Half-Life 2 und die literarische Utopie18.02.2005, Jörg Luibl
Half-Life 2 und die literarische Utopie

Special:

Lost in Translation?

Half-Life 2 und die literarische Utopie

Ein Gastbeitrag von Dennis Ray Vollmer

Intro

Half-Life 2 (Valve, 2004) spielt in dem Szenario eines "idealen" totalitären Überwachungsstaats, in dem Menschen von Außerirdischen körperlich wie geistig versklavt sind. Seine Hauptfigur Gordon Freeman wird vom mysteriösen G-Man beauftragt, den rebellierenden Untergrund zu vereinen und gegen die Unterdrücker anzuführen. Apokalyptische Zukunftswelten wie diese sind genreunabhängig und recht beliebte Hintergrundgeschichten für storybasierte Computerszenarien wie u.a. "Deus Ex" (Eidos, 2000), "The Fall - Last Days of Gaia" (Silverstyle, 2004), "The Moment of Silence" (Digital Jesters, 2004). Ihre Nähe zur literarischen Utopie ist zunächst offensichtlich: Beide Formen "spielen" realitätsentlehnte, soziopolitische Modelle durch, die für den Leser/User zugleich verfremdet und vertraut erscheinen. Aus dieser Spannung zwischen Fremdheit und Vertrautheit der modellierten Welt bezieht der Zukunftsentwurf seine kritische Haltung. In Half-Life 2 etwa, schließt sich der Kritik an Totalitarismus und Überwachung auch die Frage nach der Definition des Menschen selbst an, etwa in Form der Evolutionstheorie der außerirdischen Combines sowie in den verschiedenen "Lebensformen" und "Halbwesen" zwischen Insekt, Cyborg, künstlicher Intelligenz und Zombie, denen Freeman begegnet.

Das Aufkommen von Utopien ist an sich schon bemerkenswert in Zeiten, in denen ökonomische wie gesellschaftliche Prognosen im alltagssprachlichen Sinne "utopisch", also unerfüllbar und wirklichkeitsfremd, erscheinen. Die Forschung hat die Verbindung zwischen großen sozialen wie wirtschaftlichen Krisen und dem Aufkommen utopischer Literatur immer wieder dargelegt. Erst recht wird es spannend, wenn den Zukunftsentwürfen mit computergestützter Physik, elaborierter Gestik und Mimik und sozialer Interaktion ein möglichst hoher Realismus verliehen werden soll.

Wenn in beiden Fällen, Literatur und Spiel, von "Spielen" die Rede ist, dann natürlich in provozierender Absicht, denn dies überschreitet die zum Teil verhärteten Grenzen zwischen Ludologen und Narratologen. Die im Folgenden dargelegten Parallelen zwischen literarischer Utopie und Half-Life 2 dienen somit einem Ausblick auf die brisante Frage nach dem Spiel in der Narration und der Narration im Spiel. Gehen Spiel und Erzählung zusammen oder sind sie frei nach Jesper Juul "lost in translation"?

Als Julian West auf seinem Sofa die Augen öffnet, blickt er auf einen fremden Mann in seinen Sechzigern, der sich über ihn beugt. Eine Frau und ein weiterer, ihm unbekannter Mann befinden sich

Die HL2-Geschichte in Zeitungsartikeln.
ebenfalls in dem Raum, in dem er sich soeben noch hingelegt hatte. Es ist Montag, der 30. September 2000 - Decoration Day - und Julian muss mit einiger Verwunderung feststellen, dass er exakt einhundertdreizehn Jahre, drei Monate und elf Tage geschlafen hat. Das "heutige" Boston ist eine wundersame und gleichzeitig vertraute Welt der Shopping Malls, des elektrischen Lichts, des Rundfunks und bargeldlosen Zahlungsverkehrs geworden. Ungewöhnlich ist daran nur, dass Edward Bellamy, Autor der fantastischen Erlebnisse des jungen Julian West, diese gesellschaftliche Entwicklung bereits 1887 niederschrieb. "Looking Backward: 2000-1887", so der Romantitel, ist eine amerikanische Utopie, die der realen wirtschaftlichen Krise und der beginnenden Industrialisierung Amerikas um 1900, ein ökonomisch florierendes, christlich sozialistisches Zukunftsmodell gegenüberstellt.

