The Climb11.07.2016, Mathias Oertel
The Climb

Im Test: Cliffhanger ohne Spannungsmomente

Gefährliche Kletterpartien, umwerfende Panoramen und virtuelle Realität: Diese Elemente möchte Crytek mit dem exklusiv für Oculus Rift erhältlichen Abenteuer The Climb vereinen. Wir haben uns für den Test die Hände gekreidet, sind an Vorsprüngen entlang gehangelt und haben in Felsspalten und Schwindel erregenden Höhen nach Spielspaß gesucht.

Wie? Nicht Vive?

Sicher: Oculus Touch und damit die Bewegungsinteraktion, die man mit den Vive-Controllern der Konkurrenz erleben darf, kommt. Und damit dürfte The Climb definitiv eine andere Immersionsstufe erreichen. Denn wenn ich mir vorstelle, dass ich die zwei Hände, die stellvertretend für den Freikletterer auf dem Bildschirm zu sehen sind, tatsächlich authentisch bewege und zugreifen muss, wird die Vision hinter The Climb markanter. Doch bis dahin bleibt einem nichts anderes übrig, als die Hände über Kopfbewegungen bzw. die Blickrichtung zu lenken und mit den Schultertasten des Controllers zuzupacken. Natürlich wird dadurch das „Klettergefühl“ massiv reduziert. In diesen Momenten ist  The Climb nur ein simples Geschicklichkeitsspiel anstatt eine Klettererfahrung.

Das Gefühl, in der virtuellen Realität in gefährlicher Höhe zu baumeln, vermittelt The CLimb gut.
Aller Anfang ist leicht: An einer Übungswand lernt man, die Hände zu platzieren. Man bekommt Routine darin, sich von Vorsprung zu Vorsprung zu tasten. Auch die von Zeit zu Zeit nötigen Sprünge, die man durchführen muss, um entfernt liegende Felsspalten zu erreichen und sich daran festzuklammern, kann man hier weitgehend gefahrlos üben. Und man bekommt Informationen über ein wichtiges Element, das The Climb die dringend benötigte Tiefe verleiht: das Ausdauersystem. Je nach dem „Kreidezustand“ der Hände kann man sich länger festhalten. Zudem spielt der Abstand der Hände auch eine Rolle, wie viel Energie verbraucht wird. Während man mitunter auf verschiedenen Pfaden einen Weg nach oben sucht (der aber auch mal kurzzeitig nach unten führen kann), muss man immer wieder kurze Pausen einlegen, um nachzukreiden oder auszuruhen. Allerdings gibt es auch eine Mechanik, die das Ausdauersystem etwas aushebelt: Denn hält man die Analogtrigger in einer mittleren Position, für die es auch eine Anzeige gibt, wird ungeachtet des gerade gültigen Kreidezustands keine Energie abgezogen. Wer ruhig bleibt, könnte dementsprechend auch mehrere Minuten an einer Position verharren. Da ich nicht zur Fraktion der Freikletterer gehöre, kann ich nicht sagen, ob dies realistisch ist oder nicht. Was ich allerdings bemerke: Es tut dem Spiel nicht gut, da es ein gewisses Gefühl der Gefahr ausradiert.

Optimierungsbedarf

Ohne Oculus Touch steuert man die Hände jeweils über die Blickrichtung.
Des Weiteren hätte Crytek gut daran getan, alternativ oder sogar ergänzend zur „Handbewegung per Blickrichtung“ auch die Steuerung der Hände per jeweiligem Stick zu ermöglichen, bevor man mit den Schultertasten zugreift. Denn da man ohne Oculus Touch ohnehin abseits der Kulisse ein weitgehend konventionelles Spielerlebnis abliefert, hätte man auch die Kontrolloptionen traditioneller gestalten können.  Denn auch wenn man sich nur mit dem Neigen des Kopfes und gelegentlich dem Strecken des Oberkörpers für den nächsten Griff entscheidet, fühlt sich The Climb unter dem Strich kaum anders an als eine Ego-Version der Kletterpartien von Nathan Drake in Uncharted oder den verschiedenen Assassinen in Ubisofts Kostümdramen. Letztlich hangelt man sich nur an den von den Entwicklern vorgegebenen Kletterstrecken samt vorgegebener Alternativpfade entlang und ist meist nur mit der Suche nach dem nächsten Haltepunkt oder dem besten Sprungtiming beschäftigt. Eigene Strecken kann man ohnehin nicht legen und hat man einmal den Endpunkt des jeweiligen Abschnitts erreicht, gibt es nur noch den Anreiz, schneller nach oben zu klettern. Das jedoch aus zwei Gründen: Zum einen, um mit einer höheren Kombopunktzahl mehr Sterne zu erhalten, die wiederum akkumuliert neue Kletterkurse freischalten. Und zum anderen, um sich in der Weltrangliste nach oben zu kraxeln. Doch zumindest der zweite Punkt verfehlt bei mir seine Wirkung.

