Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 38
Freitag, 23.09.2005

Das Klischee schlägt zurück


Alles ist still. Die Stadt schläft. Während sie leise döst, krepiert mein PC langsam. Der Monitor flackert wie eine blaue Blume. Grell und giftig starrt mich ein Kernel_Data_Inpage_Error an. Es gibt Tage, da läuft alles schief. Man kann einen PC, Konsolen und Handhelds im Haus haben - überall ist der Wurm drin. Erst die seltsamen Abstürze, dann die Verbindungsabbrüche über Xbox Live und schließlich der leere DS. Mein Aufladegerät? Verliehen. Was sonst.

Es ist einer dieser Bluescreen-Tage. Alles streikt. Nichts geht. Draußen regnet es in grauen Strömen. Mitten im Sommer. Wann sonst. Es wird stickig in der Wohnung. Ich kann nichts zocken, nicht entspannen, ich muss raus. Als die ersten Blitze zucken, ziehe ich den Netzstecker, quäle mich fluchend in meine Jacke und stürze in die Nacht, hungrig nach Spielspaß.

Trotz der feuchten Frischluft sehe ich alles durch die Zockerbrille: Der Regen hämmert in Echtzeit auf meine Schulter, der Dunst wabert partikelfroh, die Autos fahren ruckelfrei - blöde Phrasen, wunderbare Welt. Im echten Leben gibt's eben keine Grafikfehler, keine Abstürze. Aber es gibt Spielhallen mit ewig blinkenden Automaten und Highscore. Die letzten Reservate der Arcade-Zeit. Da will ich hin.

Was ist das denn? Mein Arm ragt zwanzig Zentimeter in eine Wand! Das ist doch guter Beton. Ist das Clipping, oder was? Ich hab wohl Hallus. Nur weg hier. Ich hetze um die Ecke, renne über die Straße, halte an einer Ampel. Plötzlich verschwimmen die Texturen, alles flackert in einem kunterbunten Pixelbrei: Rot, Grün und Gelb umschwirren mich wie Bienen.

Dann erscheint diese Frau. Sie schaut mich an. Meine Sinne sind gespannt. Sie kommt langsam näher. Ihre Hüfte wiegt sich im Takt, ihre Blicke tanzen lasziv - eine lächelnde Göttin in Slow-Motion. Kalt und verführerisch. Wow. Die rasant abnehmende Hitpointleiste unter mir nehme ich gar nicht wahr, weil ich im Angesicht der viel zu perfekten Lady auf eine philosophische Ebene schwebe:

Ist das nicht das wahre Spiel? Das einzige Spiel für uns Männer? Darauf sind wir programmiert, das ist unsere biologische Hauptquest: Jagen und Fortpflanzen. Was interessieren mich Norrath, Kalimdor oder Pro Evolution Soccer? Wozu brauche ich eine blöde Maus und diesen Monitor? Da schnurrt eine Katze im Großformat. Und gleich ist sie da. Noch wenige Schritte …

… aber irgendetwas stimmt nicht: Wieso ist das alles so einfach, so platt? Und wieso beugt sie sich so seltsam steif zu mir? Nein, sie ruckelt regelrecht! Ihre bleichen Arme sehen aus wie schlecht montierte Gelenke und: Sie hat kein Gesicht. Sie hat verdammt noch mal kein Gesicht! Und was ist das bitte für ein ballistischer Wackelpudding? Boob Bouncing in schlecht. Ihr Mund ist nicht mehr als ein blutrot glänzender Pixelfleck. Jetzt haucht sie mich lippenasynchron an - von der künstlichen Stimme ganz zu schweigen:

"Ich bin dein Klischee."

Was soll das jetzt heißen? Dann geht alles ganz schnell: Ihre Hand berührt mich, nestelt an meinem Gürtel, greift zu. Es macht Klick. Es tut weh. Ich schreie. Ich wache auf. Ich will den Traum abschütteln. Ich will aufstehen und pralle direkt gegen eine Scheibe - 19 Zoll groß, hart und unnachgiebig. Verdammt. Ich bin nicht im Bett, sondern im Monitor.

Dann kommt sie, die gesichtslose Gürtelgreiferin. Sie fährt mit dem Mauszeiger über mein Gesicht, meine Arme, meine Beine. Rechts von mir blinkt etwas: "Editor". Bitte was? Sie klickt mich an. Erst zaghaft, dann immer wilder. Sie zerrt und zieht an mir, zieht mich an und aus, verpasst mir lila Hosen, Federhüte und Blumenhemden. Die Frau scheint weder Geschmack noch KI zu haben. Mein Gesicht verformt sich, meine Haare färben sich, meine Muskeln straffen sich, ich wachse - nein: ich mutiere.

Nach einer halben missbrauchten Ewigkeit lässt sie von mir ab. Im Spiegel des Monitors erkenne ich eine Mischung aus Clooney, Cruise und Travolta. Warum gerade die? Scheiße, ich hasse die Kerle. Ich hasse diesen Tag. Und ich hasse diese Frau.

Plötzlich lächelt sie wieder. Dann speichert sie ab und zischt:

"Jetzt bist du mein Klischee."


Jörg Luibl
4P|Chefredakteur


PS: Da die Kolumne quasi ein experimentelles Nachbeben zum letzten Spielkulturthema "Frauen über Spiele" ist, lohnt sich vielleicht noch ein Blick auf diese Gastbeiträge:

Wir sind die Zielgruppe! Weibliche Produkte in einer männerorientierten Branche von Helga Maria Kofler.

Warum Frauen keine Videospiele mögen von Maral Haar.

Das dumme Geschlecht von Nina Ernst.

Die Frau im Spiel - oder: Wo Emanzipation ein Fremdwort ist von Kirstin Engemann.


 

Kommentare

GamepadPro schrieb am
Watchful_Eye hat geschrieben:
dist0rbenz hat geschrieben:
4P|T@xtchef hat geschrieben:Es war wirklich nur grasgrüner Tee.
yop yop
ich versteh schon
:lol:
Du hast eine knapp 4 1/2 Jahre alte Anspielung jetzt schon verstanden? Nicht schlecht :P
nix anspielung!
grasgrüner Japan Sencha - da lief vor einigen wochen eine doku auf arte:
http://www.youtube.com/watch?v=A12_4Yw635Y
maho76 schrieb am
jörg Bukowski oder was?^^
nicht mal schlecht, nicht mal schlecht... nur zu zahm, aber hier sind ja auch minderjährige anwesend. ;)
dist0rbenz schrieb am
Achso.. is des schon so alt ^^
Habs gestern zum ersten mal gelesen...
Dafür wars doch aber schnell, oder? :-D
Watchful_Eye schrieb am
dist0rbenz hat geschrieben:
4P|T@xtchef hat geschrieben:Es war wirklich nur grasgrüner Tee.
yop yop
ich versteh schon
:lol:
Du hast eine knapp 4 1/2 Jahre alte Anspielung jetzt schon verstanden? Nicht schlecht :P
dist0rbenz schrieb am
4P|T@xtchef hat geschrieben:Es war wirklich nur grasgrüner Tee.
yop yop
ich versteh schon
:lol:
schrieb am