Wenn Gordon Freeman - Spielfigur des Action-Shooters Half-Life 2 - aus seinem Schlaf erwacht, wissen wir nicht, wie er in die Bahn gelangte, die ihn nach City 17 bringt. Soeben hatten wir ihn und den G-Man nach der Zerstörung des Black Mesa Labors in Half-Life 1 verlassen und befinden uns plötzlich inmitten eines totalitären Überwachungsstaats, in der Polizeiwillkür, Kameraobservierung, suggestive Bildschirmbotschaften und Lautsprecherdurchsagen an der Tagesordnung sind. Beide Übergänge, die Reise Gordons und der Umschlag der Welt in eine albtraumhafte Weltordnung, müssen wir allerdings erst zu rekonstruieren versuchen, so wie der Kanadier Chan Karunamuni, der die Half-Life-Saga in einer Zeitlinie zusammengefasst hat (http://fragfiles.org/~hlstory//timeline.htm ).

Ob Gordon aus einem künstlichen Tiefschlaf erwacht oder "nur" aus der Bewusstlosigkeit in Folge einer Teleportation - Half-Life 2 beginnt in jedem Fall geradezu typisch für die literarische Gattung der Utopie, wie sie gemeinhin mit Thomas Morus Roman "Utopia" (1516) gattungsbegrifflich begründet wird.

                     

Utopie: Der Nicht-Ort

Der utopische Raum ist wörtlich übersetzt ein "Nicht-Ort" (gr. ou = nicht, topos = Ort), ein künstliches Nirgendwo: Thomas Morus etwa, entwirft 1516 einen Idealstaat nach dem Vorbild der Platonischen "Politeia" auf der abgelegenen Insel Utopia, Swifts Gulliver (Gulliver's Travels, 1906) sucht u.a. Lilliput mit dem Schiff auf, Bellamys Julian West bereist die Zukunft im Schlaf, H.G. Wells' Zeitreisender benötigt dazu eine Zeitmaschine (The Time Machine, 1894), Callenbachs William Weston nimmt das Flugzeug (Ecotopia, 1975), Ursula LeGuins Shevek hingegen startet per Rakete (The Dispossessed, 1974) und Joanna Ross' Heldin Janet Evason (The female man, 1975) wechselt zwischen Parallelwelten. Gordon Freeman teleportiert innerhalb des Spiels mehrfach und manchmal vergehen - aus ungeklärten Gründen - Tage bis zur "Ankunft". Die genauen Bedingungen oder Ereignisse des Übergangs selbst werden in Utopien häufig verschwiegen und so ist der Besucher eines "Nicht-Ortes" stets gezwungen, die Distanz zwischen der bekannten physischen, politischen oder sozialen Realität und der utopischen nicht nur körperlich sondern ebenso geistig zu überwinden. Darko Survin (Survin, 1979) schlägt insgesamt vor, die literarische Utopie zu verstehen als "[verbale] Konstruktion einer konkreten quasi menschlichen Gemeinschaft, in der die sozialpolitischen Einrichtungen, Normen und persönliche Beziehungen nach einem vollkommeneren Prinzip geordnet sind als in der Gemeinschaft des Autors; diese basiert auf der Verfremdung, die sich aus einer alternativen historischen Hypothese ergibt." Es zeigt sich an dieser immer noch populären Definition die Nähe zum Science Fiction und auch die Problematik, Utopie von anderen literarischen Gattungen klar abzugrenzen. Auch lässt sich die Utopie in sich weiter differenzieren, zumindest in ihr negatives Gegenstück, der Dystopie, sowie in ihre Kritik, der Anti-Utopie. Ich möchte aber die Debatte hier nicht vertiefen, nur soviel sei vielleicht gesagt: Die Utopie hat sich stets sowohl unterschiedlicher literarischer wie auch medialer Formen bedient, sei es der Satire, feministischen Kritik, des Films und ist daher nicht notwendig auf die "verbale Konstruktion" begrenzt - warum also, sollten Utopien sich nicht der Simulationsmöglichkeiten des Computerspiels bedienen?

