Assassin's Creed: Syndicate28.10.2015, Mathias Oertel
Assassin's Creed: Syndicate

Im Test: Bandenkriege und Zwillingsstreit

Die Attentäter sind wieder da. Dieses Jahr sind sie zu zweit und machen die englische Hauptstadt London zur Zeit der industriellen Revolution unsicher. Ob das Zwillingspaar Evie und Jacob Frye es schafft, an die glorreiche Assassin's-Creed-Zeit anzuknüpfen, die man seinerzeit mit Ezio Auditore erleben durfte, erfahrt ihr im Test.

Eine kurze Geschichte der Zeit

Gefühlt begleitet mich Assassin's Creed seit 15 oder 20 Jahren. Doch Ubisoft hat diese Goldgrube mit weit mehr als 75 Millionen verkauften Spielen erst 2007 vom Stapel laufen lassen. Seitdem habe ich mich jahrein, jahraus mit den Assassinen und ihrem Kampf gegen die Templer beschäftigt. Die Kreuzzüge, Italien zur Zeit der Renaissance, die amerikanische Unabhängigkeit, Piraten in der Karibik, die Französische Revolution: Seit acht Jahren hat es Ubisoft meist überzeugend geschafft, historisch verbürgte Ereignisse oder Figuren mit dem immerwährenden Konflikt zwischen Meuchelmördern und Tempelrittern zu verbinden. In den besten Momenten hatte man das Gefühl, dass sich Geschichte tatsächlich so zugetragen haben könnte. Man war Zeitzeuge, wie Leonardo Da Vinci seine wichtigsten Erfindungen machte. Man hat George Washington auf seinem Weg zur Präsidentschaft begleitet und ist mit Blackbeard auf Sauf- und Kapertour gegangen.

Im viktorianischen London begegnet man zahlreichen historischen Persönlichkeiten wie z.B. Alexander Graham Bell.
Zusammen mit einer stets auf Hochglanz polierten Kulisse, die die jeweiligen Städte mit ihrer detailgetreu dargestellten sowie beeindruckenden Architektur mehr zum Hauptdarsteller machte als die menschlichen Protagonisten, hatte ich viel Spaß in den Spielwelten der Assassinen. Natürlich musste ich auch immer wieder Kompromisse machen. Des Kletterns auf Schienen wurde ich schnell überdrüssig. Und auch die zwar Fortschritte machenden, aber unter dem Strich oberflächlichen Kampfsysteme konnte ich irgendwann akzeptieren. Das Erleben der Story, die mit lebendigen und zumeist glaubwürdigen Figuren gefüllt wurde, stand bei mir immer im Vordergrund - die Mechaniken waren da nur Mittel zum Zweck. Und sie haben trotz aller Kritik für gute, im Falle der Ezio-Trilogie in ihrer Gesamtheit sehr gute Unterhaltung sorgen können. Man kam in einen interessanten Flow und war zumindest ab und zu mal gefordert, während man eine geschickt konstruierte Geschichte erleben durfte. Und dann gab es ja noch die hoch interessante Gegenwart  rund um Desmond Miles und die so genannte Precursor-Rasse, die in der Serie auch als "Erste Zivilisation" bekannt ist. Nach Desmonds Ableben hat man zwar den erzählerischen Faden verloren und die Gegenwart zunehmend vernachlässigt bzw. mit Mechaniken ersetzt, die mir nicht immer geschmeckt haben. Doch man hat sich wenigstens bemüht, diese zwei Ebenen weiter parallel laufen zu lassen und hin und wieder sogar Schnittpunkte zu setzen.