Denn ich klettere in The Climb nicht, um mich mit anderen zu messen, sondern um die Aussicht zu genießen, die mir Crytek hier in drei Gebieten Alpen, Bay (ein pazifisches Küstengebiet) sowie  Canyon (amerikanischer Mittelwesten, evtl. Arizona oder Colorado) auftischt. Und in dieser Hinsicht ziehen die Grafikspezialisten alle Register. Nicht nur, dass die Höhen im Headset gut vermittelt werden und bei mir als Akrophobiker durchaus Vertigo hervorrufen. Lichtstimmungen werden ebenso überzeugend aufgebaut, während die detaillierten Felswände immer wieder mit kleinen Überraschungen  wie Insekten aufwarten. Und lässt man sich Zeit und hat die Muße, sich immer wieder umzuschauen, kann man viele kleine Details in der weitläufigen Landschaft entdecken. Angefangen von Schmetterlingen, die einem vor dem Gesicht rumflattern über Adler, die ihre Kreise ziehen bis hin zu Helikoptern oder Wingsuit-Springern, die laut schreiend an einem vorbeizischen. In dieser Hinsicht zieht The Climb ein Spektakel sondergleichen auf, das wieder einmal die Stärken und Schwächen vieler Crytek-Spiele vor Augen führt: Während man schon verdammt lange suchen muss, um in der höchst ansehnlichen Kulisse mit ihren idyllischen Panoramen ein Haar in der Suppe zu finden, stößt man beim Spieldesign schnell an die unverrückbaren Grenzen. Okay: Gelegentlich kommt es zu Clipping-Problemen. Doch die sind leichter zu verdauen als die mitunter störrischen Hände, die sich in bestimmten, aber seltenen Situation partout nicht dazu bewegen lassen, die deutlich in Reichweite liegende Markierung zu greifen – hier wäre die Stickkontrolle eine probate Alternative gewesen, um den Frust zu minimieren.

Ergebnis-Kosmetik

Die Kulisse ist Crytek-typisch von allererster Güte und bietet schicke Lichteffekte sowie beeindruckende Panoramen.
Verzichten kann ich übrigens auf die verschiedenen Uhren, die mit „Yolo“, „Jumper“ oder anders beschrifteten Armbänder sowie die Halbfingerhandschuhe, die man als Belohnung für das Erreichen bestimmter Meilensteine erhält. Um das Spiel als solches zu unterstützen und ggf. auch bestimmte Spielweisen zu unterstützen, hätte man die Handbekleidung mit unterschiedlichen Eigenschaften versehen können. Das hätte ein schnelleres „Reinigen“ von Vorsprüngen sein können, auf denen Steine einen sicheren Halt behindern und erst runtergefegt werden müssen. Oder eine Unempfindlichkeit gegen die Dornenpflanzen, die einem später das Klettern erschweren. Auch ein größeres Reaktionsfenster bei den unter einem wegbröckelnden Felsformationen wäre denkbar gewesen. Stattdessen werden nur Farbe und Muster der Handschuhe geändert, auf die man die Hälfte des Spiels starrt.

In höherstufigen Abschnitten wird als zusätzlicher Schwierigkeitsgrad das Klettern bei Nacht eingeführt. Hier steuert man mit seiner Bewegung nicht nur die Ausrichtung des nächsten Griff-Versuchs, sondern auch eine Kopflampe. Das Auffinden der nächsten Haltepunkte wird dadurch zwar anspruchsvoller, das eigentliche Spiel jedoch nicht. Zwar trifft man häufiger auf Vorsprünge, die einen verletzen oder die von leichtem Geröll freigeräumt werden müssen. Doch unter dem Strich schafft es Crytek nicht, dem visuell ansprechenden Klettern einen markanten Spieldesign-Stempel aufzudrücken. Ich klettere nicht, weil mich das Spiel oder die Spielwelt fordert, sondern um meinen inneren Schweinehund zu überwinden. Und damit ist The Climb mehr Stress als Vergnügen – zumal durch die noch fehlende Oculus-Touch-Unterstützung ein wichtiger Immersionsfaktor fehlt.

Fazit

Natürlich muss man bedenken, dass mit Oculus Touch ein wichtiger Immersionsfaktor fehlt. Anstatt sich wirklich mit den Händen strecken zu müssen, gibt man mit der Kopfbewegung die Richtung vor und greift per Knopfdruck, wenn sicherer Halt in der Nähe der Finger ist. Doch wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, The Climb erst zum Start der später erscheinenden Hardware-Erweiterung für Oculus Rift zu veröffentlichen? Sicherlich hätte man dann vorerst auf eines der ansehnlichsten Spiele für Rift verzichten müssen, doch spielerisch wäre dies kein allzu großer Verlust gewesen. Denn so sehr The Climb mit seinen eindrucksvollen Panoramen, Lichtstimmungen und Detailverliebtheit in visueller Hinsicht überzeugt und Cryteks Vormachtstellung in diesem Bereich unterstreicht, so bieder ist die Mechanik - vor allem mit der halbherzigen Pad-Steuerung. Zwar führen in allen Abschnitten sich stets verzweigende Wege zur Gipfelplattform. Dennoch ist man an die vorgegebenen sowie über Kreidemarkierungen deutlich sichtbaren Wege gebunden. Das wiederum führt dazu, dass sich The Climb am ehesten wie eine Egosicht-Variante der Kletterpartien eines Nathan Drake oder die Kraxeleien zahlreicher Assassinen aus dem Hause Ubisoft anfühlt. Schick, aber mit Pad-Steuerung vollkommen belanglos.

Pro

sehr ansehnliche Kulisse
wunderschöne Panoramen
viel Bewegung in der Spielwelt
drei Schauplätze
freispielbare Ausrüstung
rudimentäres Ausdauersystem

Kontra

Ausrüstung nur kosmetischer Natur
redundante Kletterpartien
ohne Oculus Touch deutlich reduzierte Immersion
Pad nicht zur individuellen Kontrolle der Hände genutzt

Wertung

OculusRift

The Climb sieht fantastisch aus und unterstreicht Cryteks Kernkompetenz. Das Konzept klingt allerdings spannender als es ist und ohne Oculus Touch fehlt ein wichtiger Bestandteil der Immersion.

VirtualReality

The Climb sieht fantastisch aus und unterstreicht Cryteks Kernkompetenz. Das Konzept klingt allerdings spannender als es ist und ohne Oculus Touch fehlt ein wichtiger Bestandteil der Immersion.

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