Beholder19.01.2018, Mathias Oertel
Beholder

Im Test: Der Spion im eigenen Haus

Man nehme eine Dystopie, die der Indie-Überraschung Papers, Please ähnelt. Man ergänze dies um ein Artdesign zwischen This War of Mine und Fallout Shelter. Und zu guter Letzt reichert man dies um eine Orwell’sche Big-Brother-Thematik sowie zahlreiche, teils dramatische Entscheidungen samt Konsequenzen an. Das Ergebnis dieses merkwürdigen Cocktails ist die „Blockwart-Simulation“ Beholder (ab 1,29€ bei GP_logo_black_rgb kaufen), die über ein Jahr nach PC-Veröffentlichung jetzt auch auf Konsolen die Nachbarschafts-Spione ans Pad ruft – mehr dazu im Test.

Orwell lässt grüßen

Beholder zeichnet ein düsteres Bild einer totalitären Welt: Der Staat versucht nicht nur, seine Bürger zu überwachen. Es kommen fast täglich neue Anordnungen und Gesetzes-Änderungen, die z.B. den Besitz oder die Nutzung von wie Büchern eines bestimmten Autors, Früchten wie Äpfeln oder Jeans untersagen, aber auch mitunter Gefühle unter Strafe setzen. Das unbeschriebene Blatt Karl Stein ist Teil dieser Maschinerie – wenn auch wider Willen. Er wird als Hausmeister eingesetzt und muss in dem ihm zugewiesenen Haus, das über sechs Wohnungen auf drei Etagen verfügt, nach dem Rechten sehen. Dabei muss er aber nicht nur die Räumlichkeiten in Schuss halten und Reparaturen durchführen. Er ist auch für alle Aktionen der dort ansässigen Mieter verantwortlich. Sprich: Verstoßen sie gegen Gesetze oder Verordnungen und meldet er dies nicht, geht es ihm an den Kragen. Und der Staat meint es ernst: Als er mit seiner Familie (Ehefrau, zwei Kinder) im Keller einzieht, wird er Zeuge, wie die Polizei den vorherigen Hausmeister verprügelt und mitnimmt. Und damit ihm auch ja kein Fehlverhalten entgeht, wird er mit experimentellen Drogen vollgepumpt, die die Notwendigkeit des Schlafens unterdrücken.

Als Hausmeister hat man nicht nur seine Mieter stets im Blickfeld, sondern sollte sich auch um die Bedürfnisse seiner Familie kümmern.

Um herauszubekommen, ob die lieben Nachbarn etwas Verbotenes machen, Schmuggelware besitzen oder gar ernst zu nehmende Verbrechen begehen, stehen einem aber nicht nur Gespräche mit weitgehend eingeschränkten Dialogoptionen zur Verfügung. Wenn sie außer Haus sind, um z.B. zur Arbeit zu gehen, kann man mit Hilfe des Universalschlüssels ihre Wohnung betreten und ihre Wohnung durchsuchen. Und man sollte tunlichst Kameras installieren, die man in mehreren Qualitätsstufen (sprich: Sichtwinkel-Größe) für Reputationspunkte erstehen kann. Diese wiederum erhält man u.a., wenn man für das Ministerium Berichte über die Mieter anfertigt oder sie mit Beweisen für schwere Verstöße versorgt. Das hat übrigens häufig ein erneutes Anrücken der Polizei zur Folge – was wiederum meist dafür sorgt, dass die Wohnung danach wieder leer steht und erneut vermietet werden kann.

Das Leben ist kein Wunschkonzert

Geld kann man u.a. verdienen, indem man Berichte über die Mieter abliefert oder sie bei Bedarf anzeigt.