Bekannte und Bekanntes

Ubisoft ist sich der Stärken der Serie bewusst, baut in Syndicate vieles von dem ein, was sich in Vorgänger-Episoden bewährt  hat und ergänzt es um frische Mechaniken. Wie schon zuvor setzt man dabei auf eine weltweite Kreativität: Die Studios in Montpellier oder Annecy sind ebenso involviert wie Reflections oder Ubi Monteal, wobei die Hauptverantwortung dieses Mal in Quebec liegt. Dementsprechend kann man sich auch beim Ausflug durch das London zur Zeit von Königin Viktoria, sprich: der Hochphase der industriellen Revolution, nicht nur an akkurat nachgebildeten Sehenswürdigkeiten wie Westminster samt Big Ben, dem Tower of London, Buckingham Palace oder der St.Pauls Cathedral erfreuen, die sich auf die erfreulich große Stadt verteilen. Man trifft auch auf zeitgenössische Berühmtheiten wie Alexander Graham Bell, Charles Dickens, Karl Marx oder Charles Darwin und bekommt sogar Aufgaben von ihnen. Wie gehabt trifft man auch auf andere verbürgte Zeitgenossen wie den damaligen Premierminister Benjamin Disraeli oder seinen Widersacher William Gladstone, mit dem er sich erbitterte Duelle im Kampf um Downing Street No. 10 geliefert hat. Und alle wurden nahtlos in die fiktive Geschichte eingebunden, die sich um die Zwillinge Evie und Jacob Frye dreht, die als Assassine nicht nur gegen die soziale Ungerechtigkeit im damaligen London antreten. Sie müssen sich auch gegen Gangs zur Wehr setzen, die in den einzelnen Bezirken das Sagen haben. Und selbstverständlich müssen sie einen

Crawford Starrick (m.) ist der charismatische Antagonist in einer erstaunlich schwachen Geschichte, die nur von der Dynamik der Frye-Geschwister getragen wird.
Obertempler zur Strecke bringen - in Syndicate wurde diese Rolle an Crawford Starrick vergeben, der mit seiner britischen Unterkühltheit einer der charismatischsten Bösen seit Rodrigo Borgia ist, der als Papst Alexander VI in die Geschichte einging.

Doch an dieser Stelle beginnen bereits die Probleme, die sich durch viele Bereiche in Syndicate ziehen. Nicht nur, dass abseits der geschwisterlichen Frotzeleien, die immer wieder für amüsante Dialoge sorgen, die Geschichte sehr oberflächlich und plakativ bleibt. Die meisten Figuren, denen man begegnet (Auftraggeber ausgenommen) werden meist nur als Mittel zum Zweck etabliert und irgendwann (spätestens mit dem Attentat durch die Frye-Geschwister) aus dem Spiel genommen. Und wo im ersten Teil der Ezio-Trilogie z.B. der historisch verbürgte Papst als Antagonist etabliert wurde, ist es hier stellvertretend für den kreativen Leerlauf eine fiktive Figur. Syndicate wirkt hier wie der x-te Ableger einer Filmserie, bei der nur die Feinde und Oberbosse ausgetauscht werden müssen. Es hat viel seines erzählerischen Charmes verloren. Zumal auch die von mir sehr geschätzte Erzählung um den Kampf von Assassinen und Templern in der Gegenwart stark an Qualität eingebüßt hat. Bar jeglicher Interaktion bekommt man eine Hand voll CG-Sequenzen vorgesetzt, die erzählen, wie es mit Shaun Hastings und Rebecca Crane weitergeht. Immerhin: Man nutzt hier Figuren, die man seit Assassin’s Creed 2 kennt. Doch wo von Teil 1 bis Revelations ein erzählerischer Bogen gespannt wurde, der nicht nur mit seiner geheimnisvollen Inszenierung neugierig machte und sich mit Themen wie Überwachung sowie Fremd- oder Selbstbestimmung beschäftigte, während man die Geschichte  nicht nur der Assassinen in der Vergangenheit, sondern auch die von Desmond Miles kennenlernen durfte, passiert hier nichts. Zumindest nichts, was mich berührt. Ja, ich habe mich in Black Flag aufgeregt, als die vierte Wand aufgemacht wurde und man in der Spielerrolle auf einmal bei Abstergo gearbeitet hat. Doch das war immer noch meilenweit besser als dieses oberflächliche, schwach inszenierte sowie in keiner Form emotional packende Standard-Agentengedöns.

