TPCast01.12.2017, Jan Wöbbeking

Im Test: Kabellose Zukunft der Virtuellen Realität?

Endlich wird VR kabellos: Mit der frisch veröffentlichten Hardware-Erweiterung TPCast können Besitzer der HTC Vive frei übers Spielfeld spazieren, ohne sich wie ein angeleinter Hund zu fühlen. Ein ganz eigenes, freies Spielgefühl – das allerdings auch Schattenseiten besitzt. Wir haben uns das Kästchen für den Test auf den Kopf geschnallt, das Ende des Jahres übrigens auch für Oculus Rift erscheinen soll.

Freiheit fürs Headset!

Was für ein Unterschied: Endlich kann ich z.B. in Arcade Saga frei über unsere VR-Fläche flitzen. Ein Bogenschuss nach vorne – ein schnelle Drehung zu den hinteren Gegnern – und als ich in letzter Sekunde rechts neben mir ein Projektil erblicke, kann ich mich noch blitzschnell mit einem Ausweichschritt in Sicherheit bringen. Es ist schon erstaunlich, wie viel freier man sich beim Spiel mit der HTC Vive mit der Hardware-Erweiterung TPCast fühlt. Ähnlich euphorisch war fühlte ich mich zuletzt, als ich zum ersten Mal Roomscale-Tracking ausprobierte, und das kabellose Spiel ist definitiv ein weiterer Schritt in Richtung Immersion! Auch in The Invisible Hours bin ich viel intensiver in der Story versunken als im „verkabelten“ Zustand, während ich in Nikola Teslas Anwesen herumstöberte. Nur noch das Chaperone-Sicherheitsgitter an den Rändern des Spielfeldes erinnert einen zwischendurch an die reale Welt. Es ist fast wie mit einem mobilen Headset, nur dass man hier natürlich echte Premium-Spiele am PC bekommt – mit dem hochwertigen Lighthouse-Tracking der Vive.

Ein Blick auf die Box nach dem Öffnen.
Bevor man loslegen kann, steht allerdings erst einmal eine Investition von 349 Euro und der Aufbau von erstaunlich vielen beiliegenden Gerätschaften auf dem Programm. Günstig ist der Einstieg in die kabellose VR-Zukunft also nicht gerade. Dabei sollte man allerdings berücksichtigen, dass die Hardware auch bei klassischen HD-Video-Transmittern nicht gerade billig ist. Obwohl es das chinesische (und englisch vertonte) Präsentationsvideo kinderleicht aussehen lässt, dauerte es eine Weile, bis wir alles vorschriftsgemäß aufgebaut und eingerichtet hatten. Vor allem an den dicht gedrängten Anschlüssen unter der Frontklappe der Vive und an ihrem Kopfband wird es fummelig: Das leicht gebogene Empfänger-Kästchen sitzt nach dem Einstöpseln der passenden Kabel direkt auf dem Kopf und schwebt quasi mit sicherem Sitz über dem Headstrap. Um das Headset mit Strom zu versorgen, führt zudem ein Kabel zum beiliegenden fetten Akku (eine Power Bank „PowerCore 20100“ von Anker mit üppigen 20100 mAh und 4,8 A Output), der an einen kleinen Adapter gestöpselt wird und in eine große Hosentasche passt. Denkt daran, ihn auch dort vorm Spielen zu platzieren und nicht einfach loszulegen – sonst reißt ihr es am Kabel vom Tisch. Zur Sturz-Sicherung und Polsterung liegt übrigens ein dünnes Netz-Säckchen mit Kordel bei, das man über Akku und Adapter stülpt.

Mehr Hardware als gedacht

Am Rande des Spielfelds wird der restliche „Fuhrpark“ aufgebaut, der für die Übertragung notwendig wird. Dazu gehört natürlich die quadratische Sende-Einheit, die man am Rande in Richtung Spielfeld ausrichtet, damit die gebündelten Signale ihren Weg zum Spieler finden. Schade, dass der Hersteller (Beijing TPCast Technologies Limited Company) keine Montagemöglichkeit beilegt – daher kann man sie nicht direkt wie die Tracking-Würfel der Vive auf einem Schrank festschrauben. Der Sender soll nämlich etwas erhöht aufgestellt werden, z.B. in der Nähe der Vive-Tracker. Wir haben ein Kamera-Stativ auf die höchste Stufe geschraubt: An der Rückseite des Senders befindet sich ein genormtes Gewinde für die entsprechende Schnellspanner-Platte.