Life in the City

City 17, die Stadt in Half-Life 2 und wie der Name andeutet nur eine von vielen, ist so ein Nicht-Ort, allerdings als Negativ eines utopischen Entwurfs - als Dys-topie: eine nach außen abgeschottete, vom Krieg mit außerirdischen Besatzern zerstörte, europäische Stadt mit einer ebenso zerfallenden menschlichen Kultur. Das Ordnungsprinzip ist hier nicht Vollkommenheit, wie Survin als Kriterium anführt, sondern die Totalität eines Prinzips. Stabilisiert ist die Ordnung durch ein paranoides System der stetigen Scans und Identifikation, des Eindringens ins Private durch Razzien und Polizeigewalt, der Triebbeherrschung sowie der Gedankenkontrolle durch suggestive mediale Botschaften und Lautsprecher-Propaganda, wie sie nicht deutlicher an Orwells "1984" (Orwell, 1949) erinnern könnten. (Vgl. Elizabeth Sewell, "The Nonsense System in Lewis Carroll's Work and in Today's World", in: Edward Guiliano (ed.), Lewis Carroll Observed, New York 1976) Paranoia oder "Verfolgungswahn", darauf hat Raimar Zons im Zusammenhang mit neueren so genannten posthumanen Zukunftsszenarien in Filmen wie "Minority Report" und "Matrix" hingewiesen (Zons, 2004), basiert auf einer Verunsicherung des eigenen Weltbildes, hervorgerufen durch die Auflösung verbindlicher Weltdeutungen und Wertekategorien. Der Andere ist nicht, was er vorgibt zu sein - vielleicht ist mein

Die Evolution vom Affen bis zum Combine.
Nachbar ein bösartiges Alien? Im Fall von Half-Life 2 scheint es die Verunsicherung über die Natur und den Sinn menschlichen Lebens zu sein, die den paranoiden Gedanken beschäftigt: Menschen werden ihrer Freiheit beraubt, entindividualisiert und klassifiziert in Bürger, modifiziert zu Wachpersonal oder gleich rekombiniert als Stalker bzw. hochgezüchtete Übermenschen. Künstliche Intelligenz steht der biologischen Intelligenz gegenüber oder ist ihr gleichgestellt wie etwa im Fall von DOG, dem Roboter-Hund. Eine Evolutionsideologie verdeutlicht den Menschen als Zwischenschritt im Aufstieg vom Tierhaften zum Göttlichen. Der Menschheit selbst ist daher nicht nur per Triebunterdrückung die Subjektwerdung verwehrt - sexuelle Befreiung zieht immer auch den Ausdruck des Individuums nach sich -, sondern per Geburtenkontrolle sogar die Mitbestimmung der eigenen Zukunft als Spezies. So hält die Diktatur der Combines eine ganze Bandbreite albtraumhafter anthropologischer Kränkungen bereit, in dem sie verunsichern, was bisher als "menschlich" und "natürlich" verstanden wurde und damit selbstverständlich ihre eigene Agenda verfolgen.

Half-a-life

Während in der Stadt das technisierte Leben, die zweite Natur, regiert, scheinen die Außenbezirke, das Land und der Untergrund geradezu ein anarchisches Paradies des Verdrängten zu sein: schleimige Headcrabs, insektoide Ant-Lions, lebenshungrige Zombies - hier kämpft die unmodifizierte erste Natur gegen das "Unnatürliche" um ihr Überleben und markiert gleichzeitig - typisch für die Dystopie - die Wirkungsgrenzen des totalitären Apparates.

Allerhand Leben also, außerirdisches Leben, naturhaftes, "untotes" sowie simuliertes Leben hinter und vor den Stadttoren bilden ein verwirrendes, beängstigendes Netz. Wenn wir daher durch Gordon Freemans Augen sehen, sind wir nochmals gezwungen, in die chaotische Welt eine Differenz einzuführen, d.h. zwischen menschlichen Revolutionären, posthumanen Combines und anderem "Halb-Leben" zu unterscheiden. Und wir werden das Gefühl nicht los, dass Gordons Knarren sehr einfache, aber effektive "Differenzerzeuger" darstellen. Sehen wir uns als Spieler daher mit zwei paranoischen Systemen konfrontiert? Zumindest trägt Freeman Züge von Paranoia, denn wer er wirklich ist, verschweigt er wissentlich: "Scientists [in HL1] all act as if I [the player] know what to do and I can't tell them I am a complete ignoramus", sagt Half-Life Autor Marc Laidlaw über seinen Helden in einem Interview für Gamasutra ("Marc Laidlaw On Story And Narrative In Half-Life", in: Gamasutra, August 8, 2003)."

   

 "Tell me, Dr. Freeman, if you can, after destroying so much..."