Selbst ist die Frau

Doch zurück nach London. Nachdem bei Unity noch moniert wurde, dass man nicht mit einer weiblichen Figur spielen könne, zeigt Syndicate in dieser Hinsicht eine ganz andere Seite. Denn die nach Aveline (Liberation) zweite spielbare Frau Evie ist nicht nur eine fähige Assassinin. Sie wird nicht übersexualisiert, sondern ist ganz normal und kann ihrem Bruder mehr als nur Paroli bieten - sehr schön. Allerdings ist es im 21. Jahrhundert bedenklich, dass eine "normale" Darstellung der Frau im Spiel noch besonders erwähnt werden muss. Andererseits macht es sich Ubisoft auch sehr leicht. Denn spielerisch ändert sich mit Evie eigentlich nichts. In der Fähigkeitenliste, die für die jedes der Frye-Geschwister separat geführt wird, finden sich größtenteils identische Ausbaumöglichkeiten. Die dafür notwendigen Skillpunkte sind gleich, die Auswirkungen ebenso. Es gibt sowohl für Jacob als auch für Evie drei exklusive Fähigkeiten, doch die Ergebnisse sorgen nicht für spielerische Unterschiede - auch wenn man mit dem Fokus Kampf (Jacob) und Stealth (Evie) Entsprechendes suggeriert. Daher ist es zwar löblich, dass man bei vielen Missionen die Wahl hat, wen man begleitet. Noch schöner wäre es gewesen, wenn diese Wahl in einer mechanischen Variabilität münden würde. Doch die beiden laufen gleich schnell, sind ebenso behände beim Überqueren von Hindernissen und liegen auch beim Klettern oder dem noch schneller ablaufenden "Abwärts-Parcour" gleichauf. Sie können beide mit der gleichen Effektivität die neuen Kutschen lenken bzw. einnehmen oder den ebenfalls frischen mobilen Seilzug bedienen, der sie wie Batman in Gotham City in Sekundenschnelle in luftige Höhe zieht oder sie Häuserschluchten überqueren lässt.

Evie Frye wird als selbstbewusste Frau gezeichnet - sehr schön. Noch schöner wäre es allerdings, wenn es gravierende spielerische Unterschiede zu ihrem Zwillingsbruder Jacob geben würde.
Lässt man ihre für Zwillinge erstaunlich differierenden Charakterzüge beiseite, kann man die Unterschiede auf addierte oder subtrahierte Teile der Anatomie und angepasste Kleidung herunterbrechen. Denn auch wenn Evie einen eleganten Gehstock mit versteckter Klinge im Nahkampf bevorzugt und Jacob klassisch auf einen Schlagring setzt, spielen sich die beiden auch in den brachialen Auseinandersetzungen weitgehend identisch. Da das Kampfsystem dazu noch mechanisch einen Schritt zurück macht, ist dies umso bedauerlicher. Mit dem Fokus auf Faustkampf hat sich Ubisoft bei einem Titel umgeschaut, der 2009 zum ersten Mal mit seinem Kampfsystem für Furore gesorgt und dies in drei Fortsetzungen verfeinert hat: Rocksteadys Batman. Doch wie so vieles in Syndicate bleibt man hier abermals an der Oberfläche und zelebriert einen Buttonmasher sondergleichen, der nur noch wenig mit dem Vorbild gemeinsam hat, das durch taktischen Einsatz von Konter und Blockdurchdringen eine ganz spezielle Dynamik entwickelte. Wenn man einigermaßen geschickt die Fähigkeiten aufrüstet, kommt man etwa in der Mitte an einen Punkt, an dem man wild auf den Schlagknopf hämmernd ohne auf den Bildschirm zu schauen auch mittlere Gruppen erledigen kann. Erst gegen Ende, wenn die Gegner stärker werden sowie in den Fight-Club-Aktivitäten kommt so etwas wie Batman-Feeling in den Gefechten auf. Nur, dass in Arkham und Gotham  wesentlich dynamischer und schöner animiert gekämpft wird. Dafür wird die Brutalität der „händischen“ Auseinandersetzungen so intensiv inszeniert wie selten zuvor in der Serie. Vor allem bei Finishern erinnert Syndicate immer wieder an die Wucht der Kampfszenen in Guy Ritchies Sherlock Holmes mit Robert Downey Jr. und Jude Law. Allerdings wäre es noch eindrucksvoller, wenn die Kollisionsabfrage genauer wäre und die Assassinenklingen tatsächlich ins Fleisch oder in den Schädel eindringen würden, anstatt in der Luft neben dem Ohr oder dem Arm ausgefahren zu werden.