...und auf das Gerät in Aktion. Im Hintergrund sieht man die Sendeeinheit auf einem Stativ sowie den Router auf dem Schreibtisch.
Das Ende des Kabelstrangs, das vorher im Headset steckte, wird dann einfach mit dem Sender verbunden. Außerdem muss noch ein Router nebst mitgeliefertem Netzteil aufgebaut werden – und zwar ziemlich nah am PC, da nur ein kurzes Netzwerkkabel beiliegt. Wer keinen zweiten Netzwerkanschluss am Rechner hat, muss das Gerät also zwischen PC und internet-Router stöpseln, um weiterhin online zu bleiben. Nachdem das Gestöpsel gemeistert ist, muss nur noch die aktuelle Treiber-Software von der Herstellerseite geladen werden (getestet wurde mit Version 1.1.2) und es kann losgehen. Nachdem wir Windows noch einmal neu starteten, flutschte der Betrieb auf unserem VR-Rechner mit Windows 10 durchgehend sauber und problemlos. Zuerst muss allerdings immer die TPCast-Software gestartet werden und erst dann Steam VR.

Weitgehend flüssig

Der Sender (rechts oben) misst etwa 9,4 x 9,4 x 2,1 cm, der Empfänger (Mitte) 11 x 6,7 x 4,5 cm und der Akku (rechts unten) 16,8 x 6,1 x 2,2 cm (mit angestecktem Adapter ist er etwa 6,7 cm breit und 4,5 cm hoch).
Während des Betriebs machen sich nur kleine Unterschiede zur Kabel-Variante bemerkbar: Wenn man den Kopf schnell zur Seite bewegt, kommt es manchmal zu kleinen Rucklern, weil das Bild nicht schnell genug mitkommt. Auch wenn man die Vive-Controller vor den eigenen Augen wie einen Kicker-Stab schnell um die eigene Achse dreht, bemerkt man eine minimale Verzögerung. Der Unterschied bleibt allerdings derart klein, dass er im gewöhnlichen Betrieb nur bei schnellen Bewegungen auffällt. Auch mein Magengefühl wurde nicht beeinträchtigt - im Gegensatz zu manchen mobilen Headsets, bei denen ich sehr empfindlich auf kleine Bildverzögerungen reagiere. Laut Hersteller befindet sich die Latenz im Bereich von unter zwei Millisekunden. Meine Reaktionsschnelligkeit in Spielen litt nicht darunter: Im Musikspiel Audioshield etwa habe ich exakt und blitzschnell mit den Schlägern herumgefuchtelt, um die auf mich zufliegenden Noten in der Luft zu treffen. Auch im schmalen Tunnel von Arcade Saga erwischte ich die immer schneller werdenden Bälle wie ein Handballtorwart mit Reflexbewegungen – ganz so wie im „Kabelbetrieb“. Das nur leicht höhere Gewicht des Headsets ist mir nur zu Beginn aufgefallen. Im Gegenzug zieht einen der dicke Kabelstrang nicht mehr nach unten. Und durch den mittigen Sitz verteilt sich das Gewicht etwas weniger frontlastig auf dem Kopf.

Die Macht des Unterbewusstseins

Es gibt allerdings ein paar Faktoren, welche das kabellose Spiel mit TPCast auf Dauer weniger komfortabel machen: So erhitzt sich z.B. die Empfänger-Einheit. Nach etwa einer Viertelstunde wird es bereits ein wenig wärmer unter dem Kopfband und nach einer Dreiviertelstunde erinnerte das Gefühl bereits an ein aufgeheiztes Smartphone, auf dem man ähnlich lange ein grafisch aufwändiges Spiel gezockt hat. Man verbrennt sich noch nicht, unangenehm wird es aber trotzdem, so dass ich spätestens nach 45 Minuten eine Pause einlegte. Wer anders als ich keine Glatze hat, bemerkt den Effekt natürlich nicht so intensiv – ich habe meist zur Abschwächung irgendwann ein zusammengefaltetes Tuch zwischen Empfänger-Kästchen und Kopfband gesteckt. Auch der Akku in der Hosentasche erwärmt sich auf Dauer ziemlich stark – oder besser gesagt nicht der Akku selbst, sondern das schmale Adapterkästchen, an das man die Power-Bank mit zwei USB-Anschlüssen stöpselt.

