Im Test:
Der Winter naht
Eis, Schnee und Kälte: New York versinkt im weißen Pulver. Seit Tagen rieseln dicke Flocken vom Himmel, die Brooklyn-Bridge wurde aus Sicherheitsgründen gesperrt und in Manhattan misst man bereits minus 26 Grad. Das ist nicht nur bitter, sondern auch ungewöhnlich kalt. Das Seltsame ist aber nicht nur, dass die Temperaturen mit erschreckender Konstanz weiter fallen: unerklärliche Morde lassen auch die Stimmung in der Metropole gefrieren. Scheinbar willkürlich ausgesuchte Opfer werden mit teuflischer Präzision erstochen...
Fragen, Freiheit & Konflikte
Warum hat der Mann gemordet? Warum lief er wie ferngesteuert? Das sind die Fragen, die euch durch den Kopf gehen als ihr in seine Haut schlüpft. Ihr seid Lucas Kane und könnt das Ganze nicht fassen: Da liegt ein toter Mann. Da liegt ein Messer. Da ist überall Blut. Ihr seid der Mörder. Und während ihr die freie Wahl habt, wie ihr mit dieser Situation fertig werden wollt, sinkt euer grafisch dargestellter Stresspegel in depressive Regionen. Die Kamera zeigt derweil einen Polizisten, der an der Theke des Diners seinen Kaffee schlürft. Gleich wird er mal aufs Klo müssen&
Ihr könntet jetzt die Toilette verlassen und zur Hintertür raus. Das wäre die schnellste Lösung. Aber dann kreischt die Bedienung, weil ihr die Zeche prellt. Ist das sinnvoll? Sollte man nicht lieber das Blut wegwischen, den Mann in eine Kabine
Lust auf ein Probespiel im ersten Kapitel? Es lohnt sich:
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Lust auf Intro und Trailer? Die gibt's hier. hieven, sich waschen und so tun, als wäre nichts geschehen und brav bezahlen? Fahrenheit ist herrlich frei, herrlich konsequent: Alle Entscheidungen laufen wie im richtigen Leben unter Zeitdruck ab und haben Auswirkungen auf eure Psyche. Statt Hitpoints gibt es quasi Psipoints, die nicht stetig wachsen, sondern je nach Situation ab- oder zunehmen. Kommt ihr nach Hause und schaltet den Fernseher mit der Schlagzeile des Mordes ein, macht euch das so fertig, dass ihr 20 Prozent an seelischer Stabilität verliert. Verdeckt ihr ein blutiges Laken oder lasst verdächtige Kleidung verschwinden, baut euch das wieder auf. Das ist eine geniale Bereicherung für ein sonst so statisches Genre. Und das ist nur der Einstieg.
Labyrinth der Möglichkeiten
Ihr bewegt euch als Mensch mit Emotionen durch eine Spielwelt, die euch dermaßen deprimieren kann, dass der Charakter Selbstmord begeht. Aber das Schöne ist: Ihr habt immer die Wahl. Je nachdem, wie man sich innerhalb der einzelnen Kapitel entscheidet, sieht man ein anderes Ende. Und der Psychotrip lässt einen keine Sekunde los. Woran liegt das? An der Neugier und der herausragenden Regie. Die Story spielt wie ein Thriller herrlich lange mit Andeutungen und Hinweisen. Obwohl man immer mehr Teile des Puzzles aufdeckt, tappt man von all seinen ragen und Befürchtungen begleitet im knisternden Dunkeln. Der Plot verströmt sein Aroma wie ein guter Kaugummi - die Spannung steigt und zieht sich: Wer steckt hinter der ganzen Sache? Warum gibt es diese Morde?
Kopfnüsse & Rätsel
Es gibt wenig klassische Rätsel. Und echte Kopfnüsse darf man nicht erwarten. Zwar muss man mal Indizien verknüpfen, ein Buch über logisches Kombinieren aufspüren oder Archivschränke geschickt verschieben, aber das sind eher Seltenheiten. Das Einzige, was man von einer störrischen und teilweise unglücklich positionierten Kamera begleitet an Items aufspüren kann, sind Bonus-Medaillen, um Sounds, Artwork oder Filme freizuschalten. Und wenn es mal Verbandszeug oder Streichhölzer gibt, ist Fahrenheit genau so inkonsequent wie alte Point&Click-Spiele: Man kann Dinge erst dann aufnehmen, wenn sie vorher in einem entsprechenden Gespräch erwähnt worden sind - unlogisch. Andererseits: Ich hab den ganzen Benutze-Klebeband-mit-Besenstiel-Krams nicht wirklich vermisst. Es raubt dem Abenteuer nichts von seiner Wucht. Und hatten wir in den letzten Jahren nicht genug Schalter-, Verschiebe- und Kombinationsspielchen?