Erschwert wird die Aufgabe durch die Probleme, die einem in der eigenen Familie begegnen. Die Gattin benötigt dauernd Geld, um einkaufen oder Rechnungen bezahlen zu können. Der Sohn will studieren, was nicht nur kostspielig ist, sondern auch bestimmte Bücher voraussetzt, die normalerweise nur der Elite zugängig sind. Und die Tochter ist schwer erkrankt. Muss man ihr anfangs nur Aspirin auf dem Schwarzmarkt besorgen, reißen spätere Behandlungen massive Löcher ins stets knappe Budget. Und das Geld, das man in seiner Rolle als "Informationssammler" verdient, reicht vorne und hinten nicht. Über Wasser halten kann man sich z.B., wenn man die anderen Hausbewohner bestiehlt – da man immer über die neuesten Verbote aufgeklärt wird, weiß man als Erster, welche vorher banalen Gegenstände  wie eine Jeanshose oder eine Flasche Whiskey plötzlich viel Profit versprechen. Doch Vorsicht: Auch hier kann die Polizei plötzlich auf der Matte stehen und eine Situation schaffen, aus der man nur über Schmiergeld oder Einbußen der Reputation wieder herauskommt. Darüber hinaus haben die Bewohner trotz ihres scherenschnitthaften Designs, bei dem nur die weißen Augen als Merkmal hervorstechen allesamt eine interessante Persönlichkeiten sowie Sorgen bzw. Probleme, bei denen sie Hilfe brauchen.

Der scheinbar wohlhabende, aber übergewichtige Arzt sehnt sich nach einer romantischen Beziehung. Der Student, der nur ein paar Tage bleibt, will nur in Ruhe gelassen werden, wartet aber auf eine Lieferung. Der Archivar sucht seine Brille. Und der vorherige Hausbesitzer (wieso er seine Immobilie verloren hat, bleibt lange unklar) möchte einfach nur weg. Und so ist man hin und her gerissen zwischen dem Gehorsam gegenüber dem Staat, den Verpflichtungen seiner Familie gegenüber sowie den Bedürfnissen der Mieter, denen man eigentlich stets als Verräter begegnet. Man wird dabei immer wieder von mal mehr, mal weniger unscheinbaren, aber auch sehr direkten Entscheidungen und im Normalfall dramatischen Konsequenzen begleitet. Sorgt man z.B. dafür, dass der Arzt eine Liebschaft bekommt, muss man sich unter Umständen mit der zwielichtigen Dame als weiteren Hausbewohner anfreunden – was zu neuen Schwierigkeiten führen kann. Und wenn man dem Archivar den Gefallen abschlägt oder seine Frau anzeigt, weil sie z.B. bestimmte Bücher gelesen hat, wird er einem nicht mehr helfen, die Literatur für den Filius zu finden. Wiederum andere Mieterwünsche lassen sich erst erfüllen, wenn man vorher etwas anderes erledigt hat.

Nichts ist heilig

In den Dialogen stehen zwar häufig mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, doch eine verzweigte Baumstruktur sucht man vergeblich.

Immer wieder wird man von Beholder aufgefordert, Schicksal zu spielen. Und mitunter lassen einen die Konsequenzen sehr schwermütig zurück. Denn alternativ zur situativen Spannung, die man erlebt, wenn man ggf. unter Zeitdruck die Wohnung der Mieter durchsucht oder partout bestimmte Elemente nicht findet, bevor die Zeit für manche Missionen abgelaufen ist, wird hier mit dem moralischen Gewissen gespielt. Wie soll man sich z.B. verhalten, wenn man sein schwer verdientes (oder durch Erpressung, auch das ist möglich) Geld lieber für die Ausbildung seines Sohnes ausgibt, anstatt die zig Tausende verschlingende Behandlung der Tochter fortzusetzen, sie daraufhin stirbt und die eigene Frau entgegen der ministeriellen Verordnung weint? Meldet man sie seinen Vorgesetzten? Geht man das Risiko ein, das ein „Nachbar“ einen verpfeift? Nahezu jede Figur, inkl. Karl Stein, kann vorzeitig sterben – teils durch Unfälle. Wie z.B. bei der Bombenexplosion (hat der Student etwas damit zu tun?), die dafür sorgt, das eine panische Meute durch die Straßen rennt und niedertrampelt, was im Weg steht. Immer wieder wird man intensiv mit allzu menschlichen Wünschen und Schicksalen konfrontiert, die einem u.a.  die Grausamkeit des totalitären Staates vor Augen führen, den man in Beholder sowie in der auf Konsolen integrierten Erweiterung "Schlaf der Glückseligkeit" kennenlernt.

