Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 04
Mittwoch, 23.01.2008

Linearität, Open World & Freiheit


Die gerade Linie. Ein Weg führt zum Ziel. Es gibt nur eine Richtung. Man fährt in die Einbahnstraße. Man hat keine Möglichkeit, nach links oder rechts abzubiegen. Der Level wird zum Schlauch, man folgt einem Kanal. Videospiele haben eine lineare Tradition. Egal ob es von links nach rechts oder von unten nach oben scrollt, egal ob man wie in Super Mario hüpft, wie in R-Type ballert oder wie in Monkey Island rätselt.

Diese Wurzeln sind so stark, dass sie seit drei Jahrzehnten das Spieldesign prägen. Und man fühlt sich heute noch sehr wohl in diesem virtuellen Korsett. Es gibt unheimlich gute, lineare Unterhaltung - egal ob Black Mirror, God of War oder Resident Evil, egal ob Shadow of the Colossus oder The Darkness. Wie unterhaltsam der eine Weg zum Ziel sein kann, haben gerade erst Zack & Wiki oder Devil May Cry 4 gezeigt.

Die Linearität ist also per se nichts Schlechtes. Wie sollte sie auch, wenn sie zwei ältere, kulturell erfolgreichere Unterhaltungsmedien kennzeichnet: Film und Theater zeigen eine strenge Abfolge von Szenen bis zum Abspann. Bücher fangen bei Seite 1 an, danach blättert man in mathematischer Reihenfolge bis zur letzten Seite. Beide bieten dem Zuschauer bzw. Leser nur ein Ende - auch Literatur und Kino sind auf den ersten Blick nichts anderes als lineare Einbahnstraßen. Und damit sind sie verdammt erfolgreich.

Was soll also der Kritikpunkt "zu linear" in der Spielewelt? Auf was bezieht er sich? Man stolpert oft in Tests darüber, wir schreiben oft in Tests darüber. Vielleicht sollte man besser fragen: Woher kommt überhaupt der Wunsch, etwas "Nicht-Lineares" zu erleben? Und warum wird dem Medium Spiel scheinbar zugetraut, hier mehr zu leisten? Ganz einfach: Weil es theoretisch als einziges Medium die zauberhafte Illusion der Freiheit erschaffen kann!

Mein erstes nicht-lineares Erlebnis hieß Pac-Man. Und es fasziniert mich deshalb bis heute, weil ich bestimmen kann, wo es langgeht, weil ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und nicht nur den Weg meiner Wahl einschlagen, sondern auch den Spieß umdrehen kann - vom Gejagten zum Jäger. Pac-Man hat keinen Ausgang, kein sichtbares Levelende, sondern einen freien Raum, in dem ich mich viel freier entfalten kann als in so manchem Action-Rollenspiel der Neuzeit. Probleme kommen aus allen Richtungen, Lösungen finde ich in allen Richtungen.

Diese Faszination offener Spielwelten hat also auch gute alte 2D-Tradition und ist kein spätes Baby der dritten Dimension - Zelda war schon auf dem SNES herrlich offen, es hat das Jagen und Sammeln in Echtzeit angeboten. Heute ist "Open World" nur ein scheinbar neues Gütesiegel für Spiele wie Oblivion, GTA, Crackdown und letztlich auch für viele Online-Rollenspiele. Selbst ein Sportspiel wie skate oder ein Rennspiel wie Burnout Paradise trägt es.

Aber was für Welten werden heutzutage konstruiert? Sind wir da weiter als mit Pac-Man oder dem frühen Zelda? Und kann das theoretisch ach so freie Medium Spiel mit den streng linearen Brüdern aus Literatur und Film mithalten? Nein. Noch nicht. Bisher beschränkt sich der Freiheitsbegriff auf die Erkundung oder Zerstörung - das kann alles Spaß machen, das macht es aber auf nahezu identische Art und Weise seit zwanzig Jahren. Wo bleibt die Entwicklung?

