Der totale eSports-Muffel
Regnet es Frösche? Kann es im April schneien? Oder bin ich in einem Paralleluniversum? Als gestern nach dem Start des ersten
PayTV-Senders für eSports die Schlagzeile aufflackerte, dass es auch eine europäische Liga mit Turnieren für den
Landwirtschaft-Simulator 19 mit 100.000 Euro Preisgeld geben soll, hab ich jedenfalls ganz genau aus dem Fenster geschaut. Mich der Realität vergewissert. Man kann ja nie wissen.
Aber ein Blick auf die stark gerunzelte Stirn von Mathias und unsere News bestätigte mir unzweifelhaft, dass man in der "Farming Simulator League" auch über kompetitives "Ballenstapeln" im 3vs3 nachdenkt. Man wolle der Welt "zeigen, dass Landwirtschaft tatsächlich Spaß machen und gleichzeitig wettbewerbsfähig sein kann." Obwohl ich jeden Tag mit zig Spielen zu tun habe, obwohl ich gestern erst zuhause in
At Sundown im familiären Kreis um die Wette gekillt habe, bleibt das für mich ein skurriles Rätsel.
Ich kann ja schon die Faszination an Live-Übertragungen von DOTA, Fortnite und FIFA nicht nachvollziehen. Früher dachte ich immer, das sei ein asiatisches Phänomen. Aber da straften mich spätestens die weltweiten Twitch-Übertragungszahlen der letzten Jahre Lügen. Auch die neuen digitalen Fußball-Teams gehen mir am Außenrist vorbei, obwohl ich selbst Fan des echten Fußballs bin. Es ist nicht so, dass ich gegen diese Entwicklung wäre. Aber warum lässt mich das Thema eSports bloß so unfassbar kalt?
Das hat zwei Gründe.
Zum einen ist es das digitale Zuschauen. Deshalb guck ich auch partout keine Let's plays. Ich kann das einfach nicht, anderen beim Spielen zusehen. Da hab ich einen Knacks weg: Als ich ein Knirps war und mein Onkel damals in den 80ern die erste Konsole anstöpselte, war das ein magischer Moment - da konnte man Tennis spielen, indem man einen Balken bewegte! Ich wollte nur noch ran an die Kiste. Aber das war nicht mein Geburtstag. Das war nicht mein Spiel. Außerdem durften erst "die Großen" (es waren verdammt viele) an diesen "komischen Apparat", der meiner Oma nicht geheuer war...seitdem muss ich immer selbst ans Gamepad, muss ein Spiel komplett für mich haben.
Zum anderen werde ich alt, bin Jahrgang 1973. Ich komme aus einer Zeit, als man entweder Fußball, Strategie oder Shooter gegeneinander gezockt hat. Mit Freunden noch Bomberman. Und vor allem gab es eine ludologische Apartheid mit klaren Grenzen: Eltern, Lehrer, Polizisten oder Landwirte waren weder so digitalisiert wie wir noch in irgendeiner Form für ein Deathmatch oder King of the Hill kompatibel.
Für sie regnete es Frösche, wenn wir nach dem letzten Headshot jubelten. Sie runzelten die Stirn, wenn wir Computer für eine LAN zu einem futuristischen Labyrinth verkabelten oder zwischen Chipstütenhügeln und Dosenbierpyramiden die erste Hälfte des Tages NBA Jam rockten und dann bis spät in die Nacht mit Kettensägen und Pumpgun durch düstere Keller marschierten. Okay, so ganz Black Metal war das alles nicht.
Aber als Hardcore-Zocker lebte man gerne sein Klischee. Man fühlte sich auf eine gewisse Art rebellisch und wollte sicher nicht zur Primetime mit Sponsoren-Logo ins Fernsehen oder gar im Sessel zuschauen, sondern selbst in eine andere Welt fliehen. Die sollte absolut nix mit dem nervenden Alltag, der langweiligen Schule oder Arbeit zu tun haben, sondern Abenteuer und Nervenkitzel bieten. Hätte uns 1990 jemand einen "Landwirtschafts-Simulator" gezeigt, hätten wir das für ein Experiment eines verwirrten Informatikers oder eine perfide Spionage-Software der Sowjetunion gehalten, die zur geistigen Entmilitarisierung beitragen soll.
Rein kulturell ist die ludologische Demokratisierung samt eSports-Boom siebzehn Jahre nach Erfurt natürlich ein Grund zum Jubeln. Mittlerweile zocken Eltern mit Kids wie selbstverständlich, Lehrer nutzen Spiele im Unterricht und man kann natürlich Game Design studieren. All das ist richtig cool! Auch wenn es immer noch ein paar
Tiefflieger gibt: Die Gesellschaft hat eine hysterisch geführte Gewalt-Debatte überwunden und ein weiteres Medium hinzu gewonnen, das sich endlich ohne Vorurteile entfalten kann.
Und wenn sogar die Simulation des Alltags derart fasziniert, ist das Spiel nicht nur in der Mitte, sondern tatsächlich überall in der Gesellschaft angekommen - auch da, wo sich Fuchs und Hase ohne WLAN gute Nacht sagen. Also fahrt eure Traktoren und Mähdrescher auf Weltmeisterschaften um die Wette. Schaut den Leuten in Stadien zu, wie sie sich digital den Ball oder das Leben abjagen. Ich freue mich für diese Generation, die das Spiel in dieser medialen Selbstverständlichkeit erlebt.
Aber ich bleibe der totale eSports-Muffel.
Jörg LuiblChefredakteur