Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 21
Donnerstag, 23.05.2019

Das Spiel, das offene Versprechen


Niemand weiß genau, wann das eigentlich anfing - das mit der offenen Welt in Spielen. Wenn man ganz tief gräbt, landet man in den 80er Jahren, in der glorreichen Pionierzeit. Und da streiten sich einige Klassiker darum, dieses Prinzip begründet zu haben: War es Elite aus dem Jahr 1984? Oder war es The Legend of Zelda oder gar Pirates! aus dem Jahr 1987?

Darüber darf man gerne streiten, zumal es ein Problem gibt: Bis heute kann niemand die offene Welt definieren - also juristisch und ludologisch einwandfrei. Das ist vielleicht gut so, denn Faszination kann man ja auch nicht in eine Schublade packen. Ich fühlte mich in allen genannten Klassikern irgendwie frei. Aber das ist etwas Diffuses, das jeder anders empfindet. Zumal auch lineare Abenteuer dieses Gefühl vermitteln können.

Trotzdem wirken diese offenen Welten auf andere Art anziehend. Vielleicht auch, weil sie so viele Versprechen in sich vereinen: Neben der Freiheit tummeln sich da Weite, Vielfalt, Reise, Wettbewerb, Sammeln, Entdeckung, Interaktion, Flucht, Kampf, Reaktion, Rollentausch, Gesetzmäßigkeiten, Entwicklung, Grenzenlosigkeit. Jeder scheint sein Ding machen, sein Abenteuer erleben zu können.

Grand Theft Auto 3 und Minecraft gehören zu den erfolgreichsten und prägendsten Varianten dieser Spielart. Gerade die Unterschiede zwischen der Popkultur-Anarchie von Rockstar und dem Fantasy-Baukasten von Marcus Persson zeigen aber auch, welche kreativen Universen zwischen offenen Welten liegen. Vom Makrokosmos der berauschenden Action zum Mikrokosmos einer simulierten Natur. Das weite Spektrum reicht von Forza Horizon bis The Elder Scrolls, von Just Cause bis Gothic, sogar von Super Mario Galaxy bis Shadow of the Colossus.

Worin liegt die Anziehungskraft im Kern? Was würden Physiker, Biologen oder Philosophen dazu sagen? Man könnte das Höhlengleichnis von Platon - etwas plump - umwandeln: Die Faszination läge dann im Aufstieg aus der "sinnlich wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge" in die rein digitale "Welt des unwandelbaren Seins". Da ist man, befreit vom Alltag und beseelt von Spielspaß, ein Mario, Ezio, Geralt, Arthur Morgan oder - um mal wieder aus dem Elfenbeinturm rauszukommen - ein Wanderer im bugverseuchten West Virginia.

Fallout 76 ist nur ein Beispiel dafür, dass offene Welten oft zu viel versprechen und dass das qualitative Elend viel näher sein kann als irgendeine Befreiung. Man könnte von Dragon Age: Inqusition über Ghost Recon Wildlands bis Test Drive Unlimited viele andere aufzählen, die alle unter anderen Defiziten krankten, die auch Spiele mit Grenzen torpediert hätten. So mancher böse Geograph könnte zudem einwenden, dass es eigentlich gar keine offene Welt gibt - irgendwann latscht, reitet oder fliegt man ja immer an eine Grenze. Je länger es bis zum Aufprall dauert, desto lauter wird im Vorfeld gejubelt!

Die offene Welt hat sich zwar erfolgreich etabliert, aber in dieser Spiele-Ära einen schlechten Ruf als Wiederkäuer und Gleichmacher erarbeitet - ähnlich wie davor der Shooter. Für viele ist sie ein Monster namens Open-Crafting-Collecting-Survival-RPG-World, eine aus zig Gliedern zusammen geflickte Spieldesign-Kreatur, die gemieden wird. Dabei kann auch sie eine innere Glaubwürdigkeit entwickeln.

