Hellblade: Senua's Sacrifice10.08.2017, Benjamin Schmädig

Im Test: Fluch und Segen

Das ungleiche Paar Monkey und Trip, die einem Trauma entflohene Kat oder die mit der Realität fremdelnde und trotzdem starke Kai: Tameem Antoniades hat faszinierende Figuren erschaffen, seit er als kreativer Kopf des britischen Studios Ninja Theory actionreiche Abenteuer kreiert. Kein Wunder also, dass ausgerechnet er tiefer in den Kopf einer Heldin eindringt, als es je ein Entwickler getan hat. Aber kann Hellblade: Senua's Sacrifice (ab 23,45€ bei kaufen) in unserem Test auch spielerisch überzeugen?

Hölle auf Erden

Nun ist Antoniades nicht der Erste, der sich für die Psyche seiner Protagonistin interessiert; das haben gerade in den vergangenen Jahren sogar recht viele getan. Und dennoch standen die psychologischen Besonderheiten im Vorfeld der Veröffentlichung von Hellblade vollkommen zurecht im Mittelpunkt, denn der Spieleregisseur und sein Team haben mit großem Aufwand die Symptome geistiger Störungen recherchiert und einer keltischen Kriegerin zuteilwerden lassen, die sich auf den ersten Blick kaum von Nariko, Bayonetta und anderen Heldinnen unterscheidet. Offensichtliche Teile ihrer Geschichte werden wir in den folgenden Abschnitten übrigens vorwegnehmen.

Um die Seele ihres Geliebten zu retten, geht Senua in die Hölle.

Immerhin kämpft auch Senua gegen mythische Kreaturen und löst Rätsel, um Türen zu öffnen. Sie tut das, um ihren Geliebten zu retten. Seine Seele steckt wohl in dem Schädel, den sie bei sich trägt, und sie reist dafür in die Hölle – oder vielmehr einen Ort, den sie dafür hält. Denn anders als die Widersacher gewöhnlicher Heldinnen scheinen „ihre“ Kreaturen nicht real zu sein: Nach dem Tod lösen sie sich in den Schatten auf, aus denen sie gekommen sind. Und die Tore, durch die Senua gehen muss, sind vermutlich nie verschlossen.

Gegen die Grenzen der eigenen Fantasie

Antoniades zeichnet das Bild einer psychisch Kranken, die nur deshalb von einer Dunkelheit spricht, weil zur ihrer Zeit, der Zeit der Wikinger, keine andere Diagnose möglich war. Was Hellblade dabei so besonders macht ist die Intensität, mit der Ninja Theory Senuas Kampf gegen die inneren Dämonen erlebbar macht.

Wirklichkeit und Wahnsinn verschmelzen zu einem Fantasy-Abenteuer, in dessen Mittelpunkt seine Heldin steht, nicht der Kampf.

Zum einen ist da natürlich die Tatsache, dass man als Spieler nicht vorankommt, ohne die Kreaturen zu besiegen. Man tut das, indem man leichte und schwere Angriffe verschieden kombiniert, mit einem schnellen Schritt ausweicht, ankommende Hiebe im richtigen Moment zurückwirft und Schildträger mit einem Kniestoß aus dem Gleichgewicht bringt. Die Kämpfe sind wuchtig und taktisch geprägt - Ninja Theory lässt hier erfolgreich seine Muskeln spielen, obwohl die Gefechte im Gegensatz zu Heavenly Sword, Enslaved und Devil May Cry nur einen relativ kleinen Teil des Abenteuers ausmachen.

Zum anderen sind da Rätsel, die nichts mit Schaltern oder Mechanismen zu tun haben, sondern meistens auf dem Beobachten der Umgebung beruhen. Oft muss man etwa die Form eine Rune finden - z.B. in den Ästen eines Baums, wenn man aus der richtigen Richtung drauf schaut. An anderer Stelle wechselt Senua scheinbar zwischen zwei Dimensionen: Mal sieht sie eine Ruine in der Gegenwart, mal das Haus, das sie gewesen ist. Man erlebt also nichts, was nicht auch Tyler Durdens Fantasie hätte erschaffen können, ist dabei aber stets von dem gefangen, was auch Senua aufhält.

„Das schafft sie nie!“

Es gibt aber nicht nur spielerische Elemente, über die natürlich eine Beziehung zur Hauptfigur entsteht, es gibt vor allem eine überragende und allgegenwärtige Inszenierung, die Senua eine außergewöhnlich starke Präsenz verleiht. Die junge Frau meldet sich ja nicht nur in kurzen Filmen zu Wort, sondern sehr häufig auch im eigentlichen Spiel – nicht immer als sie selbst, fast durchgehend sind aber die Stimmen zu hören, die sie überallhin begleiten.