Man kann die Mieter nicht nur über Kameras, sondern auch persönlich ausspionieren und Details über ihr Leben sammeln.

Doch bei aller Intensität und aller Dramatik, die man im Rahmen der eigentlich auf simple Entscheidungen reduzierbaren Mechanik erlebt, fehlt mir etwas: Grauzonen. So lebendig die Dialoge auch wirken, sind sie insgesamt eher kurz ausgefallen und wie nahezu alles auf Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, Tun oder Lassen, A oder B ausgelegt. Dementsprechend reduziert sich die Mechanik auf ein emotionales Trial & Error. Da einem dies schon relativ früh klar wird, wird Beholder schneller zu einer virtuellen Ameisenfarm, als ihm gut tut. So habe ich irgendwann kaum noch über die moralischen Implikationen nachgedacht, sondern meine Entscheidungen eher aus Experimentierfreude getroffen. Aus Neugier, was als Nächstes auf Karl Stein und die Hausbewohner einprasselt. Da man in einem Durchlauf (zwischen fünf und acht Stunden) auf dem Weg zu den unterschiedlichen Enden nicht alle Storypfade (v.a. bei den Hausbewohnern) kennenlernen kann, bleibt man auch neugierig und trifft bestimmte Entscheidungen beim zweiten (oder dritten) Mal bewusst anders. Allerdings hätte hier ein gewisser Zufallsfaktor nicht geschadet. Denn abseits des einen oder anderen vorher nicht gesehenen Erzählstranges bleiben die großen Überraschungen bei den erneuten Durchläufen aus.

Fazit

Die erste Stunde mit Beholder ist gleichermaßen beeindruckend wie bedrückend. In der Rolle des Hausmeisters, der sich nicht nur um das Wohl seiner Familie, sondern auch das der Mieter kümmern muss, während er sie gleichzeitig ausspioniert, wird man immer wieder an die Gewissensgrenze geführt. Obwohl die Visualisierung der Figuren oberflächlich bleibt, werden sie über die Gespräche und die Gegenstände, die man in ihren Wohnungen finden kann, lebendig. Allerdings hätte dies durch mehr und vor allem nicht nur in Schwarz oder Weiß unterteilte Dialog- bzw Handlungsoptionen sowie zufällige Ereignisse deutlich gesteigert werden können. Denn irgendwann sorgt die Limitierung auf „Ja“ oder „Nein“ dafür, dass die Schicksale von Hauptfigur sowie den übrigen Hauptbewohnern zu schnell nur noch ein Spielball eines Trial-and-Error-Systems werden. Dem wiederum stehen die unterschiedlichen Enden gegenüber, die basierend auf den getroffenen Entscheidungen ausgespielt werden und trotz einer gewissen emotionalen Abstumpfung dafür sorgen, dass man aus Neugier sowie Experimentierfreude einen neuen Anlauf unternimmt. Mit der auf Konsolen integrierten Erweiterung „Schlaf der Glückseligkeit“ lernt man das totalitäre Regime, dem man zu dienen versucht, von einer neuen Seite kennen, so dass man auf PS4 sowie One gut und gerne zwölf bis 15 interessante Stunden als Staatsspion erleben darf – auch wenn irgendwann die emotionale Anbindung verloren geht.

Pro

düstere Atmosphäre
gelungene Zeichnung eines totalitären Systems
Entscheidungen, Konsequenzen und moralische Dilemmas
diverse Enden basierend auf den getroffenen Entscheidungen
stimmungsvoller melancholischer Soundtrack
comichaftes Artdesign
Erweiterung "Schalf der Glückseligkeit" inklusive

Kontra

Aktionen/Handlungsmöglichkeiten meist nur binär, keine Grauzonen
schwache Soundeffekte
weitgehend geskriptet
eingeschränkte Dialogoptionen

Wertung

XboxOne

Ein interessantes Konzept rund ums Spionieren für eine totalitäre Staatsgewalt. Leider wird es trotz guter erzählerischer Ansätze und emotionaler Spannung zu schnell zu einem Trial-and-Error-System.

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