Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 38
Freitag, 22.09.2006

Das Phänomen Japan.


Wenn man an Japan denkt, wird man schnell von einer Flut an Fakten, Klischees und Merkwürdigkeiten bedrängt. Spätestens wenn man in der Tokioter Metro sitzt, klopfen, schlagen und trommeln sie so lautstark, dass es kaum auszuhalten ist. Sie wollen mit aller Macht auch diese Kolumne stürmen. Widerstand ist zwecklos, denn dieses Land ist schier unerschöpflich an Eindrücken. Am besten lasse ich sie alle durch, dann ist der Kopf nach dem Jetlag frei - festhalten, Japan kommt ungefiltert, Gegensätze haben Vorfahrt:

Da kämpfen stolze Samurai und dort hinten stromern Schlüpferfetischisten. Irgendwo gibt's zügellos gezeichneten Tentakelsex und woanders eine strenge Teezeremonie. Ich höre das laute Geratter der Pachinko-Automaten, fühle mich in der hoffnungslos überfüllten U-Bahn wie eine Gaijin-Sardine, lasse mich in der Masse treiben und staune über die Hässlichkeit der riesigen Betonhochhäuser. Irgendwo steht ein einsamer Schrein, wunderschön verziert mit winzigen Bonsais. Ein Rentner spielt Nintendogs. Es ist laut. Ein Junge trainiert Kendo. Es ist leise. Ich schaue mir asiatisches Sumoringen an, danach amerikanischen Baseball. Wasser plätschert. Plötzlich bebt die Erde, zur Beruhigung wird mir Sushi am Fließband mit reichlich Sake serviert. Die Geisha lächelt, mein Kopf brummt, ich bin durch.

Ist euch schwindelig? Kein Wunder: Eine Achterbahnfahrt zwischen Tradition und Moderne - das ist Japan. Was hat das mit der Spielewelt zu tun? Verdammt viel. Denn ohne diese Tour der Widersprüche, die in ebenso eleganten wie scharfen Kurven durch hypermoderne und klassische Wesenszüge führt, wären der Reichtum an virtueller Kreativität, wäre diese magische Anziehungskraft nicht denkbar. Das Blöde ist nur, dass jeder Gedanke an Games und Japan wieder eine Stampede an Eindrücken auslöst. Auch sie wollen diese Kolumne überrennen. Ihr kennt sie alle, sie beherrschen euch und jeden, der mal ein Gamepad in der Hand hatte, aber vielleicht ist es mal gut, sie in einer Herde donnern zu lassen:

Sony. Nintendo. Miyamoto. Sega. Sonic. Shenmue. Konami. Frogger. Capcom. Resident Evil. Tecmo. Breath of Fire. Kawashima. Yoshi. Namco. Bandei. Square. Tekken. Advance Wars. PlayStation. NES. SNES. N64. Silent Hill. Onimusha. Afterburner. Soul Calibur. Donkey Kong. Mega Drive. ICO. Pac-Man. Zelda. Metal Gear Solid. Snake. Mario. Peach. Final Fantasy. Dead or Alive. Kengo. Pro Evolution Soccer. GBA. DS. PSP. Monster Hunter. Shadow of the Colossus. PlayStation 3.Wii.

Überrollt von virtueller Power, gegen die Deutschland zum Entwicklungsland schrumpft. All das kommt aus Japan. All das beeinflusst unsere Gegenwartskultur wie Sushi oder Sudoku. All das hört sich verdammt modern an. Aber wenn man genauer hinschaut, steckt hinter jedem Namen nicht nur Spielefresserspaß, sondern auch jede Menge Tradition. Überall findet man verbindende Elemente in die Vergangenheit dieses Landes, spürt weit gespannte Leitungen zu den Wurzeln Nippons auf. Jedes Spiel öffnet eine Tür in die Geschichte. Und das ist ein kulturhistorisches Phänomen. Denn man könnte meinen, dass die virtuelle Unterhaltungswelt schon dermaßen globalisiert ist, dass man von charakteristischen Merkmalen nicht mehr sprechen kann.