Gordon Freeman ist nicht nur der letzte "freie Mensch", wie sein Name schon vorwegnimmt, sondern auch "frei" von der evolutionstheoretischen Propaganda der Combines. Im Spiel folgen wir seiner eigenen Evolution: vom archaischen Brecheisen zur industriell gefertigten Projektilwaffe bis zur Natur beherrschenden Gravitationskanone. Sammeln, kombinieren, upgraden ist jedoch nicht nur die Technik Freemans sondern auch der Combines - hier ist der Name ebenfalls "Programm" - und es ist darüber hinaus ein Entwicklungsprinzip, das Computerspiele selbst als Erfolgsrezept in sich tragen: Nur wer auf der Höhe der Aufstiegsmöglichkeiten bleibt, wird das Spiel bis zum Ende schaffen. Ist Freeman also in Wirklichkeit doch nicht frei? Ist er im Grunde wie die Combines? Wir bewegen uns nach wie vor im Wahn der Paranoia. Und so ist die unvermeidliche Konfrontation zwischen beiden konkurrierenden Parteien in der dunklen labyrinthartig Höhle der Zitadelle fast unerträglich spannend, denn eingesperrt in einem Transportkanister und ohne Differenz erzeugende Waffen ist es uns zunächst kaum möglich zwischen Aliens und menschlichen Arbeitern zu unterscheiden. Doch bevor auch für Gordon die Grenze zwischen ihm und den Fremden zusammenbricht, erlöst ihn die Ankunft in der Zentrale der Zitadelle mit einem Monitorbild der Combines, das sie wohl zum ersten Mal in ihrer

Combine im Visier.
"wahren" Gestalt zeigt. Ihre humanoide Form entpuppt sich als eine Maskierung, ohne sie sehen Combines wulstig und unförmig aus, wie Würmer. Selbst Gordons Widersacher und Unterstützer der Combines, Dr. Breen, lässt nun erkennen, wie sehr ihn die Vorstellung erschreckt, für seinen Gang durch das Portal seine eigene menschliche Gestalt aufgeben und in die fremde Form eines Combine schlüpfen zu müssen. Die anschließende Zerstörung des Portals ist letztlich nur noch Bestätigung des wieder hergestellten menschlichen Weltbildes - wenn die Szene des explodierenden Portals erstarrt und der G-Man erscheint, legt sich auch die Paranoia und Gordons Job ist getan.

Gordon erweist sich in vielerlei Hinsicht als geradezu stereotypischer "Held" der Dystopie: seine Perspektive ist die eines Außenseiters im System - der Name "Free-man" zeigt dies an - auf der Suche nach einem stabilen Identitätskern außerhalb der totalitären Ideologie. Trotz eines glücklichen Endes schließt "Half-Lifes" Zukunftsentwurf offen und ambivalent: Ein positives Gegenmodell wie etwa das aus der Stadt ausgeschlossene Naturhafte erscheint in traumhaft rosigen Sonnenuntergängen zwar idyllisch, aber nur, solange das Triebhafte, Ungezähmte oder Sublime nicht nach Gordons Leben dürstet. Vielleicht ist es auch schlicht das befreite "ganze" Leben, welches hier das utopische Gegenüber bilden soll?

Lost in Translation? - Schlussbemerkung

Die vergleichende Analyse Half-Lifes auf Grundlage von Literatur hat zumindest Verzahnungen von Spielszenarien mit Plot-Strukturen bekannter utopischer Literatur darlegen können. Wenngleich die Wiederherstellung einer menschlichen Ordnung und das so wieder eingeführte Gut-Böse Schema deutlich von den literarischen Vorlagen abweicht, bedient sich das Spiel inhaltlich versatzstückartig aus der Science Fiction und Utopie, nicht zuletzt schrieb Marc Laidlaw, Schriftsteller und Science Fiction-Autor, die Geschichte von Half-Life 2. Aber auch der nonlineare Aufbau von Half-Life sowie die Reihenfolge der Levels - vom Erwachen Freemans zur Konfrontation mit dem System, zum (möglichen) Gegenmodell bis zur scheinbaren Auflösung - folgen dem Erzählschema der literarischen Vorlagen. Gonzalo Frasca hat mit dem Begriff des Ludus diese Möglichkeiten der Übersetzung eines Plots in ein Programm dargelegt (Frasca, 1999), wobei Frasca darauf hinweist, dass ein Plot keine Erzählung sei. Man könnte ergänzen, dass auch ein Programm noch lange kein "Spiel" darstellt.

