 Stunden lang mit Spidey durch New York geschwungen und dabei auch den immer wieder im Radio zu hörenden Hass-Tiraden von JJ Jameson gelauscht habe, die passenderweise immer dann eingespielt wurden, wenn es vorher zu Schlüsselmomenten kam. Eine kleine Randnotiz: Dass ich schließlich auf die englische Originalversion umgeschaltet habe, liegt an persönlichen Präferenzen und nicht an der Qualität. Die ist wie bei den letzten großen Sony-Produktionen à la Uncharted, Horizon oder God of War durch die Bank hochklassig – zumindest bei allen wesentlichen Sprechrollen. Bei den Passanten, Zivilisten und sonstigem Leben auf den Straßen New Yorks bleibt allerdings auch viel Englisch. Man sollte sich daher nicht wundern, wenn die Polizisten an der nächsten Absperrung die Bevölkerung mit „There is nothing to see here“ vom Unfallort fernhalten wollen oder man mit einem „You did it!“ gefeiert wird.
Anzugflut
Immerhin erfüllen die Nebenaufgaben und Aktivitäten auch noch einen zusätzlichen Zweck: Nur über sie kann man verschiedene Symbole akquirieren, die man wiederum benötigt, um die über 25 Spidey-Anzüge freizuschalten (darunter z.B. auch einer aus der Noir- oder der 2099-Zeitlinie), die Gadgets zu entwickeln oder aufzuwerten. Über die Sinnhaftigkeit der Anzugflut lässt sich allerdings streiten – auch wenn sie unterschiedliche aufzuladende Spezialfunktionen bieten, die nach erstmaligem Anlegen auch in anderen Anzügen eingesetzt werden dürfen und somit durchaus Auswirkungen auf das Spiel
Immerhin kann man auf diesem Weg auch abseits der drei Schwierigkeitsgrade, bei dem der mittlere einigermaßen erfahrene Spieler adäquat fordert (ein vierter soll mit einem Update zum Launch hinzugefügt werden), die Herausforderung leicht anpassen. Wer sich nicht auf die Sammelaufgaben einlässt, verpasst nicht nur die eine oder andere interessante Minigeschichte, sondern wird auch in späteren Abschnitten stärker in den Kämpfen gefordert, da einem unter Umständen wichtige Hilfsmittel fehlen. Und im Falle der Rucksäcke, die Peter im Laufe der letzten acht Jahre in der Stadt zurückgelassen hat, bekommt man sogar noch ein paar Erinnerungsstücke, die von ihm kommentiert werden und kleine Rückblicke in seine Vergangenheit präsentieren.
Fazit
Man kann eine Menge Spaß mit Spider-Man haben. Vor allem wenn man sich auf die klasse erzählte sowie kinoreif inszenierte Hauptgeschichte konzentriert, die Drama, Action und Intensität, dazu interessante Überraschungen und eine Spielzeit jenseits von 20 Stunden bietet. Die an Rocksteadys Batman erinnernde Kampfdynamik wird durch Spideys Netzfähigkeiten und die Umgebungsinteraktion aufgewertet, während das Schwingen durch New York City gleichermaßen intuitiv wie glaubhaft ist. Die Schleichelemente sind ein gelungener Tempowechsel, aber entweder oberflächlich und gelegentlich sogar von reinem Trial&Error geprägt. Die Stadt wirkt mit den prall gefüllten Straßen sowie den akkurat nachgebildeten Touristenattraktionen sehr lebendig, zumal Fans auch Avengers Tower oder das Sanctum Sanctorum finden können. Diese Lebendigkeit wirkt allerdings nur, solange man durch den Großstadtdschungel schwingt. Sobald man auf Tuchfühlung mit der Zivilbevölkerung geht, werden nicht nur die visuellen Diskrepanzen im Detailgrad von Hauptfiguren und den häufig geklonten New Yorkern deutlich, sondern fallen auch die nicht bis ins letzte übersetzten Ausrufe der Passanten auf, so dass es zu einem ständigen Deutsch-Englisch-Mix kommt – der angesichts der eigentlich hervorragenden Lokalisierung bedauerlich ist. Doch auch die Interaktion mit der Bevölkerung lässt viele Wünsche offen. Zu häufig reagiert sie gar nicht und ignoriert einen auch nach größten Heldentaten, so dass die paar gelungenen Reaktionen wie Tropfen auf dem heißen Stein der offenen Welt verdampfen. Und beim Rest bietet Insomniac nur selten mehr als gehobenen Standard mit Routine-Aktivtäten wie Freischalten von Türmen, Sammelobjekten oder der Stürmung gegnerischer Festungen. Immerhin wurden alle Erkundungsreize, Mini- oder Nebenmissionen gut mit dem Spidey-Universum verknüpft, so dass ein homogener Eindruck entsteht. Trotz aller Mankos in der häufig oberflächlichen offenen Welt sorgt die Kombination aus klasse Story, mitunter fantastischer Inszenierung sowie der unter dem Strich gelungenen Mechaniken in der Summe dafür, dass Spider-Man von Anfang bis Ende richtig gute Superhelden-Unterhaltung bietet.
Pro
Kontra
Wertung
PlayStation4
Man kann eine Menge Spaß mit Spider-Man haben. Vor allem, wenn man sich auf die klasse erzählte sowie kinoreif inszenierte Hauptgeschichte konzentriert.
Echtgeldtransaktionen
Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?
- Season Pass, dessen Inhalte keine bzw. nur minimale Auswirkungen auf das Spieldesign haben.
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