Und es hat Zoom gemacht...
"Das ist ja mal cool! Eine tolle Idee!" Wenn sich routinierte Brettspieler schon nach wenigen Minuten so freuen, dann muss am Tisch etwas Ungewöhnliches geschehen. Nein, es liegt nicht daran, dass sich gerade vier Agenten einer Zeitreisefirma in einer französischen Nervenheilanstalt des Jahres 1921 befinden. Für Freude sorgt auch nicht unbedingt, dass jeder von ihnen wie ein Geist in den Körper eines irren Patienten geschlüpft ist. Etwa in jenen von Madeleine du Tilleul, die unter Panikattacken leidet. Aber die frische Art und Weise wie man dort den Aufenthaltsraum erkundet, lässt eine interessante Art der Immersion sowie stimmungsvolle Erkundungsreize am Tisch entstehen. Man kann in T.I.M.E Stories bildlich in Szenen eintauchen - und das macht Spaß.
T.I.M.E Stories ist komplett auf Deutsch bei Asmodee erschienen. Es ist für zwei bis vier Spieler ausgelegt und kostet etwa 40 Euro.
Wie funktioniert das? Über das einfache Umdrehen von Karten: Bis zu fünf davon liegen nebeneinander wie ein Gemälde aus. Im Einstieg sieht man z.B. von links in der Nahaufnahme eine mürrische Aufseherin, dann drei skurrile Patienten in der Mitte sowie ganz rechts ein Bild über einem Klavier. Im Idealfall sitzen alle Mitspieler zusammen in einer Reihe vor dieser Auslage. Jeder lässt diese Bilder auf sich wirken, man berät sich und dann kann man einzeln oder mit mehreren Agenten eine dieser fünf Szenen untersuchen. Nur der oder die Besucher dürfen dann die Karte an sich nehmen, umdrehen und lesen: Wer sich der Aufseherin nähert, wird vielleicht eine Großaufnahme mit anderer Mimik beobachten, erst jetzt einen Gegenstand sehen oder in einen Dialog verwickelt - es gibt quasi einen Zoomeffekt.
Objekt, Gespräch, Rätsel oder Kampf?
Ihr sollt im Auftrag einer futuristischen Agentur diverse Zeitanomalien beheben, indem ihr vor Ort ermittelt. Das in der Grundbox vorhandene Szenario versetzt euch nach einem Tutorial im futuristischen Hauptquartier in eine französische Nervenheilanstalt des Jahres 1921.
Das macht neugierig und ist sehr spannend, denn manchmal zeigen Charaktere erst so ihr wahres Gesicht, man findet erst aus dieser Nähe ein nützliches Objekt wie eine Zeitung oder einen Schlüssel. Aber manchmal eskaliert die Situation auch und man wird vielleicht von einem Wut verzerrten Gesicht angeschrien oder gar in einen Kampf verwickelt. Zunächst sind die Spieler in dieser Situation "gefangen", erleben sie also intensiver und persönlicher, aber sie dürfen jederzeit miteinander über das Gesehene und Erlebte sprechen, um sich in der nächsten Runde vielleicht zu helfen. Was sollen die Agenten hier eigentlich finden? Das ist das große Geheimnis, dem man aufgrund der stimmungsvoll erzählten Geschichte gerne folgt. Stück für Stück ergeben die Gespräche und Konflikte mit den Patienten und Doktoren eine Spur. Zumal der Aufenthaltsraum auch nur einer von vielen in diesem Szenario ist - es gibt eine Küche, einen Schlafsaal, eine Krankenstation, eine Promenade etc. Zwar ist das Kartendeck ähnlich streng sortiert wie in
Pandemic Legacy, aber so modular aufgebaut, dass man die Räume frei erkunden kann - es gibt also keine vorgegebene Reihenfolge.
Der Clou: Man kann einzelne Teile einer Szene über einen Zoomeffekt genau erkunden, indem man die Karte an sich nimmt und umdreht.
Auch das Reisen der Gruppe sowie das Freischalten von Schauplätzen wird so anschaulich und dynamisch inszeniert, dass man sich an Videospiele erinnert fühlt: Ein Gruppenmarker auf einer Ortskarte oben links zeigt an, wo sich alle gerade befinden. Schön ist, dass auch diese Übersicht nicht statisch ist. Falls man im Laufe der Erkundungen z.B. Hinweise auf Katakomben, eine Gartenlaube oder ein Dachgeschoss, darf man die entsprechend aktualisierten Kartenteile oben auslegen. Das ist eine ebenso gute Idee wie jene, dass man bestimmte verschlossene Räume nicht nur über Schlüssel, sondern manchmal erst über das Erfüllen von Bedingungen betreten darf: Mal darf nur ein spezieller Charakter hinein, mal muss die ganze Gruppe ein bestimmtes Symbol erbeutet haben, das auf der Tür angezeigt wird.
Kooperatives Rollenspiel mit viel Kommunikation
Wer kooperative Abenteuer mit viel Kommunikation und taktischen Absprachen mag, wird sich hier sehr wohl fühlen, denn komische Andeutungen, verschlossene Räume und knifflige Gefechte laden zu Gesprächen ein. Auch Rollenspieler alter Schule kommen auf ihre Kosten, denn das Spiel lebt nicht nur davon, dass einleitende Texte wie von einem Meister vorgelesen werden. In seinem spielmechanischen Kern ist T.I.M.E Stories ein episches Rollenspiel à la
Villen des Wahnsinns.
Acht Charaktere stehen zur Auswahl. Wie in einem Rollenspiel hat man Lebenspunkte, Fähigkeiten und sammelt Gegenstände.
Jeder Agent verfügt je nach Wirt über unterschiedliche Fähigkeiten hinsichtlich Rhetorik, Geschick, Kampf & Co , aber auch Fehler wie etwa die Angst vor dem Alleinsein, ein Kriegstrauma oder Drogensucht sorgen für interessante Situationen - und genug Potenzial, um sich vielleicht schauspielerisch in seinen Wirt hineinzusteigern. Schön ist nicht nur, dass manche Talente exklusiv sind, so dass nicht jeder alles versuchen kann. Schön ist auch, dass es alternative Lösungen gibt: Man kann Kämpfe umgehen, wenn man die richtigen Gegenstände oder Charaktere dabei hat.
Aufgaben oder Kämpfe werden ansonsten gemeistert, indem man ganz klassisch Proben besteht und dafür Würfel wirft. Auch hier wirkt das Abenteuer aber angenehm frisch: Je nach Aufgabe oder Feind werden unterschiedlich viele Schilde ausgelegt, die man über gewürfelte Sterne "besiegen" muss, während Schädel für einen Gegenschlag oder Spezialsymbole für Abzüge sorgen - erst wenn alle Schilde vom Plan getilgt worden sind, hat man es geschafft. Das System ist recht einfach und die vorbildliche Anleitung gibt für alle erdenklichen Situationen genug Beispiele, so dass der Spielfluss auch innerhalb dieser Proben nicht zu lange stockt.