Beyond Eyes07.08.2015, Mathias Oertel
Beyond Eyes

Im Test: Farbenfrohe Blindheit ohne Gefahr

Blinde Protagonisten in Spielen sind selten – in Abenteuern mit Schulterperspektive sogar ein Novum. Doch das Indie-Projekt Beyond Eyes (ab 12,99€ bei kaufen), das vor kurzem auf Xbox One seine Premiere feierte, inszeniert um die sehbehinderte Rae eine besinnliche Reise, die sich mit ihrer Ruhe als Kontrapunkt zu lauten und schnellen Abenteuern präsentiert. Ob das Konzept aufgeht, verraten wir im Test.

Meine Welt ist weiß und bunt

Die zehnjährige Rae ist seit einem Feuerwerks-Unfall erblindet. Ihr bisheriges Leben, in dem sie mit Freunden draußen gespielt hat, ist vorbei. Meist sitzt sie alleine in ihrem Zimmer oder spielt einsam im Garten. Trost wird ihr jedoch von einer zugelaufenen Katze gespendet, die sie Nani tauft. Nachdem die einst regelmäßigen Besuche des maunzenden Vierbeiners nachlassen, macht sie sich auf die Suche nach der Mieze. Sie verlässt die ihr vertraute Umgebung und nimmt den Spieler mit auf eine Reise ins Unbekannte. Auf ein Abenteuer, das Wahrnehmung und Erwartung in Frage stellt und nicht nur Geduld vom Spieler fordert, sondern auch den Willen, sich auf etwas anderes einzulassen.

Ausgangspunkt für Raes ungewöhnliche Reise: Die zarte Freundschaft zwischen dem blinden Mädchen und der Katze Nani.
Rae bewegt sich nur im Schritttempo durch das Unbekannte, das in sechs Kapiteln vor ihr liegt. Doch nicht nur daran muss man sich gewöhnen: Denn Beyond Eyes, das im Lauf der letzten drei Jahre unter Leitung der Niederländerin Sherida Halatoe entstanden ist, versucht mit einem ganz eigenen Stil zu visualisieren, wie Rae die Welt um sich herum wahrnimmt. Die Umgebung ist weiß wie eine leere Leinwand. Mit jedem Schritt Raes werden die Wahrnehmungen, die sie über Berührungen, Gerüche oder Geräusche erfährt, mit sanften Aquarellfarben protokolliert, so dass sich stückweise ein animiertes Gemälde ergibt, das leicht impressionistische Züge trägt. Die Art und Weise, in der sich das Gesamtbild erschließt, erinnert leicht an Unfinished Swan von Giant Sparrow, doch damit hören die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Titeln auch schon auf.

Geduldsfrage

Die Umgebung wird in einem wunderschönen Aquarell-Stil gemalt.
Einmal abgeschrittene Gebiete behält Rae in ihrer Erinnerung. So muss man beim gelegentlichen Zurücklaufen auf der Suche nach Nani bzw. der Erledigung von wenigen Gegenstands-Rätseln (von A nach B bringen) nicht ständig gegen die bereits bekannte Mauer rennen oder sich zwischen Baum und Zaun vorbeizwängen. Nur bei starkem Regen scheint sich ihre Konzentration aufzulösen, denn wenn es wie aus Eimern schüttet, verschwinden die bereits abgelaufenen Wege wieder nach wenigen Metern. Was inhaltlich nur dann Sinn ergibt, wenn man davon ausgeht, dass Regen sowohl die akustische als auch olfaktorische Wahrnehmung sehr stark negativ beeinflusst, wird spielerisch aber zum seltenen Aufbau von Spannung genutzt. Wenn man inmitten eines Unwetters, geschützt von einem türkisen Regenschirm, an einem Sandstrand entlang geht und nur die gelegentlich auf Pollern sitzenden Möwen kreischen und Rae einen Anhaltspunkt dafür geben, ob sie noch in die richtige Richtung geht, kommt so etwas wie Panik auf, die die blinde Protagonisten fühlen muss. Doch um wirklich mit Rae mitfühlen zu können oder vielleicht sogar den Beschützerinstinkt auszupacken, fehlt eine existente Gefahr.

Außer an vorgesehenen Stellen kann Rae nicht stolpern. Man kann sie nicht in Flüsse oder Rinnsale lenken. Und wenn sie vor etwas Angst hat, dessen Anwesenheit sie spürt oder hört wie z.B. ein bellender/knurrender Hund oder Krähen, weigert sie sich standhaft, in den Einzugskreis zu gehen, während die Farben des lebendigen Aquarell-Gemäldes an Intensität verlieren und ausgrauen. Das sorgt aber letztlich dafür, dass die stationären Lebewesen nur eine andere Form von Levelbegrenzung darstellen - wie Büsche, Bäume, Zäune oder Häuser an anderen Stellen. Vielleicht wollte man nicht, dass Rae von den Spielern zu einem hilflosen Versuchsobjekt gemacht wird? Ich denke, dass ein Kompromiss möglich gewesen wäre, bei denen man Rae als Spieler bewusst in Gefahr bringen könnte, aber durch ihre geskriptete Gegen-Aktion gewarnt würde. Bis hin zu dem Punkt, an dem sie sich weigert, weitere Schritte ins Wasser zu unternehmen, weil sie weiß bzw. fühlt, dass es für sie gefährlich wird. So war es zumindest einmal vorgesehen und in einer frühen Phase auch im Spiel integriert, wurde dann aber offensichtlich über Bord geworfen. Daher wird der Spieler nur zu einem Begleiter anstatt zu einem Hüter, die emotionale Verbindung zu Rae wird auf das Nötigste reduziert - schade. Man erfährt zwar, vor was sie sich fürchtet. Doch wenn man wüsste, wie sie in Extremsituationen reagiert, wäre das Bedürfnis größer, sie vor genau diesen Momenten zu schützen. Situative Spannung wird ohnehin nur selten eingesetzt, doch selbst dann traut sich Beyond Eyes nicht in die letzte Konsequenz - es wird berechenbar und dadurch dramaturgisches Potenzial verschenkt.

