Jörg Luibl
Kampf gegen die SpieleflutEine Kolumne von Jörg Luibl, 07.04.2016
An diesem Morgen war nichts ungewöhnlich. Draußen der Regen, drinnen die übliche Stampede von Kollegen, die man schon am Gang erkennt. Ein Moin hier, ein Hallo da. Erste Anmerkungen zum Wetter. Schlechte Witze an der viel zu laut ratternden Kaffeemaschine. Dazu das Gequatsche über die letzten Fußballergebnisse. Ich höre mich etwas Geistreiches wie "Das Ding ist durch" sagen, als ich den Rechner hochfahre.

Im Posteingang schlummern hunderte Anfragen. Alles soll irgendwie "amazing" oder "brand new" sein. Und alles ist mindestens ein Rogue-Souls-Zelda-Schlagmichtot-like von irgendwelchen Triple-A-Refugees. Oder Studenten. Oder Kevin aus Sölde. Ich bereite gerade das Copy&Paste-Mantra ("Yes, you can send us a review code. But we can't guarantee any coverage.") vor, als es draußen grell blitzt. Der Regen klatscht an die Scheiben. Sind das noch Tropfen oder schon Schnecken?

Ich schau auf die Berichtplanung. Auf all die Titel, die wir in den nächsten Wochen besprechen wollen. Als ich in der Spalte mit den noch nicht verteilten Spielen scrolle, scheint sie kein Ende zu nehmen . Wo kommen die alle her? Wer soll das alles testen? Und noch viel wichtiger: Schaffen wir es, aus dieser Spieleflut die wenigen Perlen wie Salt and Sanctuary, Enter the Gungeon oder Hyper Light Drifter für die Leser zu bergen? Selbst kleine Publisher in Schweden werden mit Projekten überschwemmt, über den Himmel jagen wilde VR-Wolken in Hundertschaften. Jetzt donnert es. Na toll. Ich brauch einen Kaffee, will die Datei schließen - aber es klappt nicht.

Der Mauszeiger dreht sich wie eine irre Kompassnadel. Die Spalte wird tatsächlich größer, während die Liste automatisch weiter scrollt. Scheiß Excel! Wo ist eigentlich Mathias? Gerade hat er noch was vom HSV geseufzt, jetzt können wir nicht mal koop über die Technik jammern. Ich will zum Telefon greifen, als ich genauer hinschaue.  Hä? Da rasen gerade die Reihen 101, 102, 103, 104 an mir vorbei. Wieso stehen da noch Spiele drin? So lang war sie doch gar nicht...und warum werden da welche eingetragen? Es scheint Titel wie aus Geisterwolken zu hageln: Reflex, Labyrinth, Angels Fall First, Polaris Sector, Atlas Reactor, Heavy Gear, AVGN2, The Town of Light, Steamroll, Quar, Automation, Darkwood, The Culling, Deadbreed, Frozen State, Deliver us the Moon, Nitroplus Blasterz: Heroines Infinite Duel, Polybride...was zur Hölle?

Plötzlich kracht es. So laut, dass ich mich wie ein Kleinkind erschrecke. Ist das da hinten Rauch? Der Boden beginnt zu knarzen, die Bürotür schwingt auf und eine Lautsprecherdurchsage ertönt: "Vorsicht, Jörg! Sie kommen in hunderten Zeilen, sie kommen Schlag auf Schlaaaag über den Atlaaaaaaantik und von Pooooolen!"

Polen? Das war definitiv nicht die Hausverwaltung. Das hier ist auch kein fucking Brand. Das ist Marcels hysterische Stimme. Unser Newsmeister, der gar nicht in Hamburg, sondern in Home Office in Niedersachsen arbeitet. Das müssen Hallus ein. Oder ich werde bekloppt. Jedenfalls hatte ich gestern nur ein Bier. Okay, es waren zwei. Irgendetwas splittert, dann lautes Getrampel, erste Schreie und Detonationen. Ich springe auf, haste auf den Flur, traue meinen Augen nicht...

...Jan schwankt wie ein zerfledderter Seemann auf seinem Schreibtisch. Er wirft mit Kokosnüssen nach etwa zwanzig schlecht gezeichneten Point&Click-Kreaturen, die aus der zweiten Reihe von irre hüpfenden Mario- und Sonic-Klonen unterstützt werden. Micha hat sich hinter seinem Monitor verbarrikadiert und haut immer wieder mit einem Hammer auf die röhrenden Jeeps, Trucks und Formel-1-Boliden ein, die ihn ohrenbetäubend umkreisen. Sie werden von Need for Speed angeführt und halten auf einem Teppichhügel ein Dutzend apathisch grinsende Alltags-Simulationen in Reserve.