Vom Opfer zum Helden
Die Zeiten, in denen man mit der Maus in aller Ruhe einen Schauplatz absucht, sind in Fahrenheit vorbei. Es geht nicht um gemütliches Stöbern und selten um logisches Kombinieren, dafür um rasante Entscheidungen - sowohl körperlich als auch geistig. Eure Reflexe und Instinkte werden gefordert. Ihr müsst euch zum einen in zig Reaktionstests beweisen, die in ihrer Intensität und Masse die Quick-Time-Reactions (QTR) aus Shenmue oder Resident Evil 4 in den Schatten stellen: Auf zwei Viererscheiben blinkt es abwechselnd oder gleichzeitig mal rechts, links, oben oder unten. Ihr müsst die vorgegebene Position umgehend mit den Pfeiltasten und der Maus bzw. den Analogsticks nachahmen - eure Aktionen münden dann sofort in gelungene Ausweichmanöver bei Verfolgungsjagden oder knackige Karatekicks bei den zahlreichen Kampfszenen.
Die erinnern zwar mit ihren Rückwärtssalti und Luftwirblern eher an Jackie Chan-Artistik als realistische Martial Arts, wurden aber hervorragend choreographiert und musikalisch untermalt. Das geht so weit, dass man Matrix-ähnliche Wandläufe und schwebende Luftkämpfe à la Hero absolviert. Aus dem fast schüchternen und depressiven Lukas wird im Laufe des Spiels ein Held im Hongkong-Stil. Das mag angesichts des Einstiegs befremdend klingen, aber die Story bietet für diese vielleicht etwas zu steile Karriere ein ausreichendes Fundament. Ihr reist in Rückblenden in Lucas' Kindheit und lüftet dort in mehreren Schleicheinsätzen die Geheimnisse seiner mysteriösen Kraft.
Zu viel des Guten?
Auch wenn man diese unglückliche Dosierung kritisieren kann: Quantic Dream geht mit diesem Stilmittel den richtigen Weg, denn der Spieler wird aktiv ins Geschehen eingebunden. Wenn man schnell wegrennen oder gegen starken Wind ankämpfen muss, hämmert man à la Track-Field im Stakkato auf die Pfeiltasten. Arcade und Adventure gehen hier eine unterhaltsame Symbiose ein. Dabei kommt es nicht immer auf das Tempo eurer Finger an, sondern auch auf den Rhythmus: Als Carla bei Stromausfall durch eine Irrenanstalt geistert, muss man rechtzeitig still stehen und ihre Atmung über den richtigen Takt der Pfeiltasten ruhig halten - man erlebt die Situation unheimlich intensiv.
Regie vom Feinsten
Dass Fahrenheit diese Intensität so lange halten kann, liegt auch an der Regie, die z.B. an die Kultserie 24 erinnert: Die Art und Weise, wie Bilder, Szenen und Figuren von der Kamera miteinander verknüpft werden, ist beeindruckend. Räume werden à la Eternal Darkness gekippt, Gesichter plötzlich porennah herangezoomt. Und es gibt nichts Aufregenderes als den Einsatz zwei oder gar drei parallel laufender Szenen: Der Bildschirm wird plötzlich geteilt oder gedrittelt und man übernimmt zuerst die Kontrolle über Lucas, dann über seinen Bruder, während man sieht, wie ein Killer gerade die Kirche betritt: Schafft man es, den Bruder anzurufen und dann den Telefonhörer abzunehmen, bevor er erwischt wird? Diese Echtzeit-Collagen sind neben der Offenheit der Kapitel die große Stärke des Spiels.
Und man kann die Figuren wechseln: Auf Knopfdruck entscheidet ihr zu Beginn der Kapitel, manchmal aber auch mitten im Spiel, ob ihr in die Haut von Lucas, die der Polizistin Carla oder die ihres Assistenten Tyler schlüpft. Das sorgt nicht nur für eine erzählerische Zuspitzung, denn während der eine seine Spuren verwischen will, will die andere sie aufdecken, sondern sorgt auch für eine hohe Identifikation: Man kann auch die Gedanken jeder Figur in kleinen inneren Monologen aussprechen lassen, so dass man weiß, was Tyler z.B. über seine Vorgesetzte denkt oder was im Kopf von Lucas' Bruder vorgeht: Was denkt der Priester über seinen mordenden Bruder? Das verflixt Gemeine ist, dass man manchmal entweder nur in die einen oder anderen Gedanken reinhören kann - wer das komplette Bild will, muss das Spiel noch mal angehen. Und das Schöne ist, dass man richtig Lust dazu hat, alle Facetten der Story zu entdecken.
