Rogue03.08.2016, Jörg Luibl
Rogue

Special: Die prozedurale Permatodwurzel

Woher kommt eigentlich einer der nervigsten Begriffe der Spielewelt? Dieses inflationär gebrauchte „Rogue-like“? Wer ist dafür verantwortlich, dass man diesen Anglizismus heutzutage als eine Art Gattungsbegriff für jedes zweite Abenteuer verwendet? Wir kennen den Täter natürlich schon lange, aber wollen ihn jetzt endlich mit einem Rückblick entlarven: EA? Béla Réthy? Diablo? Nein: Rogue.

Schwarzes Loch in der Pionierzeit

Es ist schon seltsam: Als wir in den 80er-Jahren wie verrückt nach Spielen für C-64 und Amiga waren, wuchsen ganze Berge an Disketten auf Schreibtischen. Egal ob nach der Schule oder am Wochenende – wir haben für das Zocken gelebt, alles Digitale von den Bitmap Brothers bis Microprose inhaliert und die Joysticks qualmen lassen. Das Beste haben wir in Rückblicken vermutlich schon vorgestellt. In unserer Rubrik „Klassiker“ findet ihr mittlerweile über hundert Spiele von The Last Ninja bis Defender of the Crown

…aber was fehlt? Rogue! Und warum? Es ist eine kaum zu erklärende Lücke. Tja, es gab wohl zu viele gute Spiele in der Pionierzeit. Aber wir müssen ehrlich sein: Niemand von uns hätte dieses seit 1980 an der Universität von Santa Cruz auf Unix-Systemen entwickelte und von AI Design Systems (Glen Wichmann, Michael Toy, Ken Arnold) 1984 auf IBM-PC sowie Mac veröffentlichte Rollenspiel in seine Top-20-Bestenliste gepackt. Erst 1988 erschien Rogue übrigens "kommerziell" für C-64, Atari, Amiga, ZX & Co.

Heutzutage taucht es überall als Pate auf,

Rogue wurde 1980 an der University of California in Santa Cruz entwickelt und 1984 auf IBM-PC veröffentlicht. Zig Versionen für alle Systeme folgten...
wenn es um neue Titel geht, in denen Inhalte prozedural erstellt werden und Charaktere dauerhaft sterben - der so genannte  Zufallsdungeon & Permadeath (noch so ein schlimmes Wort) lassen grüßen. Wenn wir über FTL: Faster Than Light oder Darkest Dungeon sprechen, ist das „Rogue-like“ nicht weit, obwohl man es bis vor ein paar Jahren noch kaum im Fachsprech benutzt hatte - ein prominentes Spiel wie Diablo kam noch komplett ohne diesen Stempel aus. Aber u.a. mit dem Aufkommen der Independent-Spiele ab 2010 wurde der Begriff immer populärer. Ganz einfach, weil sich viele Entwickler wie z.B. von The Binding of Isaac oder Spelunky auf die Tradition des Klassikers beriefen. Erst 2012 fühlten wir uns anglizistisch genötigt und präsentierten eine Bilderserie namens "Die Welt der Roguelikes", die Paul an den Rand der Verzweiflung brachte - im Rahmen der Recherche wollte der harte Hund natürlich alles durchspielen.

Artdesign im ASCII-Stil

Worum ging es also in diesem Spiel? Das sehr simple, u.a. vom Pen&Paper-Rollenspiel Dungeons&Dragons inspirierte, Fantasy-Abenteuer ließ einen in die Rolle eines Schurken (engl. „Rogue“) schlüpfen. In der Draufsicht erkundete man das „Dungeon of Doom“ in rundenbasierten Schritten, indem man übrigens nicht WASD, sondern HJUK für seine Bewegungen in vier Richtungen nutzte. Ziel war es, das „Amulett von Yendor“ auf der untersten Ebene zu bergen. Das Dungeon sah alles anderes als mystisch aus, sondern versprühte mit seinem spröden ASCII-Stil den Charme einer elektronischen Bauskizze, in der sich Buchstaben bewegen – dagegen wirkt Dwarf Fortress wie ein romantisches Gemälde. Der Vorteil der künstlerischen Beschränkung: Das sparte Rechenleistung. Der Nachteil: Ein Zombie war ein "Z", ein Drache ein "D" - man brauchte also viel Fantasie.