Im Hinblick auf die Simulation eines dystopischen Zukunftsentwurfs zeigt Half Life ebenfalls Stärken: So macht es die Methoden und Auswirkungen eines Überwachungsstaates spielerisch an der Hauptfigur - und mich allein durch Erzählen - erfahrbar und vermittelt Paranoia, das verunsichernde Gefühl von steter Verfolgung und Überwachung, sehr eindringlich.

In einigen Punkten stößt meine vergleichende Analyse jedoch auf Probleme der Übersetzbarkeit zwischen Literaturvorlage und Spiel von denen folgende am deutlichsten sind: Statt Charakterentwicklung haben wir Waffenarten und Upgrades, gegenüber der immer auch sprachlichen Selbstfindung des Protagonisten in der utopischen Literatur, haben wir geskriptete Dialoge und eine (ver-)schweigende Hauptfigur. Die wichtigen utopischen Aspekte der Auseinandersetzung und Erkenntnis sind während langer Phasen des Spiels auf die nonverbale, vorprogrammierte Interaktion mit bestimmten Objekten der Umwelt fokussiert oder polemisch formuliert: dem physikalisch korrekten Zerschießen, Zerbrechen oder Werfen von in der Hauptsache Kisten und Fässern. Dies wirft für einen Vergleich Probleme auf, die zwischen dem literarischen "Ziel" eines kritischen Bewusstseins und den "Goals" des Spiels bestehen. In diesem Punkt scheint mir Spiel und Narration auch am weitesten auseinander zu laufen: Eine verhältnismäßig einfache Interaktion sowie eine recht große Beweglichkeit und Wahl der Spielerposition zu den Objekten und Figuren - es ist immerhin eine dreidimensional simulierte Welt - bestimmt das Spielen, während die geskripteten Narrationssequenzen allein der Interpretation dienen, ohne letztlich viel zum Verlauf des Spiels beizutragen. Die Multiperspektivität verhindert allerdings eine dem Roman vergleichbare, einheitliche Sicht des Protagonisten. Die strenge Linearität von Half-Life kommt zudem weitestgehend ohne erzählende Dialoge aus und so ist der Spieler - wie einige aufgezeichnete Walkthroughs im Netz zeigen - bereits am nächsten Ausgang, ohne die Aufführung der Nicht-Spieler abwarten zu müssen. Damit gehen ein Teil der Atmosphäre, aber auch der möglichen Botschaft verloren.

Das Spielen scheint das Erzählen geradezu unübersetzbar auszuschließen, zumindest wenn man Ludologen folgt. Jesper Juul etwa sieht im Spiel einen inneren Konflikt zwischen dem zeitlichen "Jetzt", der spielerischen Interaktion und dem Vergangenen der Erzählung: "In an 'interactive story' game where the user watches video clips and occasionally makes choices, story time, narrative time, and reading/viewing time will move apart, but when the user can act, they must necessarily implode: it is impossible to influence something that has already happened. This means that you cannot have interactivity and narration at the same time." (Juul: Games Telling Stories?) Gerade dieser "Aktionsbremse" der Cut-Scenes wollte Half-Life jedoch mit seinen geskripteten "lebensechten" In-Game Erzählungen, die wie eine Aufführung wirken, gegenübertreten und die Erzählzeit einerseits der Spielzeit andererseits angleichen. Ob diese Methode der "Aufweichung" des Spiels hin zur Narration ein Zukunftsmodell sein wird, muss sich selbstverständlich zeigen.

Aber auch seitens der Literatur, wenden sich neuere Utopien, besonders die so genannten Anti-Utopien der 70er Jahre, dem Spiel mit der Narration zu. So verwendet etwa Joanna Ross in "The female man" die Cut-Up Technik, eine nonlineare Erzähltechnik sowie wechselnde Protagonisten und Ironisierung ihrer Stimmen, um dem Leser nicht nur interpretatorische Freiheiten zu geben, sondern auch seine Lesegewohnheiten aufzubrechen und ihn aktiv in Auseinandersetzung mit dem Text zu bringen. Auch dieses Einzelbeispiel hat freilich Grenzen und es kann sicher nur um eine Aufweichung gehen und nicht um ein Ineinssetzen. Half-Life 2 hingegen scheint nur an ganz wenigen Stellen ein komplexes Zeitschema aufzuweisen, obwohl dies eigentlich mit der für das Spiel zentralen Erfindung der räumlichen wie zeitlichen Teleportation angedeutet ist, etwa zu Beginn in den Montagen aus G-Man und den noch zu entdeckenden Transportbändern der Zitadelle, ebenso wenn Gordon und Alyx mit sieben Tagen Zeitverlust aus dem Nova Prospect Gefängnis teleportieren sowie in der "einfrierenden" Endszene.