Die eine rollt Ereignisse aus ihrer Vergangenheit auf, eine andere beschwört mit unverhohlener Schadenfreude ihr Versagen, eine weitere warnt im Kampf vor Angriffen, die nächste sagt ihr, was sie tun soll. Unberechenbar wechseln sie von links nach rechts nach hinten. Andauernd raunen oder flüstern sie und gelegentlich spricht Senua mit ihnen. Mal schaut sie dabei in den leeren Raum, mal direkt in die Kamera. Sie sind gleichzeitig Erzähler, Hilfestellung und auf diese Art starkes Bindeglied zwischen dem Geschehen auf dem Bildschirm und dem subjektiven Kopfkino. Ihr ständiges Flüstern oder Raunen überträgt die Unsicherheit und Unruhe in Senuas Kopf auf

Wuchtige Duelle mit mächtigen Gegnern muss Senua trotzdem schlagen. Wahlweise passt sich der Schwierigkeitsgrad automatisch an.
den Spieler.

Nur das Spiel

Der Ton gehört ohnehin zu den Stärken der Inszenierung: Die akustische Gestaltung ist hervorragend und wird von einem ruhigen Soundtrack getragen, mit dem Combichrists Andy LaPlegua eine ebenso geheimnisvolle wie verstörende Atmosphäre erzeugt. Folgt der Empfehlung des Spiels und setzt Kopfhörer auf!

Ähnlich eindrucksvoll gelingen Ninja Theory die Kulissen, in denen aufwändig gearbeitete Details an Gebäuden ebenso beeindrucken wie ein alles überragender Turm in der Ferne; das Ziel der Reise. Häufige Änderungen des Wetters, des Lichts sowie andere Kleinigkeiten spiegeln zudem auf eindringliche Weise Senuas wechselhaften Geisteszustand wider. Schade, dass sie nicht wenigstens hin und wieder ein Objekt anfasst, das nichts mit ihrem Vorankommen zu tun hat, oder einen Gegenstand in die Hand nimmt. Das hätte die Umgebung noch mehr zu einem plastischen Schauplatz werden lassen.

Überragend sind die Nahaufnahmen der Kriegerin: Aus technischer Sicht ist Senua die derzeit fortschrittlichste Videospielfigur.

Klasse dafür, dass Hellblade bis auf eine einzige frühe Ausnahme komplett auf Einblendungen verzichtet! Jede Information wird durch Animationen, die Stimmen oder Geräusche vermittelt. Man spielt kein Menü, sondern begreift das Abenteuer, indem man sich hineindenkt. Senua und ihre Erlebnisse stehen dadurch noch stärker im Vordergrund.

Wo echte und virtuelle Welt aufeinandertreffen

Dabei ist die Hauptfigur viel näher dran an einer realen Schauspielerin als jeder andere Videospiel-Charakter. Denn tatsächlich ist die junge Frau in manchen Szenen kaum von ihrem Alter Ego Melina Juergens zu unterscheiden, die Senua eine einzigartige physische Präsenz verleiht. Alleine die Intensität ihrer Gesichtszüge, die Ninja Theory so detailgenau in die virtuelle Welt überträgt wie kein anderes Studio, ist phänomenal.

Im späteren Verlauf wird durchaus deutlich, dass Juergens bei ihrem schauspielerischen Debüt vor allem stimmlich die notwendige Ausdrucksstärke fehlt, um vollständig in ihrem Charakter aufzugehen. Das macht sie allerdings mit einer außergewöhnlich kraftvollen Darstellung und ihrer eindrucksvollen Gegenwart in den Nahaufnahmen wett. Womöglich ist es sogar erst diese rohe, ungebündelte Energie, aus der sowohl Senuas Furcht als auch ihre Stärke als Kriegerin erwachsen.

Halluzinierte Erklärbären

Während man so einer beinahe leibhaftigen Protagonistin folgt, versteht man mehr und mehr, warum sie unter derart ausgeprägten Visionen leidet. Denn Antoniades inszeniert ihren Wahn nicht nur, um Kreaturen und Rätseln einen Daseinsgrund zu verschaffen. Vielmehr war sein Ziel offenbar eine vollumfassende Charakterdarstellung. Immerhin leuchtet er Senuas Vergangenheit über die gesamte Spielzeit hin ausgenommen sorgfältig aus: Er verankert ihre Geschichte mit gesellschaftlichen und religiösen Zusammenhängen, während etwa versteckte Runensteine nicht nur zum aufmerksamen Erkunden einladen, sondern gleichzeitig wichtige Teile der nordischen Mythologie beschreiben.