Woher kommt die Ernüchterung? Die aktuelle Kritik richtet sich meist gegen "Open-World", weil es natürlich eine etablierte Bezeichnung  ist. Aber sie meint nicht immer das Prinzip per se, sondern meist die Umsetzung. Zum einen geht es um die vielen Wiederholungen in zu kurzer Zeit: Assassin's Creed und FarCry seit Teil 3 symbolisieren das Hamsterrad des ewig Gleichen. Die Ermüdungserscheinungen wurden immer größer - die so genannte "Ubiformel" war geboren, so als könne man Spiele aus dem Reagenzglas entwickeln. Und genau das ist ja auch passiert. Es ging eher um die Zutaten als um die Seele.

Aber die Franzosen tragen gar nicht die alleinige Schuld - ihr Assassine hat das technische Niveau angehoben, sogar unterhaltsame Facetten kultiviert und eine Symbiose zum Action-Adventure versucht, also das GTA-Prinzip erweitert. Streng genommen könnte man auch Minecraft dafür anklagen, dass man in Fallout 4 ein Lager baut und in Days Gone etwas bastelt. Wo man auch immer nach Wurzeln sucht: Ein weiterer Grund für das schlechte Image sind die vielen ähnlichen Spieldesign-Schablonen. Sammelei, Crafting, Survival, Building, Stealth und spätestens seit 2017 auch immer wieder Rollenspiel - alles ist irgendwie überall drin, aber meist als erkennbare Kontur, nicht als spürbare Struktur.

Man kann Spuren des Hexers z.B. im aktuellen Zelda oder Horizon Zero Dawn finden. Aber auch The Witcher 3 zeigt einige Elemente von den "Radiant Quests" bis zum "Environmental Storytelling" aus The Elder Scrolls & Co - lange Zeit war Bethesda auf diesem Gebiet der erfolgreiche Taktgeber. Und gerade das sind, zumindest in unserem Archiv, alles gute bis ausgezeichnete Abenteuer. Also liegt die Faszination doch in der Fülle der Möglichkeiten? In der Verbesserung durch Nachahmung? Das Phänomen der gegenseitigen Anpassung und Angleichung ist ja normal. Nichts im Spieldesign basiert auf Revolutionen, alles ist im besten Fall eine Evolution.

 Nicht nur in der Geschichte der Menschheit, auch in der Spielewelt wird das Erfolgreiche sehr oft übernommen - und damit dominant, kulturell prägend. Man kann es als "Genresynkretismus" bezeichnen, den man auch aus Film, Musik & Co kennt. Oder anders: Merkmale verschiedener Genre werden in einem neuen Werk vermischt. Das kann zur qualitativen Verwässerung führen, wobei vor allem die gefühlte Leblosigkeit der dargestellten Masse ein Problem für alle darstellt, die mehr wollen als weitere Schauplätze. Man will nicht nur an der Oberfläche treiben, von Rom bis nach Walhalla oder Andromeda, sondern versinken. Die Magie entsteht erst in der Tiefe, wenn man nach zig Stunden noch Zusammenhänge und Weltgesetze entdeckt.

Aber da hat sich einiges getan, da ist viel passiert, wenn man z.B. an The Legend of Zelda: Breath of the Wild denkt. Das war auf den ersten Blick nichts anderes als eine frische Komposition bekannter Aspekte, aber es fühlte sich trotzdem so verdammt anders an, weil man freier loslegen konnte. Und in welchem anderen Spiel fühlt man sich wirklich so vor Ort wie in einem Red Dead Redemption 2, dass man sich einfach nur staunend umschaut? Plötzlich ist es gar nicht mehr die globale Weite wie einst in GTA, sondern die lokale Fülle um einen herum, die einen begeistert. Rockstar war sogar so rebellisch, dass man gegen den schnelllebigen Zeitgeist und die vom Smartphone bis zur 4K-Mattscheibe etablierte Sekundentaktbeute für E n t s c h l e u n i g u n g sorgte.