Kammerjäger gesucht

Doch diese Kollisionsabfragen sind nicht die einzigen technischen Probleme, die mir auf beiden Systemen in unterschiedlicher Frequenz und Intensität begegnet sind. Schon bei Unity haben sich die Stimmen gemehrt, dass die Qualitätssicherung unter dem Druck des Veröffentlichungstermines viele Bugs durchgelassen hat. Von denen sind mir damals beim Test nur sehr wenige begegnet. Hier hingegen geht es schon in der Anfangsphase mit Figuren los, die in Zwischensequenzen fehlen. Nicht nur irgendwelche Figuren. Nein, hier dreht es sich um Jacob und Evie. Die Kamera zeigt zwar dorthin, wo sie sich befinden müssten, doch gezeigt wird nur Leere – und ab und zu eine Waffe, die von Geisterhand durch die Kulisse bewegt wird. Kleinigkeiten wie die fehlende Anzeige der Hauptfigur auf der Minikarte oder NPCs, die

Klasse. Alle Figuren sind zu sehen. Das muss nicht immer der Fall sein. Bugs, bei denen z.B. die Charaktere in Zwischensequenzen fehlen, sind nicht selten.
auch durch „Anstuppsen“ nicht dazu bewegt werden können, ihren Endlosmarsch vor einer Mauer aufzugeben, sind zwar auch nicht schön, wirken sich aber immerhin nicht spielerisch aus. Ganz im Gegensatz zu dem unsichtbaren Gegner, der mich zwar angreifen und verletzen kann, gegen den ich aber keine Waffe zücken kann, weil Jacob oder Evie ihn nicht sehen.

Auch die nicht startenden Quest-Skripte sind ein Ärgernis. Ich soll einer Figur folgen. Ich folge ihr. Sie bleibt stehen, immer noch das „Folgen-Symbol“ über dem Kopf. Ich stehe neben ihr. Nichts passiert. Eine Minute. Zwei. Drei. Dreieinhalb. Ich werde des Wartens überdrüssig und starte vom letzten Kontrollpunkt neu – was insofern ärgerlich ist, da die initialen sowie nach jedem Scheitern nötigen Ladezeiten kein Pappenstiel sind. Aber egal. Ich folge der Figur wieder. Sie bleibt stehen. Ich stelle mich neben sie. Sie sagt etwas und die Mission kann weitergehen. Puh. Dass man hier keinen absoluten Gamebreakern begegnet, ist das eine. Dass dies leider keine Einzelfälle sind, ist das andere. Diese Schludrigkeit zeigt sich übrigens auch bei der Lokalisierung. Die Hauptfiguren sind klasse besetzt, werden hochprofessionell eingesprochen und sorgen wie in den letzten Jahren vom Start weg für viel Atmosphäre – auch wenn in manchen Szenen so wenig auf Lippensynchronität geachtet wurde wie selten zuvor in der Serie. Die Besetzung der Nebencharaktere, NPCs und Zivilisten geht ebenfalls in Ordnung. Und wo liegt dann das Problem? Ganz einfach: Die deutsche Lokalisierung ist unvollständig. Stellt man sich auf die Straßen, dringt aus der der einen Ecke Deutsch ans Ohr, aus der anderen Englisch. Ich glaube, Syndicate ist dadurch wider Willen das erste wirklich multilinguale Spiel.

