Im Test: Farbenreise ins Ich
Wenn man mit einem spielbaren Prototypen den BAFTA Young Game Designers Award (YGD) gewinnt, darf man nicht nur stolz sein. Man könnte mit dieser renommierten britischen Auszeichnung im Rücken auch ein größeres Spiel machen. Genau das hat Dan Smith zusammen mit Ripstone Games verwirklicht: Und so wurde aus dem experimentellen Farben-Knobler ein umfangreiches Mystery-Adventure mit eigener Story, das jetzt für knapp fünfzehn Euro erhältlich ist. Ob The Spectrum Retreat auf PC, PS4 und Xbox One überzeugen kann, verrät der Test.
Falls man in einem Hotelzimmer aufwacht und sich an rein gar nichts erinnern kann, hat man vermutlich zu viel getrunken. Wenn man sich dann umschaut, niemanden neben sich entdeckt und ein extrem teuer anmutendes Interieur betrachtet, gerät man vielleicht ins Grübeln. Nach ein paar Schritten in Egosicht durch ein extrem sauberes Zimmer, in dem das Bad und Schränke seltsamer Weise verschlossen sind, könnte man sich wie ein Fremder an einem unbekannten Ort fühlen. Spätestens als es an der Tür klopft und ein Roboter in Anzug und weißer Maske einen guten Morgen wünscht, um wie ein höflicher englischer Butler auf das Frühstücksbuffet aufmerksam zu machen, wird es bizarr.
Sie sind überaus freundlich, diese Hotelroboter, aber irgendwie auch unheimlich...
Wo zur Hölle bin ich gelandet? Warum erinnere ich mich an nichts? Wer bin ich überhaupt? Es gibt keinerlei Spuren oder Hinweise in dem Zimmer, lediglich einen Kalender, in dem ich ein Kreuz machen kann. Ein Klingelgeräusch lockt mich zu einem kreisrunden Gerät - damit kann ich immerhin Nachrichten empfangen. Zunächst handelt es sich lediglich um verzerrt übertragene Textfetzen wie "Sie werden unten erwartet." Also bleibt mir nichts anderes übrig, als ins Restaurant zu gehen. Das Hotel wirkt wie von Künstlerhand erschaffen, alles sieht nach Art déco am Reißbrett aus, aber es gibt auch seltsame Lücken und verstörende Details. Wieder bekomme ich eine Nachricht, die nicht unbedingt beruhigt: "Werde sie da rausholen. Lassen Sie sich nichts anmerken!"
Mit wem habe ich Kontakt? Unten in der eindrucksvollen Lobby warten weitere Roboter in Dienerhaltung, im Restaurant weist mich einer freundlich zu meinem Platz. Auf dem Boden davor entdecke ich Fußspuren und...getrocknetes Blut? Es gibt keine anderen Gäste. Irgendetwas stimmt hier aber mal gar nicht. Wieder eine Nachricht, dann spielt die Uhr verrückt, das Blut verschwindet und plötzlich meldet sich eine Frauenstimme. Sie nennt sich Cooper, will mir helfen und erklärt, dass ich gegen meinen Willen in diesem Hotel festgehalten werde. Ich soll das "Handy" auf keinen Fall der Belegschaft zeigen. Um zu entkommen, müsse ich aber alles tun, was sie mir sagt. Na toll! Als Erstes soll ich schnell zum Fahrstuhl gehen...
Also irre ich durch das menschenleere Hotel und muss die ganze Zeit über an Shining von Stephen King denken. Gerade weil an der Oberfläche alles so höflich und korrekt anmutet, beschleicht mich ein überaus mulmiges Gefühl - zumal die Kommunikation so echt wirkt. Sehr schön ist nicht nur, dass Cooper sich wundert und nachfragt, wenn ich nicht schnell genug ans Ziel gelange. Sie wirkt auch wie ein natürlicher Gesprächspartner, holt immer wieder tief Luft, scheint selbst überaus nervös zu sein. Während sie mit mir spricht, höre ich auch ihre Tippgeräusche - sie sitzt also irgendwo an einem Computer. Ich soll etwas Auffälliges an einer Tür finden, dann brauche ich noch ein Codewort dafür. Wo soll ich es finden? Es gibt keine Zielmarker, keine einblendbaren Hinweise oder leuchtende Gegenstände, lediglich die gesprochenen Anmerkungen, so dass ein angenehm authentisches Suchen beginnt.
Futuristische Farbenrätsel
Die Farbenrätsel werden immer komplexer.
Als ich beides gefunden habe, öffnet sich die Tür und ich gelange laut Cooper zu meiner ersten "Authentifizierungsaufgabe" - allerdings kann sie mich dort nicht erreichen, ich muss die Rätsel also alleine lösen. Hier zeigt
The Spectrum Retreat nach dem stimmungsvollen Erkunden sein Knobelgesicht: Man wandert durch futuristische anmutende Gänge mit leuchtenden Gittern und farbigen Würfeln, was ein wenig an
ChromaGun erinnert - zunächst gibt es nur Orange und Weiß. Mit Hilfe des kreisrunden Handys kann man eine Farbe aufnehmen, um z.B. durch Wände dieser Farbe zu gehen - bei falscher Farbe wird man blockiert. Dabei gilt, dass man die Farben immer direkt tauscht: Ist das Handy also Weiß, wenn man das Orange eines Würfels aufnimmt, wird dieser Weiß. Ziel dieser Aufgaben ist es, vom Start eines Levels an das Ende zu gelangen.