Aber so einleuchtend die Differenzen hinsichtlich Zeitschemata, Interaktion, Linearität, Aktivität -

Neugierig auf eine Vertiefung des Themas? Die Kolumne ist nur lockerer Aufmacher des aktuellen Spielkulturthemas "Half-Life 2 & die literarische Utopie ":

Interview: Dennis Ray Vollmer Biografie: HL2-Autor im Überblick

Bilderserie: Von Orwell bis Valve

Porträt: Dennis Ray Vollmer Passivität zunächst oberflächlich erscheinen, so sehr verzahnen sich Spiel und Narration weiterhin und arbeiten an den Grenzen des jeweils anderen. Man könnte es auch abschließend mit G-Man formulieren: "Rather than offering you the illusion of free choice, I will take the liberty of choosing for you, if and when your time comes round again."

Zuletzt: Natürlich ist Half-Life 2 selbst eine Utopie, nicht nur, weil Exavior sich mittels Half-Life 2-Engine seine eigene Wohnung gebastelt hat (http://www.exavior.com/apt ). Die Versprechen, der nächste Schritt in Sachen Interaktivität, physikalischen Realismus, Fotorealismus sowie geskripteter Erzählung zu sein, ist selbstverständlich auch von der Spielgemeinschaft auf- und angenommen worden. Wir werden sehen, ob wir es wirklich mit einem zukunftstauglichen Modell zu tun haben.

           

Quellen

Links

http://fragfiles.org/~hlstory//timeline.htm

Chan Karunamunis ausführliche Darstellung der Half-Life Geschichte mit Hintergründen, Screenshots usw.

http://www.exavior.com/apt/

Exavior führt in mehreren kleinen Machima-Filmen durch seine virtuelle Wohnung

Literarische Utopien

Atwood, Margaret: The Handmaid's Tale, 1985.

Bellamy, Edward: Looking Backward: 2000-1887, 1887.

Bradbury, Ray: Fahrenheit 451, 1954.

Callenbach, Ernest: Ecotopia, 1975.

Huxley, Aldous: Brave New World, 1932.

LeGuin, Ursula K.: The Dispossessed, 1975.

Morus, Thomas: Utopia, 1516.

Orwell, George: Nineteen eighty-four, 1949.

Russ, Joanna: The female man, 1975.

Swift, Jonathan: Gulliver's Travels, 1726.

Wells, H.G.: The Time Machine, 1894.

Theorie

Carless, Simon: "Marc Laidlaw On Story And Narrative In Half-Life", in: Gamasutra, August 8, 2003.

Dietz, Frank: Kritische Träume - Ambivalenz in der amerikanischen Utopie nach 1945. Meitingen, 1987.

Frasca, Gonzalo: "Ludology meets Narratology: Similitude and differences between (video)games and narrative", im Internet: www.ludology.org, zuletzt besucht: 01.02.05.

Gilbert, Ron: "Cut-scenes: the cancer of the industry", im Internet: http://www.grumpygamer.com/4263789, zuletzt besucht: 01.02.05.

Juul, Jesper: "Telling Stories? A brief note on games and narratives", im Internet: http://www.gamestudies.org/0101/juul-gts/, zuletzt besucht: 01.02.05.

Kücklich, Julian: Mit herzlichem Dank für die sehr inspirierenden Hinweise und präzise Kritik.

Sewell, Elizabeth: "The Nonsense System in Lewis Carroll's Work and in Today's World", in: Edward Guiliano (ed.), Lewis Carroll Observed, New York 1976.

Suhrbaum, Ulrich; Broich, Ulrich; Borgmeier, Rainer: Science Fiction. Theorie und Geschichte. Themen und Typen. Form und Weltbild. Stuttgart, 1981.

Survin, Darko: Poetik der Science Fiction, 1979.

Zons, Raimar: "Blade Runner/Matrix. American Paranoia", Vortragsmanuskript zu "Utopische Körper", Berliner Schaubühne, 2001. Ebenfalls erschienen in Thomas Macho, Annette Wünschel (Hrsg.): Science and Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, 2004.

         

 
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