KI-Probleme und der Wunsch nach mehr

Dass angesichts der unzureichend arbeitenden Qualitätssicherung auch die KI-Routinen nur selten zur Zufriedenheit arbeiten und häufig nicht einmal an eigentlich von Vorgängern gesetzte Standards heranreichen, ist dann schon fast zwangsläufig. Gegner, die sich durch die superschnelle Flucht per Seil auf die Dächer verwirren lassen, kann ich noch akzeptieren. Doch wenn ich drei leicht versetzt hintereinander gehende Feinde einen nach dem anderen im Schleichmodus ausschalten kann, wird deutlich, dass das Anforderungsprofil in Syndicate im Vergleich zu den Vorgängern nochmals ein neues Niedrigniveau erreicht hat. Dabei geht es auch anders: Die Templerattentate bieten nicht nur verschiedene, meist mehrstufige Herangehensweisen, um sich seinem Ziel zu nähern. Hier wurde bei der Qualitätssicherung auch vermehrt darauf geachtet, dass die Spieler ein spannendes Erlebnis bekommen. Exemplarisch dafür möchte ich eine Mission im Tower of London erwähnen. Die KI reagiert schon bei dem leichtesten Verdacht. Man muss die neuen Fortbewegungsoptionen wie das noch leichter von der Hand gehende Auf- oder Abwärtsklettern nutzen - wobei sich hier allgemein erfreulicherweise deutlich seltener das berüchtigte Serien-Phänomen zeigt und man an irgendwelchen Vorsprüngen oder Mauern hoch oder runterklettert, die man eigentlich nicht auf dem Zettel hatte. Dazu wird die Geschichte situativ ebenso spannend wie plausibel erzählt. Und wenn man dann am Seil gleitend ein Attentat verübt, während man ein paar andere Wachen mit einem Halluzinogenpfeil aufeinander losgehen lässt und man in letzter Sekunde aus dem Blickfeld der sich nähernden Wache gerät, fühlt sich Syndicate nicht nur gut an. Auch die Aufgaben, in denen man unter einem knappen Zeitlimit stehend von Missionsziel zu Missionsziel hetzt oder als Bodyguard Sniper ausschalten muss, bevor sie einen tödlichen Schuss abgeben, sorgen für Spannung

Vereinzelt machen die abwechslungsreichen Missionen ebenso viel Spaß wie zu Ezios Zeiten - doch das passiert leider viel zu selten.
In diesen Momenten hatte ich wieder so viel Spaß am Meucheln wie früher. Unterstützt von neuen Fähigkeiten, neuen Gagdets und einer verbesserten, aber immer noch nicht optimalen Schleichmechanik kann es zu einer sehr unterhaltsamen Dynamik kommen. Kann es. Aber es passiert zu selten. Überhaupt wirkt Syndicate wie ein ambitionierter, aber unüberlegter Schnellschuss. An allen Ecken und Enden fühle ich, in welche Richtung man gehen wollte. Und die eingeschlagene Richtung ist gut – teilweise sogar sehr gut. Aber ich werde auch immer wieder von Ungereimtheiten aufgehalten, die dafür sorgen, dass Syndicate mich nicht mehr so in seinen Bann ziehen kann wie andere Episoden – sogar Unity konnte mich vor allem dank der Story mehr fesseln. Hier ist die Geschichte bis zum Finale zwar ordentlich erzählt, aber sie wirkt wie aus der Retorte, gefüllt mit Abziehbild-Figuren, die in einer anderen Zeit auch in einer Expendables-Fortsetzung, einem weiteren Effektoverkill von Michael Bay oder einer anderen austauschbaren Hollywood-Produktion Platz finden könnten. Evie und Jacob sind zweifellos interessant und definitiv charismatischer als es Connor in Assassin’s Creed 3 war. Aber sie sind allein auf weiter Flur.