Was zunächst noch sehr einfach ist, wird mit jedem Abschnitt anspruchsvoller. Es gibt immer mehr Hindernisse und das Leveldesign wird verschachtelter: Es kommen Treppen, Nischen, hängende Apparate und schmale Schächte hinzu, durch die man per Sichtkontakt eine Farbe aufnehmen kann - man sollte sich die Architektur also gut ansehen. Man muss in mehreren
Erst wenn man mit seinem Handy eine Farbe aufnimmt, kann man durch Tore entsprechender Farbe gehen - hier braucht man Rot, um links durch das Gatter zu gehen.
Etappen das Weiß und Orange irgendwo aufnehmen sowie clever etwas einfärben, so dass man sich auch eine Reihenfolge einprägen muss. Spätestens wenn auch Brücken, Abzweigungen, mehrere Etagen sowie die Farbe Grün hinzu kommt, wird aus einem simplen Einfärbungsspiel ein komplexes Logikrätsel mit labyrinthischem Flair, das die Gehirnzellen ähnlich wie in
Portal 2,
The Talos Principle oder
The Witness zum Qualmen bringt.
Ab und zu findet man in diesen Gängen allerdings auch bruchstückhafte visuelle Erinnerungen, Dialogfetzen oder auch Texte aus der Vergangenheit wie etwa Atteste, die das eigene Gedächtnis fragmentarisch auffüllen. Hat man alle "Authentifizierungsaufgaben" einer Etage gemeistert, geht es zurück ins Hotel. Und man bemerkt erste Veränderungen: Plötzlich hängen ganz andere Bilder an den Wänden, die gar nicht mehr nach Art déco aussehen, sondern wie verschwommene Handybilder, die private Familienfotos und Ähnliches zeigen. Je weiter man spielt, je mehr Etagen mit Rätseln man meistert, desto mehr erfährt man über sein eigenes Leben und dieses Hotel - allerdings wiederholen sich dabei auch viele Laufwege, zumal man kaum interagieren kann. Gleichzeitig zieht die Dramaturgie allerdings an, indem Cooper immer nervöser und die Hotelroboter immer bedrohlicher werden. Trotzdem bleibt es bei diesem gefühlten Bruch zwischen der Erkundungs- sowie Rätselebene, zumal es in Letzterer keine Kommunikation gibt. Auch wenn die Story diese beiden getrennten Erlebnisse mit der Zeit verknüpfen kann, wird man erzählerisch nicht so tief ins Geschehen gezogen wie etwa in
The Talos Principle oder gar in
What Remains of Edith Finch.
Fazit
The Spectrum Retreat verbindet Elemente klassischer Mystery-Adventures mit anspruchsvollen Logikrätseln. Auch wenn es hier nicht um Horror geht: Während der Erkundung des Hotels entsteht ein angenehm mulmiges Gefühl, das mich mitunter an Shining erinnert hat, zumal die Spannung mit jeder gemeisterten Etage anzieht. Dort muss man knackige Farbenaufgaben mit teils labyrinthischem Flair lösen, die das logische Denken und Kombinieren fordern - und mit jeder Etage steigen Anspruch sowie Abwechslung. Bis auf einige wiederholte Laufwege sowie sterile Abschnitte gibt es wenig an der Oberfläche zu meckern, zumal die Kommunikation mit der einzigen Gesprächspartnerin angenehm natürlich wirkt. Zwar erreicht man unterm Strich nicht die Klasse eines Portal 2 oder The Talos Principle, die Story und Knobelei noch besser verbinden, aber Dan Smith und Ripstone Games ist ein stimmungsvolles Adventure gelungen, das für vier bis sechs Stunden gut unterhält. Im Laufe des Sommers soll es auch für Switch veröffentlich werden.
Pro
add_circle_outline interessante Mystery-Story
add_circle_outline sehr natürlich wirkende Kommunikation
add_circle_outline anspruchsvolle & abwechslunsgreiche Farbenrätsel
add_circle_outline stets steigender Schwierigkeitsgrad
add_circle_outline keine überflüssigen Hilfen, kein Blinken
add_circle_outline ansehnlich designtes Hotel
add_circle_outline klasse Sprecherin
Kontra
remove_circle_outline einige sich wiederholende Laufwege
remove_circle_outline sehr begrenzte Interaktion im Erkundungsmodus
remove_circle_outline gefühlter Bruch zwischen Erkundungs
remove_circle_outline & Rätselwelt
remove_circle_outline keine Kommunikation in Rätselwelt
remove_circle_outline keine deutsche Sprachausgabe
Wertung
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