Etwas zu sehr verliert er sich dabei im Erklären und Beschreiben und Rückblicken, so dass man spätestens gegen Anfang des letzten Drittels mehr einem visuellen Hörbuch lauscht, anstatt durch eine komplett vereinnahmende Welt zu streifen. Viele Rätsel wirken dann auch wie künstliche Hindernisse und nicht wie organische Teile der Erzählung.

Mit einer speziellen Fähigkeit macht Senua die Wesen der Finsternis erst verwundbar.

Im Gegenzug versteht man aber, dass Senuas Dunkelheit aus einer natürlichen Disposition heraus entstanden ist, was ihre soziale Prägung damit zu tun hat und wie sehr sie durch traumatische Erlebnisse verstärkt wurde. Und weil Teile ihrer Ängste, allen voran Dunkelheit und Feuer, auch spielerische Hindernisse sind, begreift man ihren aktuellen Zustand nicht zuletzt auf eine Art, die komplett verloren gewesen wäre, wenn wie in den meisten Spielen vielleicht zwei kurze Rückblenden die Kindheit der Figur nur umrissen hätten.

Fluch oder Segen?

Dass Hellblade trotz dieser detailversessenen Glaubwürdigkeit die Magie eines großen Fantasy-Abenteuers verströmt, verdankt es dem erzählerischen Geschick seines Regisseurs und Autors. Zum einen beschreibt er seine Heldin nämlich nie als arme Irre, sondern immer als starke Kämpferin und zum anderen deutet er ihre Halluzinationen als Erweiterung der ganz normalen menschlichen Fantasie und hatte diese Erkenntnis auch im Vorfeld schon hervorgehoben. Da jeder seine Umgebung lediglich interpretiert, anstatt unantastbar „richtige“ Erkenntnisse zu erlangen: Wer weiß schon, wie real unsere Wirklichkeit tatsächlich ist und ob Menschen wie Senua nicht Dinge wahrnehmen, die anderen einfach verborgen bleiben?

Fazit

Es ist nicht nur der aufwändig recherchierte psychologische Hintergrund, der Hellblade zu einem guten Spiel macht – die detailversessen konzipierte und hervorragend inszenierte Charakterstudie macht es aber sehr wohl zu einem besonderen und ungewöhnlich intensiven Erlebnis! Das liegt nicht nur an der technisch herausragenden Mimik seiner Protagonistin, sondern auch am kraftvollen Spiel ihrer Darstellerin. Es liegt daran, dass Senuas Ängste nicht nur erwähnt werden, sondern ständig greifbar sind – sei es über die flüsternden und raunenden Stimmen in ihrem Kopf oder das Feuer und die Dunkelheit, die man als reale Gefahren überwinden muss. Es liegt auch daran, dass man in wuchtig inszenierten Gefechten buchstäblich mit ihren Halluzinationen kämpft und viele Bausteine ihrer Geschichte aus eindringlichen Darstellungen in der Umgebung erfährt. Schwächen zeigt das Spiel in dem mitunter etwas zu langen Umherlaufen und Anhören verschieden verpackter Erklärungen. In seiner Gesamtheit ist die vierte große Arbeit von Tameem Antoniades aber ein fesselndes und vor allem erzählerisch einzigartiges Abenteuer!

Pro

eindringliche Charakterstudie mit überzeugender Darstellung innerer und äußerer Dämonen
plastische, fantasievolle Kulissen
keine Bildschirmtexte, keine Erklärungen jedes Spielelement ergibt sich aus Umgebung, Animationen, Klang und eigenem Entdecken
wuchtige, taktisch geprägte Kämpfe
überragend gute Gesichtsaufnahmen bzw. -animationen
ausgezeichneter Ton und Soundtrack
Geheimnisse laden zum Erkunden ein
wahlweise automatisches Anpassen des Schwierigkeitsgrads
Photo-Modus einschließlich rudimentärer Nachbearbeitung

Kontra

viele und lange Erklärungen wirken mitunter wie passives Hörbuch-Konsumieren
manche Rätsel dienen zu auffällig dem Strecken der Spielzeit
Senua findet aber keine z.B. erzählerisch interessanten Gegenstände zum Aufheben, Begutachten oder Kombinieren für Rätsel

Wertung

PC

Fesselnder Kampf einer beeindruckenden Heldin mit ihren inneren Dämonen.

PlayStation4

Fesselnder Kampf einer beeindruckenden Heldin mit ihren inneren Dämonen.

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.