Dieter Schmidt
Nur Leiden schafft LeidenschaftEine Kolumne von Dieter Schmidt, 30.10.2014

Geschafft! Schweißtropfen auf dem Touchscreen. Ich bade im Sternenhagel aller Joe-Danger-Collectibles und stemme meinen letzten Stern in die Höhe. 347. Das ist die Anzahl meiner Versuche. 347 Versuche… für ein einziges Level. Wenn man durchschnittlich etwa 40 Sekunden pro Versuch veranschlagt, komme ich auf knapp vier Stunden… für ein einziges Level. Damit kann ich mich also in die 0.2 Prozent aller Joe-Danger-Spieler einreihen. 99.8 Prozent aller Leser hingegen denken just: Was ist mit diesem Typen verkehrt?

Berechtigte Frage. Was treibt Spieler wie mich dazu, mich mit schwingender Peitsche selbst zu kasteien? Warum diese Aufopferung, wenn man doch schon das Spiel fluffig durchgespielt hat, nicht aber jeden Stern sein Eigen nennt, wobei jene Sammelwut erst die Eintrittskarte der digitalen Geißel ist?  

Diese Zeilen sollen ein Versuch sein, allen anderen 98.8 Prozent zu erklären, was die Beweggründe all derer sind, die mit Zweitnamen Sysiphus heißen und immer wieder den Stein mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad nach oben wuchten. Worin liegt die Antriebskraft in Spielen wie dem just erschienenen Lords of the Fallen oder in Binding of Isaac (gratis für alle Playstation-Plus-Inhaber im November) bis ans Äußerste zugehen? Ich spiele nicht jeden Dreck zur Perfektion.

Jeder, der die physikalischen Grundlagen von Joe Danger mit dem Doppelsprung, dem richtigen Timing beim Absprung, dem Hochsprung dank Federung und dem Boost in der Luft als ausbalanciert einstuft, wird in dem orchestralen Zusammenspiel jener Sprungelemente einen Zustand des Flows erleben. Als ob man von einer Welle mitgetragen, angetrieben von einer krankhaften Besessenheit, zum Zeitpunkt des Tuns alles um sich herum vergisst. Dieses eher westliche Bild kann aber auch durch ein asiatisches ausgetauscht werden: Gerade dort findet man überall die absolute Hingabe auf der Suche nach Perfektion. Devot. Niederkniend. Repetetiv. Und dann doch siegend. Weswegen auch viele japanischen Spiele so unglaublich bockschwere Passagen besitzen. Hier wird nicht einfach Tee eingeschenkt. Hier gleicht das einer Tee-Zeremonie, die man über Jahrzehnte perfektionieren muss.

Das ist der Pakt mit dem Teufel: Du opferst deine letzten Haare, deinen letzten Strang des Nervenkostüms, um dann doch inmitten des Gefechts die absolute Ruhe zu finden. Dort, im Auge des Orkans, dort ist auch die Begegnung mit einem selber. Was sich wie pathetischer Zen-Aufguss liest, birgt doch ein Funken der Wahrheit. „Warum tust du dir das an?“, höre ich meine Kollegen. Warum dieses Leiden? Ich habe mich das noch nie gefragt. Aber wenn ich skate oder snowboarde, dann hat das einen ähnlichen Leidenszwang. Immer wieder blutig aufstehen, gegen die Wand fahren und wieder aufstehen, bis man die Treppenstufen mit einem Varial-Flip bezwungen hat. Warum tun die das? Warum begeben sich Apnoetaucher in die Todeszone? Aus dem gleichen Grund wie wir 0,2 Prozent uns mit hanebüchenen Aufgaben abschwitzen. Wenn der totale Fokus auf dem Spiel liegt, die Anforderungen fordernd bleiben, dann spürt man sich auf eine wundersame Weise selbst. Teetrinkend mit dem faulen Schweinehund, dem Hasen als Ego und der zweifelnden Katze sitzt man als Alice im Wunderland seines Verstandes und übt sich in seiner eigenen Tee-Zeremonie.

In einer Spielewelt, wo Helden mit nur einem Knopfdruck 40 Meter hohe Gebäude raufspringen, Gegner mit härtester Rüstung und Raketenwerfern mit einem Hüsteln am Controller umfallen wie Streichhölzer, ist dieser unbarmherzige Weg manchmal eine wahre Befreiung. Versteht mich nicht falsch: Nach dieser Joe-Danger-Eskapade (Utra Hard Preview), tauche ich liebend gerne wieder in diese kuschelige leichte Welt von Ubisoft ein – wie nach dem Außenbaden im Winter mit anschließendem Grinsen, wenn man wieder ins Schwimmbad reingeht und in den Whirlpool steigt.  Aber manchmal muss es einfach das Leiden sein. Deswegen ist das Glücksgefühl umso größer, wenn ich mit Eike in FIFA 15 die Steilpasshilfe auf manuell schalte, wir mit Semi-Hilfen eine Passstafette aufbauen und dann dieser Lupfer über die Viererkette auch noch in ein Tor mündet. Da ist er dann wieder da, jener längst Vermisste: Gevatter Glücksgefühl klopft fast nie an den großen Triple-A-Pforten, er macht sich klein, klopft an diese kleine Joe-Danger-Tür und ich lasse ihn herein.

Vier Stunden Leiden für einen kurzen Glücksschrei? Nein. Vier Stunden voller Konzentration alles andere ausblendend als Apnoetaucher unter Wasser sitzend spielen, dann auftauchen und dann einen Glücksschrei in die Welt setzen. Das ist meine Erklärung.

Dieter Schmidt

Video-Redakteur

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