Auch Yakuza 6 erzeugt auf ähnliche Art dieses Mittendringefühl, das man vor zehn, fünfzehn Jahren noch vergeblich suchte. Einige Entwickler können mittlerweile nicht nur ein Netz aus Straßen oder Landschaften, sondern auch glaubwürdige Milieus und ein Figurenverhalten spinnen, so dass offene Welten lebendiger und dichter wirken. Man denke auch an EVE Online, in dem man sich wie ein kleines Zahnrad in einer galaktischen Wirtschaft fühlt. Selbst in einem The Division 2 erlebt man eine Verdichtung von Aktion und Reaktion im Umfeld, die man so nicht erwartet hatte.

Rockstar hat im Wilden Westen einen beeindruckenden Anfang gemacht, Cyberpunk 2077 könnte gerade für Rollenspieler, die selten ihren Frieden in der Weite finden, einen weiteren Impuls dafür liefern, dass sich offene Welten auch in einzelnen Situationen noch "intimer" anfühlen - die Tendenzen sind erkennbar. Auch wenn ich die Kritik an offenen Welten en detail nachvollziehen kann und persönlich die clevere Vernetzung von kleinen Arealen à la Dark Souls bevorzuge, haben mich einige von ihnen richtig gut unterhalten. Das Prinzip ist und bleibt eine Kernfaszination, die sich im steten Wandel befindet.

Nicht ohne Grund ist Star Citizen aktuell die mächtigste Vision dieser Branche, für die über zwei Millionen Menschen mit über zweihundert Millionen Dollar in Vorleistung gegangen sind. Zwischen der Ankündigung im Oktober 2012 und der Alpha 3.5 liegen jetzt sieben Jahre! Als würden die Leute tatsächlich die Geduld für eine reale Reise in ein anderes Universum aufbringen.

Kein anderes Medium als das Spiel könnte diese Bereitschaft und Anziehungskraft erzeugen. Und kein anderes Prinzip als die offene Welt scheint so etwas wie das ultimative Versprechen zu sein.

Jörg Luibl
Chefredakteur

Mehr zum Thema offene Welt findet ihr im aktuellen 4Players-Talk mit Micha, Mathias und Jörg.

 