Opulent, aber lieblos

Denn auch London als Kulisse kann nicht mehr so faszinieren, wie es frühere Städte und auch letztes Jahr noch Paris geschafft haben. Zwar ist die Metropole größer als alle bisherigen Siedlungen, die man besuchen durfte. Aber sie scheint auch nicht mehr so poliert zu sein wie in den anderen Serienteilen. Und sie wirkt in etwa so leer wie die Schleswiger Einkaufszone an einem verregneten Sonntag. Wir reden hier vom Ende des 19. Jahrhunderts – der Hochphase der industriellen Revolution. Nicht nur, dass die Straßen im Vergleich zu den Vorgängern bis auf ganz wenige (geskriptete) Ausnahmen und die omnipräsenten Kutschen leergefegt scheinen und nur der dichte Schiffsverkehr auf der Themse Indizien liefert, dass die Stadt wirklich brummt. Wenn dies wenigstens dazu geführt hätte, dass die Bildrate stabil bleibt, hätte ich diesen Schritt sogar noch irgendwo verstehen können. Doch da dies nicht der Fall ist, kann ich mir einfach nicht erklären, wieso man sich dazu entschlossen hat. Auch der Schnitt durch die Gesellschaft, mit dem die Serie spätestens seit Ezios Ausflügen im Italien der Renaissance punkten konnte, ist hier ein oberflächliches Schaulaufen. Kinderarbeit wird

Keine Frage: London sieht gut aus. Doch auch in diesem Bereich kann Syndicate nicht mit den Vorgängern mithalten.
nur am Rande thematisiert. Alkoholismus und Prostitution, die Historikern zufolge in jener Ära zur traurigen Allgegenwart gehört haben, werden nur wenig oder gar nicht abgebildet. Dafür jedoch ist die Emanzipation zu dieser Zeit fortgeschritten: In den Gangs sind weibliche Mitglieder nicht nur als Fußvolk, sondern auch in höheren Positionen aktiv – schön, aber unerheblich und nur eine weitere Anstrengung, um etwaigen Gender-Problemen aus dem Weg zu gehen.

Das Problem dieses Londons sind nicht nur die Vorgänger, sondern auch andere Spiele wie GTA 5 oder die Batman-Serie, an denen sich Syndicate orientiert. Doch um es sowohl mit der Ezio-Trilogie, Black Flag, GTA 5 oder den Batman-Spielen aufnehmen zu können, reicht es nicht, sich die vermeintlichen Filetstücke herauszunehmen und sie zu assimilieren. Wenn die Seele fehlt, wirkt es zerstückelt – egal, wie viele oder wie wenige Teams daran arbeiten. Und genau diesen Eindruck hinterlässt Syndicate auf mich. Punktuell findet man immer wieder Versatzstücke, die situativ unterhalten, mitunter sogar richtiggehend fesseln. Doch man begegnet auch immer wieder Elementen, bei denen schon die Basis bröckelt – und das ist für eine Serie, deren Produktions-Qualität ebenso wie ihre Kulisse jahrelang Standards setzte bedenklich. Ist dies eine Folge des jährlichen Veröffentlichungsrhythmus? Ist der Zwang, den Aktionären einen durch Assassin’s-Creed-Verkäufe gepimpten Geschäftsbericht präsentieren zu können so groß, dass kreative Impulse entweder vor die Tür gesetzt oder nicht entsprechend gewürdigt werden können? Dann stellt Syndicate einen gefährlichen Scheideweg dar. An der Oberfläche scheint Syndicate so gut oder schlecht wie nahezu jedes andere Assassin’s Creed.