Die Japaner zeigen auf der einen Seite eine gewisse Gnadenlosigkeit in ihrer Fantasie, sie können die Tore zu den grauenhaften Untiefen der Psyche weit öffnen. Heraus kommt feinster Survival-Horror der Marke Silent Hill, Project Zero oder Forbidden Siren. Ist es ein Zufall, dass auch der japanische Horrorfilm als der erbarmungsloseste gilt? Auf der anderen Seite sind sie Meister des niedlichen Kulleraugenkitsches, der in heiterster Naivität nicht nur Kinder fesselt, sondern sogar die Mode prägt - Hello Kitty & Co lassen grüßen. Schwarzweißes Grauen hier, kunterbunte Träume und eine schier unerschöpfliche Fülle an freundlichen Figuren da. Egal ob Werbung, Metro oder Zeitung: überall lächeln Comicwesen.

Gewalt in Spielen ist auch kein großes moralisches Thema. Der Krieg und vor allem seine ausführende Kaste genießen immer noch hohes Ansehen. Spiele wie Dynasty Warriors oder Onimusha, in denen man sich von einer kitschigen Story begleitet durch Hunderte Feinde pflügt, symbolisieren das. Historische Shogune wie Nobunaga oder Jeyasu treten als Dämonen auf. Der Samurai und Bushido, der Weg des Kriegers, haben eine wesentlich lebendigere Bedeutung als etwa der angestaubte Ritter, Karl oder Barbarossa bei uns. Gibt es ein ähnliches martialisches deutsches Nachkriegs-Phänomen? Vielleicht den Schützenverein. Oder den Berufsverkehr.

Es gibt und gab auch ein paar auffällige historische Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Japan: die Vorliebe andere Völker zu überfallen, großartige Literatur, der Hang zu Bürokratie, Sauberkeit und Ordnung, die Folgsamkeit in der Masse, schlimme Kriegsverbrechen, erstklassige WM-Stadien, die Niederlage im Zweiten Weltkrieg, die amerikanische Demokratisierung, Probleme mit der Vergangenheitsbewältigung, das Wirtschaftswunder, den fleißigen Autobau und Export, die Reiseverrücktheit. Aber das wars auch schon an Oberflächlichkeiten.

In der Tiefe ist Japan der Beweis dafür, dass sich der Charakter eines Volkes nicht nur in der Musik oder Literatur, nicht nur in Sitten und Gebräuchen, sondern auch in seinen Spielen zeigen kann. Es gibt hier nicht diesen historischen Bruch zwischen Tradition und Moderne. Im Gegensatz zu Europa wurden die heidnischen Götter, Kulte und Gebräuche nicht vom Christentum dämonisiert. Mit dem Buddhismus kam zwar um 600 n.u.Z. eine neue Religion vom Kontinent, aber es gab keinen Glaubenskrieg, keine Hexenverbrennung, keine Kirchenspaltung. Beides existiert bis heute in stiller Eintracht nebeneinander; genau so wie Kalligraphie und Spieledesign, wie Katana und Gamepad.

Wenn man verstehen will, wieso alte und neue Götter auf dieser pazifischen Inselgruppe diese Symbiose eingehen, wieso Japaner so eine ausgesprochene Vorliebe für fantastische Kreaturen in hunderten Ausführungen haben, hilft ein Blick auf die Religionsgeschichte, auf den Shintoismus, dem etwa 85% der Bevölkerung anhängen. Was verbirgt sich dahinter? Der Glaube an die Beseeltheit der Natur, an heilige Steine, Bäume und Quellen, an zigtausend Geister und Dämonen. Das ist noch nichts spezifisch Asiatisches: auch die Kelten, Germanen und Slawen kannten das. Selbst Goethe stand diesen Gedanken als Pantheist nahe.

Aber diese uralten Beziehungen leben in Japan weiter, dringen auch heute noch überall an die Oberfläche, in zig Festen, Filmen wie Prinzessin Mononoke oder der rituellen Shinto-Begrüßung neuer Roboter in Firmen. Und auch in Spielen leben sie weiter: Man nehme Pokemon. Man nehme Monster Hunter. Man nehme Final Fantasy, Okami oder zig andere. Diese Spiele bergen nicht nur Programmcode in sich, sondern zahllose Essenzen der Vergangenheit. Diese Verbundenheit zur Natur, diese Fülle an widersprüchlichen Wesen, diese kindliche Neugier gegenüber allem Futuristischen, Gewaltigen und Hightech.