Spielzeit & Nachgeschmack
So gut die Story ist, es gibt zwei Kritikpunkte: Erstens ist man in knapp acht Stunden fertig - das ist wenig. Fahrenheit setzt gerade im letzten Drittel zu einem wilden Galopp voller Gefahren und Schicksalsentscheidungen an: Man atmet nach den letzten Tragödien und Bosskämpfen tief durch und ist erschrocken, dass man tatsächlich auch erzählerisch durch ist. Zweitens kann das Ende nicht voll und ganz befriedigen - ein leicht bitterer Nachgeschmack vom Weltverschwörungsaroma eines Deus Ex: Invisible War schwingt da plötzlich im Abspann mit. Nur wurde es dort langsamer und nachvollziehbarer aufgebaut; hier kommt alles recht abrupt und wirkt daher ein wenig konstruierter. Das Finale ist allerdings keine Enttäuschung, sondern weckt die Lust auf mehr Details sowie einen Nachfolger, der
Kulisse & Lokalisierung
Nach all den wichtigen kreativen Elementen noch ein paar Worte zur Technik, denn hier geht es um ein komplett dreidimensionales Abenteuer. Im Detail sieht Fahrenheit schwach aus: Egal ob man einen Werkzeugkasten öffnet, sich Statuen anschaut oder den Schrankinhalt inspiziert - fast immer sieht man einen schwammigen Pixelbrei, der im Zeitalter von Half-Life 2 befremdet. Und es ist trotz aller Offenheit samt Innen- und Außenarealen verdammt eng: Man kann seine Gegend selten weiter als ein, zwei Straßen erkunden, bevor man auf unsichtbare Mauern stößt; viele Türen bleiben geschlossen.
Aber diese Schwächen können den hervorragenden Eindruck der Kulisse nicht schmälern: Die verschneiten Straßen, die realistische Architektur, die authentisch ausgestalteten Räume und vor allem die unheimlich lebendig wirkenden Figuren sorgen für eine dichte Großstadtatmosphäre. Hinzu kommt die fantastische Musik: Die Main Themes von Lucas und Carla wurden von Angelo Badalamenti komponiert, der schon Twin Peaks ins akustische Zwielicht tauchte und hier
Das Meisterstück der Designer sind die Charaktere: Ich habe selten so glaubwürdig gestikulierende Menschen in einem Computerspiel gesehen. Die Figuren erreichen zwar nicht den plastischen Fotorealismus von Doom & Co und selbst die Lippen bleiben selten synchron, aber sie kämpfen, rennen und bewegen sich dank des Motion Capturings einfach lebendig und wurden unheimlich gut gestaltet. Das Gespräch mit dem Sergeant in der Schießbahn ist ein Paradebeispiel dafür, wie menschlich Polygonfiguren wirken können.
Dazu trägt natürlich auch die Stimme bei, die beim brummigen Sgt. mit seinem Schnauzbart wunderbar passt. Das ist leider nicht immer der Fall: Fahrenheit wurde komplett ins Deutsche übersetzt - die Lokalisierung ist insgesamt in Ordnung, allerdings kein Glanzstück wie man es z.B. von Adventures aus dem Hause dtp gewohnt ist. Zwar gibt es richtig gute und emotionale Sprecher, Polizistin Carla hört sich für mich sogar überzeugender an als ihr englisches Pendant, aber es mischen sich immer wieder störende bis deplatzierte Stimmen ein, wie z.B. Lucas' Vater.
Fazit
Endlich. Es ist da. Wie lange habe ich auf ein Abenteuer gewartet, das neue Wege geht. Auf eines, das die festgefahrene Point&Click-Starre verlässt und mich auf eine erwachsene Reise mit offenem Ausgang mitnimmt. Das Team von Quantic Dream präsentiert nicht nur eine sehr gute Story, glaubwürdige Charaktere und eine filmreife Regie, sondern auch ein vollkommen neues Spielerlebnis: das Auf und Ab der Emotionen und der Stress in Extremsituationen wird erstmals in aller Konsequenz simuliert - je nach Entscheidung warten Depression oder Glück, Selbstmord oder Sex auf euch. Aber der Spannungsbogen bricht in der Mitte etwas ein: Obwohl ich die Reaktionstests aufgrund ihrer Intensität liebe, wurden sie auf Kosten der kaum vorhandenen Rätsel etwas überstrapaziert. Und das Ende kommt nicht nur verdammt schnell, sondern wirkt auch erzählerisch etwas bemüht. Trotzdem: Viele Adventures sind einfach nur storybasierte Rätselansammlungen ohne Seele. Fahrenheit ist ein ebenso lebendiger wie dramatischer Psychotrip, der wegweisend sein kann. Es zeigt trotz einiger handwerklicher Schwächen die faszinierenden Möglichkeiten auf, die das Genre vor sich hat. Und es demonstriert überdeutlich, dass die Spielewelt in Sachen Story, Psychologie und Drama erst in den Kinderschuhen steckt. Ich will mehr davon!
Pro
Kontra
Wertung
XBox
PlayStation2
PC
Fahrenheit ist ein höchst dramatisches und erfrischend offenes Adventure. Es ist anders. Und vielleicht sogar wegweisend...
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