Die Magie der Wahrnehmung

Bei Bedrohung verändert sich die Farbgebung.
Doch obwohl keine spürbare Gefahr vorhanden ist und Rae trotz ihrer jungen Jahre sowie der noch nicht allzu lang bestehenden Sehbehinderung einen recht selbstbewussten Eindruck im Umgang mit der Blindheit zeigt, gibt es einige magische Momente in Beyond Eyes. Dann nämlich, wenn Wahrnehmung und Erwartung sowohl auf Seite von Rae als auch beim Spieler in Frage gestellt werden. Die Darstellung von Raes Umwelt beruht auf Erfahrungen, die sie bereits in Begleitung des Spielers gemacht hat. In einem frühen Kapitel z.B. hat man einen plätschernden Brunnen kennengelernt. Im Laufe ihrer Reise hört sie nun wieder dieses Plätschern und baut in ihrem Kopf (sprich: der Spielwelt) einen Brunnen in die Landschaft. Nun nähert man sich aber dem vermeintlich erfrischenden Nass und stellt fest, dass es sich dabei nur um den Ablauf eines Kanalisationsrohres handelt, das Rae entsprechend ins Bild setzt. Oder die Raben, die sie mit Gefahr assoziiert und die sie beim Wahrnehmen eines Flügelschlages wieder in der Nähe wähnt, bis sie feststellt, dass es nur Hühner sind und die dunklen Flecken im Bild gegen weißes Federvieh ausgetauscht werden. Ebenfalls schön: Der Specht, der sich beim Näherkommen als typisches "Tock Tock Tock" einer Verkehrsampel herausstellt.

Rae erlebt zwar bedrohliche, aber keine gefährlichen Situationen.
Es sind diese Momente, die aus einer guten, wenngleich relativ bieder umgesetzten Idee immer wieder etwas Besonderes machen. Beyond Eyes wird dadurch fast zum besinnlich-schönen Gegenstück zum Terror eines Eternal Darkness, das in seiner Art ebenfalls stark mit der Wahrnehmung und Erwartungshaltung der Person vor dem Bildschirm spielt. Zusammen mit der sparsam eingesetzten, aber emotional intensiven Musik sowie sporadisch eingeblendeten Texten, die einen Einblick in Raes Gefühlslage geben, entwickelt Beyond Eyes eine ganz eigene Stimmung. Mal hypnotisch, mal faszinierend, dann aber auch immer wieder leicht vorhersehbar und mitunter sogar als Folge dessen langweilig. Was umso schwerer wiegt, da das konzeptionell und hinsichtlich des Artdesigns sehr kreative Abenteuer bereits nach etwa drei bis vier Stunden vorbei ist.

Fazit

In meinen Notizen fand sich ein Wort unverhältnismäßig häufig: „ungewöhnlich“. Die Idee, ein blindes Kind als Protagonist einzusetzen, ist ebenso ungewöhnlich wie der wunderschöne Aquarell-Stil, in dem Raes Wahrnehmungen ad hoc auf die weiße Leinwand gebracht werden, die als Spielwelt dient. Auch das sehr ruhige Spieltempo, das dazu verleitet, in Beyond Eyes einzutauchen und die angenehm zurückhaltend erzählte Geschichte zu erleben, ist nicht alltäglich. Dass die Gefahren, die ein zehnjähriges Mädchen mit einer Sehbehinderung in einer unbekannten Umgebung erfahren dürfte, jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielen, ist schade – es wirkt beinahe so, als wollte Designerin Sherida Halatoe nicht, dass man mit der hilflosen Rae experimentiert. Dabei wäre sicherlich ein Mittelweg möglich gewesen, der die Gefahren spürbarer macht und damit den Beschützerinstinkt weckt, aber den Spieler nicht in Versuchung führt, die Blinde zu einem Opfer seiner Schadenfreude zu machen. Doch auch bar jeglicher Spannung werden Emotionen inszeniert. Doch die wirklich magischen Momente entstehen ohnehin immer dann, wenn Beyond Eyes mit der Wahrnehmung bzw. Erwartung der Hauptfigur spielt und die Welt dynamisch an neue Erfahrungen anpasst. Davon gibt es zwar einige, aber leider nicht genug, um mein Interesse über die Spielzeit von drei bis vier Stunden auf einem gleichmäßigen Niveau zu halten. Dennoch ist Beyond Eyes eine interessante Erfahrung, zeigt es doch, dass auch nach Dear Esther, Gone Home oder Ethan Carter noch genug Platz für frische kreative erzählerische Stilmittel ist.

Pro

ungewöhnliches Konzept: man steuert eine Blinde
wunderschönes Artdesign mit Aquarell-Kulissen
sparsam eingesetzte Musik
Umgebung verändert sich dynamisch basierend auf den Wahrnehmungen der Figur

Kontra

mitunter unnötiges Backtracking
nur wenige Spannungsmomente, keine Gefahren für Rae
man ist eher Begleiter als Hüter/Beschützer

Wertung

XboxOne

Ein kreatives Erzähl-Experiment mit einer interessanten Idee und einem wunderschönen Artdesign. Leider kommen Emotionen und situative Spannung etwas zu kurz.

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