Kommentare

NomDeGuerre schrieb am
4P|T@xtchef hat geschrieben: ?27.05.2019 15:40 Jup, und soziale Interaktion zu simulieren, also Nebencharaktere mit überraschenden Dialogen und Aktionen, ist eine große Kunst. Wir hatten immer die besten Pen&Paper-Runden, wenn einige das "Schauspiel" ihres Charakters wirklich ernst nahmen - also voll in der Rolle aufgingen.
Das führte bei uns zu dem ein oder anderen gruppeniternen Showdown. Aber was kann ich dafür, dass die anderen meine Art der Beuteaufteilung als Diebstahl ansehen?
Für mich ist ein guter Leiter in der Lage, auf die Gruppe zu reagieren. Wird die Geschichte gekippt, dann ist das eben so und man erschafft gemeinsam eine neue.
Diese Freiheit ist für mich Kernelement und wohl auch ein Grund dafür, dass mich vieles abseits von P&P nicht annähernd so fasziniert. Das, und dass der Leiter Meister genannt wird.
AD&D- und fasasozialisiert.
Jörg Luibl schrieb am
Jup, und soziale Interaktion zu simulieren, also Nebencharaktere mit überraschenden Dialogen und Aktionen, ist eine große Kunst. Wir hatten immer die besten Pen&Paper-Runden, wenn einige das "Schauspiel" ihres Charakters wirklich ernst nahmen - also voll in der Rolle aufgingen.
Sharkie schrieb am
4P|T@xtchef hat geschrieben: ?27.05.2019 10:03 Natürlich ist das große Ganze des Weltdesigns wichtig. Das Schwierige ist aber gleichzeitig darin ein Milieu der glaubwürdigen kleinen Dinge zu inszenieren. Das ist auch die Herausforderung für einen Spielleiter in einer Pen&Paper-Runde.
...und dann gibt es Pen&Paper-Runden wie die meinige, in der die Spieler jeden Einkaufsbummel so sehr mit "glaubwürdigen kleinen Dingen" füllen, dass die Rolle des Spielleiters eher darin besteht, behutsam aber bestimmt aufs Gaspedal zu drücken, damit das dreiseitige Kurzabenteuer nicht wieder fünf volle Abende unserer rar gesäten Spielzeit verschlingt. Manchmal obskur, ja, aber ich würde es gar nicht anders haben wollen. :Vaterschlumpf:
Auch daran mag man eine gute Open World erkennen - man spielt gerne darin, auch ohne jederzeit primär ein konkretes Ziel stringent zu verfolgen. Man möchte nicht damit fertigwerden, man möchte sich darin ausleben, oder anders gesagt (5? ins Phrasenschwein): Der Weg ist das Ziel.
Zudem verweist obiges Beispiel auf einen weiteren Aspekt offenen Gamedesigns, der viel zur Motivation beitragen kann: Ein ausuferndes Charakterspiel ist überhaupt nur deshalb möglich, weil die Spieler dermaßen in ihre jeweils dargestellten Charaktere verliebt sind, dass sie quasi ständig motiviert sind, auch Nebensächlichkeiten und Details so auszuspielen, dass sich ihre Charaktere darin individuell wiederspiegeln. Auch in Computerrollenspielen kann Immersion und Motivation effektiv dadurch gesteigert werden, dass ein offenes Ausspielen unterschiedlicher Charaktere (hier nicht nur als Synonym für "Spielfiguren" gemeint, sondern durchaus im Wortsinn zu verstehen) ermöglicht und gefördert wird, was letztlich eine wichtige Komponente der in der Kolumne und auch hier im Thread geforderten Inszenierung sozialer Interaktion ist. Klassenprimus in dieser Hinsicht ist sicher nicht Ultima VII, sondern eher Vampire: Bloodlines oder vielleicht Fallout oder Baldur's Gate 2.
Jörg Luibl schrieb am
Da kommt noch einiges zum Thema Rollenspiele.;)
Die teilen sich ja durchaus einige Probleme mit offenen Welten - und überschneiden sich in den Zielen.
Das "Rollenspiel" entzieht sich z.B. auch einer Definition. Der Begriff ist schon viel länger im Wandel. Eigentlich steht das Genre für eine Idee, mit der jeder andere äußere Systeme verbindet, je nachdem wie man von DSA, D&D bis WoW, EQ, DQ oder FF rollenspielsozialisiert wurde. Aber den meisten geht es um ein stimmungsvolles Abenteuer im weitesten Sinne. Weil das vielen so heilig ist, wird so leidenschaftlich darüber debattiert, was denn genau drin sein muss, damit es "echt" ist.
Interessanter ist für mich, was Rollenspielen aller Art immer noch fehlt, damit das Innere überhaupt eine Anziehungskraft auslöst - und die kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal erlebt man ein 100-Stunden-Epos, sammelt XP, Gold, Ausrüstung und steigt 100 mal auf, aber wird nicht einmal in einem Gespräch überrascht, von einer Szene vereinnahmt oder besucht nicht eine lebendige Taverne.
Natürlich ist das große Ganze des Weltdesigns wichtig. Das Schwierige ist aber gleichzeitig darin ein Milieu der glaubwürdigen kleinen Dinge zu inszenieren. Das ist auch die Herausforderung für einen Spielleiter in einer Pen&Paper-Runde. Selbst wenn er das beste Regelwerk sowie hundert Karten, Zufallstabellen, Figuren und Würfel vor sich hat, wird man eher Wegpunkte abgrasen als ein Abenteuer erleben, wenn er Szenen nicht mit Fantasie füllen kann.
Templar schrieb am
Ultima89 hat geschrieben: ?25.05.2019 19:16 Das wäre vielleicht mal ein Thema für Jörg`s nächsten Artikel :D
Habe ich mir auch schon gedacht... Und ja, leider fällt mir bzgl. moderner Beispiele auch nichts ein, was ziemlich tragisch ist.
schrieb am