Eine Schönheit war es nicht, aber 1984 gab es immerhin Farbe: Das Spektakuläre musste man sich unter DOS auf einem IBM-PC dazudenken. Bildquelle: mobygames.
Aber das Besondere war: Bei jedem Spielstart bauten sich die maximal neun Räume einer Etage inklusive möglicher Tränke, Gegenstände und Schätze neu auf. Das war in den 80er-Jahren eine technisch überaus innovative Angelegenheit – nicht ohne Grund entstanden die ersten Prototypen des frühen Spiels im Umfeld von Informatikern des Silicon Valley. Damals dominierte auf den Bildschirmen ansonsten überall die wesentlich leichter kontrollierbare Linearität. Und natürlich lebte die Spannung unter Kumpels davon, dass jeder einen etwas anderen Dungeon durchstöberte und entsprechend anderes erlebte…

Immer tiefer in den Keller

Ähnlich wie in Legend of Grimrock oder Etrian Odyssey musste man sich dabei immer tiefer in das Gewölbe wagen. In den 26 Etagen lauerten auch immer gefährlichere alphanumerische Monster mit unterschiedlichen Angriffstypen. Ganz wichtig: Man musste nicht nur das Amulett bergen, sondern auch wieder lebendig hoch! Zwar konnte der Held klassisch an Gold, Waffen, Zaubern sowie Erfahrung gewinnen, aber falls er irgendwo weit unten im Verlies das Zeitliche segnete, musste man das komplette Spiel samt neuer Struktur starten. Eine Karte zeichnen? Unmöglich! Damit ist Rogue defintiv die prozedurale Permatodwurzel.

Aufgrund dieser - selbst für damalige Verhältnisse - mörderischen Schwierigkeiten verwundert es nicht, dass schlaue Programmierer sogar daran werkelten, das Spiel mathematisch zu besiegen: Schon 1984 stellten vier kanadische Wissenschaftler ihr „Rog-O-Matic “ vor: Dahinter verbarg sich u.a. eine Algorithmen-Sammlung, um die gefährliche Erkundung des Dungeons möglichst

Auf dem grafisch potenten Amiga verwandelte sich die Kulisse natürlich in eine farbenfrohe...jedenfalls fast. Und neben der rein alphanumerischen Darstellung kamen tatsächlich Icons und grafische Benutzeroberflächen hinzu. Bildquelle: mobygames.
optimal zu meistern. Hier ein köstlicher Auszug aus dem Ergebnis, das auch so manchen modernen Dark-Souls-Kämpfer an eigene Verhaltensweisen erinnern dürfte:

„The result is a system capable of performing exploration tasks while also fulfilling the goal of self-preservation. The system can function well in the face of uncertain dangers, make well considered fight or flight decisions, and retreat successfully when it faces overwhelming opposition.“

Auf dem Amiga 500 sah das Ganze (natürlich!) schon wesentlich farbenfroher aus als noch im reinen ASCII-Stil. Trotzdem lag in dieser Schlichtheit ja auch ein gewisser visueller Reiz. Die zunächst rein textuelle Benutzeroberfläche von Rogue wurde ständig erweitert, so dass letztlich auch grafische Elemente hinzu kamen. Außerdem inspirierte es recht früh weitere Varianten, nicht nur nahezu stilecht in Hack (1982) oder NetHack (1987), sondern auch im weitesten Sinne wie in Diablo (1996).

Sowohl der Grafikstil als auch das Genre feiern übrigens aktuell ihre x-te Auferstehung in Brut@l, das gerade für PlayStation 4 erschienen ist – wenn man so will ist das ein Rogue in 3D. Auch Spiele wie Necropolis, Darkest Dungeon & Co sind entfernte Verwandte.

Falls ihr mal in eine der vielen Varianten reinschnuppern wollt, empfehlen wir das relative werktreue ClassicRogue 2.5 für Windows oder Linux, das 2006 von Donnie Russel veröffentlich wurde. Ihr könnt Rogue allerdings auch in klassischer Variante von 1983 im Browser spielen. Und wenn man diesen unberechenbaren Urahn der tausend Tode heute startet, dann macht es plötzlich wieder Spaß...zumindest in der obersten Etage.

 
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