Die Power-Bank und ihr Adapter im Fokus.
Ein weiterer Störfaktor ist psychologischer Natur: Laut momentanem Stand der Forschung geht man offenbar davon aus, dass die verwendete 60Ghz-Frequenz des Signals trotz hoher Datenrate (bei TPCast bis zu 2K) nicht die Gesundheit gefährdet, weil sie Haut und Knochen nicht durchdringen können soll. Auch der Hersteller bestätigte uns auf Nachfrage, dass sie harmlos sei. Die Hardware wurde passend dazu auch von den entsprechenden US- und EU-Behörden und vom TÜV Rheinland vorm Verkauf überprüft. Die Geräte geben beim Betrieb allerdings leise Piepstöne von sich. Wenn man die Hand nah vor das Sendekästchen hält, fühlt man sogar ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Unterbewusst bleibt also ein leicht mulmiges Gefühl, weil man ständig daran erinnert wird, in einem massiven Datenstrom zu stehen und direkt über dem Gehirn eine Empfänger zu tragen. Auch meine Kollegen waren erstaunlich skeptisch, wenn ich ihnen anbot, TPCast auszuprobieren. Die üppige Akkuleistung reicht für mehrere Stunden (offiziell bis zu fünf). Man sollte allerdings nicht vergessen, die Power-Bank über Nacht ans Ladegerät oder einen USB-3.0-Port zu hängen, da die Ladezeit bei 2 Ampere bis zu zehn Stunden hinziehen kann. Oder man besorgt sich einfach einen Ersatz-Akku für den schnellen Wechsel.

Die Konkurrenz schläft nicht

Man muss aufpassen, sich nicht zu verbrennen: Das rät zumindest die etwas ungünstig übersetzte Anleitung. Beim Hersteller scheint also durchaus ein Bewusstsein dafür zu bestehen, dass sich die Hardware auf Dauer unangenehm aufwärmt.
Auch diverse Konkurrenzunternehmen arbeiten momentan an Drahtlos-Lösungen für bislang stationäre VR-Headsets. Das prominenteste und am weitesten fortgeschrittene dürfte "DisplayLink XR" sein, welches das Gewicht seines Transmitters noch etwas weiter hinten am Kopf platziert – zudem befindet sich hier der Akku bereits im gleichen Kästchen statt in der Hosentasche. Im Gegensatz zu TPCast kommt kein WirelessHD, sondern den WiGig-Übertagungsstandard zum Einsatz. Damit soll auch duales 4k bei 120 Hertz möglich werden. Ähnlich wie bei der Konkurrenz dürfe allerdings nichts zwischen die Sichtlinie der Transmitter kommen. Wir hatten beim Betrieb von TPCast übrigens noch keine Probleme damit, dass Arme oder durchs Büro gehende Kollegen im Weg waren.

Fazit

Endlich kein störendes Kabel mehr: TPCast ist tatsächlich ein ähnlich großer Schritt in die Zukunft der Virtuellen Realität wie seinerzeit das Roomscale-Tracking-System von Valve bei der Vive! Es entsteht ein ganz neues, freies Spielgefühl, wenn man sich endlich keine Gedanken mehr darüber macht, nicht ins Kabel zu stolpern. Stattdessen schreitet man relativ entspannt und reaktionsschnell übers Spielfeld, startet in Sport- oder Musikspielen Rettungsschläge oder versinkt noch intensiver in raumfüllenden Adventures. Nur bei schnellen Bewegungen machen sich minimale Verzögerungen bemerkbar, meist läuft es aber erfreulich flüssig. Die neue Freiheit besitzt momentan aber noch Schattenseiten: Neben dem Anschaffungspreis und der etwas umständlichen Installation hat vor allem die Erwärmung der Komponenten unseren Enthusiasmus gebremst. Auch der psychologische Faktor ist dabei nicht zu unterschätzen: Obwohl die Frequenz gesundheitlich harmlos sein soll, sorgen Störfaktoren wie die Wärme oder das Hochton-Piepsen der Hardware unterbewusst für ein ungutes Gefühl. Ich bin also nicht allzu traurig darüber, nach dem Test wieder auf den Kabelbetrieb umzusteigen. Trotzdem ist TPCast ein wichtiger erster Schritt in Richtung kabellose Virtual Reality! Ich freue mich schon auf die zweite Generation der Headsets, wenn ähnliche Techniken hoffentlich schon zum Start eleganter und alltagstauglicher in die Systeme eingebaut werden.

Einschätzung: befriedigend

Wertung

HTCVive

Die kabellose Übertragung funktioniert gut und erschafft ein erfreulich freies Spielgefühl, doch Mankos beim Tragekomfort bremsen die Euphorie.

VirtualReality

Die kabellose Übertragung funktioniert gut und erschafft ein erfreulich freies Spielgefühl, doch Mankos beim Tragekomfort bremsen die Euphorie.

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