Während Sony-Chef Ken Kutaragi den Segen der hypermodernen Cell-Technologie und seine Vision der Vernetzung prophezeit, wird ein paar Blocks weiter uralten Göttern an Schreinen gehuldigt. Vielleicht ist das der große Unterschied zu unserem Land: diese erstaunliche Kontinuität, dieser mentale rote Faden vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit. Man stelle sich vor, in Berlin würde in der Mittagspause neben dem Bundestag noch mal schnell ein Opfer an Wotan oder Donar gebracht...oder ein Roboter bei VW zu seiner Inbetriebnahme mit einem Gottesdienst gesegnet.

Das für uns Absurde ist in Japan Alltag. Oder ist unser Alltag einfach absurd? Wie auch immer: Ohne Spielkultur aus Japan wäre er ärmer.


Jörg Luibl
Chefredakteur

 

Kommentare

wolpy schrieb am
Danke, Jörg!
Eine sehr schöne Zusammenfassung meiner Gefühle für Japan :Hüpf:
tr1on schrieb am
ICHI- hat geschrieben: Nein , für mich sind die Japaner nicht "komisch drauf" sie haben Identität , Deutschland nicht.
Deutschland ist realtiv austauschbar.
Und bitte jetzt keine Diskussionen anfangen ich bleibe bei meiner Meinung.
Das wirkt aber auch nur so, weil unsere eigene Kultur bewusst in den Hintergrund gedrückt wurde zugunsten von a) amerikanischem Konsumismus und b) einer "OneWorldAlleMenschenSindGleich"-Ideologie, die von den 68ern aus der Wiege gehoben wurde und sich ganz prima mit a und der Globalisierung arrangiert.
Und was das Essen und andere Dinge des Lebens angeht, weiß ich nicht, ob Japan da das perfekte Beispiel ist. Es gibt da genug Überschneidungen zu Deutschland, wobei die Japaner ihre eigenen Bräuche und Traditionen natürlich besser pflegen als wir die unseren.
Für mich ist Italien das Land, zu dem ich mich am meisten hingezogen fühle seitdem ich da zum ersten Mal in Urlaub war. Einfach die Kultur, das Klima, La Dolce Vita... :) Aber zu sagen "Ich wäre lieber X als Y" ist doch Quatsch. Man ist das, als was man geboren wird. Ein Leben lang. :wink:
Veldrin schrieb am
ICHI- hat geschrieben:Es gibt für mich nichts Positives was ich mit Deutschland verbinden würde also ich mag Deutschland nicht
sei es unsere Kultur , Medien , das Essen , die Menschen hier bzw. Mentalität und mein Ziel im Leben
für mich ist es eigentlich Deutschland zu verlassen. Dafür lebe bzw. arbeite ich^^.
Flammkuchen, Sauerbraten, Weihnachtsgans, Krustenbraten, Sauerkraut, Knödel, Spätzle, Maultaschen, Bandnudeln mit Hasche, Scherzl, Rouladen, Grüner Spargel mit Pfannkuchen, Obazter und Brezeln, Brot und Brötchen, zig Wurstsorten, Bier,?
Zugegeben fast immer wenn es um die klassische Zubereitung von Gemüse geht kackt Deutschland ab. Da muss man sich halt eben einfach der Gemüsekochkunst aus Ostasien (inklusive Indien) bedienen und mit der deutschen Fleischzubereitungskunst kombinieren. Für unser Gemüse sind wir Deutschen wohl nicht bekannt. Das ist bei uns traditionell Pampe als Beilage oder maximal nettes Schmuckbeiwerk (muss man das mitessen oder kann ich das dem Hund geben? und 1x Döner nur mit Fleisch und Soße, bitte? und Pommes *augenroll*)
Veldrin schrieb am
Japan, ich danke dir für die Züchtung des Fujiapfels und der Nashibirne. Jetzt komme auch ich auf meine tägliche Dosis Obst.
schrieb am