Ich schau nach rechts über den Flur: Ach du unheilige Scheiße! Da schlurft eine grotesker Mob heran, komplett in Schwarz. Survival-Horror-Klone, Hack&Slay-Bestien, Fantasy-Kitsch-Viecher, Warhammer-Ausgeburten - und ganz hinten die verdammt epischen Rollenspiel-Ungeheuer. Aber sie halten an. Sie teilen sich und ein knallbunter Riese mit zwei Köpfen, Trikot, Stutzen und Trillerpfeife zeigt auf mich: "Das Ding ist noch lange nicht durch! Los, komm her, dann kannst du FIFA und PES ausführlich vergleichen, während ich dich fresse!"

Mir wird schwindelig, als eine weitere Durchsage von Marcel weder journalistisch noch emotional beruhigt: "Sie habeeeen Kotakuuuuu und GameStaaaaaar komplett vernichtet! Kannst du daraus noch einen Teaaaaaaser für die Startseite macheeen, wenn du überleeeeebst?"

Ich fliehe reflexartig nach links, hetze in den Videoraum, schließe sofort die Tür, sacke schweißgebadet zusammen. Dann höre ich das Schmatzen: Ein Drei-Meter-Pikachu hockt im Schneidersitz mit blutroten Augen auf unserer Couch, tätschelt Alice' Kopf und wird dabei von Leon S. Kennedy gefilmt. Dieter sitzt neben ihr, stammelt etwas von "Es waren einfach zu viele...". Beide blicken verängstigt auf den Boden. Da wuseln hunderte, nein tausende Kreaturen wie Spinnen. Sie tragen alle winzige Displays, auf denen schlimme Trailer laufen, darunter Unboxing von Konsolen oder Special-Editions mit Ableckorgien.

Leon hantiert an der Kamera, bevor er sagt: "Jetzt bitte erst den Kopf dieser Lady abreißen, okay Pika?" Mir wird kotzübel, dann splittert die komplette Fensterfront. Aus einer Wolke aus Glas materialisiert sich Mathias im Captain-Qwark-Kostüm und Railgun. Er mäht erst Leon nieder, dann Pikachu. Als wäre ein Bann gebrochen springen Alice und Dieter auf, schnappen sich Stativstöcke und hauen wie wild auf die Videoviecher ein.  Als in einer Ecke vierzig schwer bewaffnete Anita-Sarkeesian-Reportagen zu einer klickstarken Bestie mutieren, wird es kurz still. Alice wuchtet den Feuerlöscher von der Wand: "Die nehm ich."

Das Blatt wendet sich! Marcel meldet sich über Lautsprecher: "Jööööörg, ist die Top-News schon online? Ich kann auch live covern - ihr macht das gut! Noch etwas durchhalteeeen: Ben und Jens sind unterweeeeegs!"  Das ist super, so haben wir alle Storytelling-Experimente, Hyper-Arcade-Action, Bioschocker, Asia-Grinder und Japano-Rollenspiele im Griff. Wer könnte uns noch helfen?  Mir kommt als Verantwortlicher im Sinne des Presserechts eine arbeitsrechtlich bedenkliche, aber nekromantisch hilfreiche Idee - Mathias nickt diabolisch. Dann rufen wir die Toten: Bodo, Paul, Sebastian und Eike graben sich wie Maulwürfe aus dem Teppich. Ist das schön, die Jungs zu sehen!

Wer soll uns jetzt noch aufhalten? Wir stürmen zu acht den Flur, gehen in Formation. Ein Bild wie eine Hymne! Das ist pures Dynamit für alles was da rundentaktisch, strategisch, arcadig, klassisch oder modern an Spielen kreucht und fleucht. Aus der Ferne hören wir Jan und Micha jubeln - hurra, sie leben noch, die Teufelskerle! Wir pflügen wie ein Keil durch den schwarzen Block, walzen alles nieder. Ich liebe dieses Team!

Plötzlich rollen überall Banner an den Fenstern herab, kleine Werbefallen poppen auf. Wir haben kaum mehr freie Sicht auf die Spiele, als auch noch Browser- und Free-to-play-Games wie Gift von der Decke tröpfeln und hanseatische Spiele-Mutationen mit ihren freundlich lächelnden Mikrotransaktions-Visagen auftauchen. Seelenlose Hüllen einer ehemals heroischen Zeit historischer Strategie. Wir schauen uns an. Wir sind alle fertig. Aber so werden wir nicht untergehen - nicht gegen dieses Gesocks! Ich greife mir einen Schild, nehme Haltung an: Hat jemand noch Estus?
 
Wieder eine Durchsage, aber diesmal ist es nicht Marcel. Es ist meine Frau:

"Jörg? Du kommst zu spät zur Arbeit..."


Jörg Luibl
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