Eine Karte voller Arbeit

Es gibt neben der Hauptgeschichte ausreichend Missionen, so dass man gut und gerne auf 40 Stunden Spielzeit kommen kann - von denen etwa die Hälfte auf die Kampagne ausfällt. Man kann sich Kutschenrennen liefern und in illegalen Ringkämpfen versuchen, sein Konto aufzubessern und Erfahrungspunkte einzuheimsen. Das verdiente Geld kann zusammen mit erbeuteten Rohstoffen in neue Ausrüstung investiert werden, die nicht nur visuelle Veränderungen mit sich bringt, sondern auch die Durchschlagskraft, Schleichfähigkeit etc. erhöhen kann. Man kann in seinem Zug als stetig das Spielgebiet umkreisendes Hauptquartier seine Gangs organisieren und Boni für Rohstoffe und Geld freikaufen, die sich auf die Balance auswirken. So darf man z.B. seinen Ruf soweit durch Investition aufpolieren, dass einen die gegnerischen Gangs nicht mehr jeder Gelegenheit auf der Straße anpöbeln. Auch die Bestechung der Polizei ist ein Aufrüsten wert, da die schlagkräftigen Bobbies einen dann nicht jedes Mal auf dem Kieker haben, wenn man sie nur schief anschaut. Man kann die Levelstufe der rekrutierbaren Gangmitglieder erhöhen, sie mit Kampfboni ausrüsten und vieles mehr. Einzig: Man braucht es nicht wirklich und so bleibt es ebenso wie die zahlreichen Sammelgegenstände eher etwas für Komplettierer, die sich sicherlich darüber freuen, dass die Karte nicht mehr so "zugemüllt" ist wie noch in Paris letztes Jahr.

Die rot gekleideten "Blighters" müssen aus den Londoner Bezirken vertrieben werden.
Wie eingangs erwähnt, ist nicht nur Crawford Starrick eine Gefahr für London, sondern auch die von der verfeindeten "Blighters"-Gang besetzten Bezirke. Dieser Aufgabe kann man sich annehmen und sie Stadtviertel für Stadtviertel befreien. Das ist prinzipiell eine gelungene Ergänzung der Mechanik und sorgt vor allem in der Anfangsphase dafür, dass sich sowohl Geld- als auch Erfahrungskonto schnell füllen und man sich zunehmend neue oder erweiterte Fähigkeiten anschaffen kann. Doch auch hier bleibt vieles zu oberflächlich. Denn unter dem Strich lassen sich die dafür nötigen Missionen in vier Kategorien einteilen. Zwar machen die Kopfgeldjagden, bei denen man einen Gangsterboss idealerweise lebend bei der Polizei abliefern soll, ebenso Spaß wie die Templerjagden, bei denen man den Anführer töten muss (als Sekundärziel in einer bestimmten Art und Weise), die Befreiung von Kindern aus Fabriken sowie das Räumen von Gang-Hochburgen. Sobald man jedoch feststellt, dass dies die einzigen Unternehmungen sind, die man erledigt, bevor es zu einem auf dem Papier spannenden, in der Realität leider unspektakulären und hektischen Aufeinandertreffen der feindlichen Gangs kommt, lässt der Reiz spürbar nach und man wendet sich lieber den abwechslungsreicheren Missionen der Berühmtheiten zu.

Fazit

Syndicate ist in dieser Form der Tiefpunkt der Serie. Dabei ist das Abenteuer im viktorianischen London oberflächlich betrachtet nicht schlechter als ältere Teile der Serie: Das Klettern auf Schienen geht komfortabler und in beide Richtungen schneller als je zuvor. Man ist in einer historischen Umgebung unterwegs, begegnet dort nicht nur gut nachgebildeten Sehenswürdigkeiten, sondern auch zahlreichen verbürgten Persönlichkeiten. Man kann seine Figur ebenso wie seine Gang in verschiedenen Stufen ausrüsten. Man darf dieses Mal sogar mit einer charakterlich attraktiven Frau spielen. Und mit dem mobilen Seilzug sowie Kutschen wird das Bewegungsrepertoire sogar noch aufgestockt. Klingt doch alles gut? Stimmt. Es klingt gut. Und es hätte auch gut sein können - mindestens. Allerdings hat das verantwortliche Studio von Ubi Quebec in erster Linie darauf geachtet, eine Liste an Features abzuarbeiten, anstatt auch ein Auge darauf zu haben, sie harmonisch zu verbinden. Darüber hinaus stellt Syndicate zwar die vermutlich größte Stadt der Serienhistorie, kann aber mit im Vergleich zu den Vorgängern reduzierten Details und einer stark verringerten Bevölkerungsdichte in keiner Form die Illusion erzeugen, in einer vor Leben brummenden Metropole unterwegs zu sein. Syndicate hatte das Zeug, das progressivste Assassin's Creed seit langem zu werden. Doch dieses Amalgam aus allem, was nicht nur die Vorgänger, sondern auch Titel wie GTA 5 oder Batman auszeichnet, wirkt in vielen Bereichen seelenlos zusammengestückelt und ohne den ganz speziellen Charme, der sich durch die Verknüpfung historischer Akribie und gelungener fiktiver Erzählung in den anderen Teilen einstellte. Zudem hat die Qualitätssicherung erschreckend viele Bugs entweder nicht gefunden oder den Veröffentlichungstermin vor Augen halbblind durchgewunken. In seinen besten Momenten funktioniert Syndicate ebenso gut wie Brotherhood oder Black Flag. Doch es gibt davon leider zu wenige, um es aus dem Mittelmaß zu heben, in dem es versinkt. Der jährliche Turnus wird der Serie langsam zum Verhängnis.

Pro

zwei spielbare Figuren...
Gangs müssen aus Londons Bezirken vertrieben werden...
aufrüstbare Fähigkeiten
prinzipiell sehr gute Lokalisierung...
interessante Hauptcharaktere...
abwechslungsreiches Missionsdesign (Haupt- und Berühmtheiten-Aufgaben)
akkurate Architektur der englischen Metropole mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten
Evie wird nicht "übersexualisiert"
überarbeitetes "Parcour-Laufen" sorgt mit dem neuen mobilen Seilzug für frische Dynamik der Fortbewegung
mehrere Lösungsoptionen bei den Hauptattentaten
umfangreiches Crafting-System
Verknüpfung von historischen Ereignissen und Persönlichkeiten mit fiktiven Geschehnissen
neues Kampfsystem, das auf Nahkampf setzt und sich an Batman orientiert

Kontra

... die sich trotz ein paar exklusiver Fähigkeiten sehr ähnlich anfühlen
... hier gibt es aber nur vier Missionstypen
Gang-Kriege unspektakulär und hektisch
... allerdings wurden nicht alle NPC-Samples übersetzt; auf den Straßen begegnet einem ein Kauderwelsch
... aber insgesamt schwache Story
viele Bugs (verschwindende Figuren, Questtrigger werden nicht aufgerufen, KI, etc.)
Gegenwartsgeschichte um den Kampf Templer/Assassinen wird ganz schwach weitergeführt
Kutschenfahrten mit "Rammen per Knopfdruck" übertrieben arcadig
Kulisse nicht mehr so beeindruckend wie früher, die Stadt wirkt nicht mehr so belebt
Kämpfen fehlt nahezu jegliche Taktik und kann häufig mit Knopfhämmern gelöst werden (Ausnahme: letztes Viertel)
Elemente nur oberflächlich miteinander verbunden

Wertung

PlayStation4

Trotz zahlreicher guter Ansätze ist Syndicate der vorläufige Tiefpunkt der Serie. Erzählerisch und visuell bleibt man hinter den anderen Teilen zurück und mitunter fiese Bugs sorgen zusätzlich für Frust.

XboxOne

Trotz zahlreicher guter Ansätze ist Syndicate der vorläufige Tiefpunkt der Serie. Erzählerisch und visuell bleibt man hinter den anderen Teilen zurück und mitunter fiese Bugs sorgen zusätzlich für Frust.

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