Auf der erzählerischen Ebene öffnet die Kulturkonkurrenz in Büchern und auf der Bühne noch viel öfter Türen zu offenen Fantasien, faszinierenden Utopien oder alternativen Wirklichkeiten, gegen die die meisten Spiele noch wie stupide Arrestzellen wirken, in der mir Freiheit nur vorgegaukelt wird. Das Phänomen des Abtauchens, der so genannten Immersion, gelingt einer geschickten Ansammlung von Buchstaben noch viel häufiger als einer hoch entwickelten Ansammlung von Polygonen.

Die Frage der Linearität ist bei der Beurteilung von Spielen meist auf drei Ebenen reduziert - mit aufsteigender Wichtigkeit: Leveldesign, Problemlösung und Handlung. Pac-Man und GTA bieten Offenheit auf der untersten der möglichen, aber eben deutlich sichtbaren Stufe: dem Leveldesign; man kann sich in einer Welt frei bewegen. Thief, Splinter Cell, Crysis und BioShock bieten zudem Offenheit auf der mittleren, der aktiven Stufe: der Problemlösung; man kann also frei wählen, wie man ein Rätsel knackt oder einen Feind beseitigt.

Interessanter wird die Frage auf der bisher selten erreichten dritten Stufe: der Handlung. Denn darunter verstehe ich die spielerische Aktion mit erzählerischer Konsequenz, die bisher oft nichts anderes als eine Problemlösung mit zwei Möglichkeiten ist. Fable, Black & White, Deus Ex, Mass Effect und Fahrenheit bieten lobenswerte Ansätze, wenn man zwischen guter oder böser Moral entscheiden und die Auswirkungen in der Spielwelt erleben kann. Und diese kleinen Schritte sind wichtig, denn genau hier befindet sich das junge Medium noch in der kulturellen Steinzeit.

Nur wer so frei ist, dass er immer auch hätte anders agieren können, macht sich Gedanken über eine virtuelle Welt. Es gibt immer Ausnahmen, aber nur wenn es theoretisch Konsequenzen gibt, kann eine dramatische Situation entstehen. Nicht ohne Grund hat Hideo Kojima auch das inflationär diskutierte Thema Gewalt kürzlich als unbeackerten Spielboden beschrieben - da ist ja auch seit Doom fast nichts passiert, was Spieler zum Nachdenken animiert.

Bisher steckt noch viel zu viel plumpe Realität im offenen Spiel, als dass man groß über seine Erfahrungen sprechen oder gar staunen könnte: Virtuelle Müllkippen à la Second Life oder Leveltretmühlen für Questkamele à la World of WarCraft prägen die breite Masse. Es wird noch zu viel Alltag abgebildet, wiederholt und wiedergekäut. Es wird unterm Strich mehr virtuell exhibitioniert und dekonstruiert als kreiert. Das kann zum Zeittotschlagen und für das Zwischendurchzocken immer noch eine heilende Medizin sein. Das Spiel befindet sich als Schöpfer von Illusionen, als kreatives Medium aber noch in Kinderschuhen.

Warum lechzen also viele Spieler nach offenen Welten? Warum wünschen wir uns als Tester auch Fortschritte in den kleinen Bereichen des Leveldesigns oder der Problemlösung? Weil das erste Mosaiksteine auf dem Weg zu mehr Freiheit sein können. Weil hier noch so viele Potenziale schlummern! Weil das Spiel theoretisch das einzige Medium ist, das freie Gestaltungsräume bieten kann. Nur in ihm können Visionen von Freiheit, egal ob Apokalypse oder Zeitreise, ob Fantasy oder Science-Fiction, ob Utopie oder Dystopie, verwirklicht werden - das ist die große kulturelle Herausforderung für das Spieldesign der Zukunft.


Jörg Luibl
Chefredakteur

 

Kommentare

johndoe731183 schrieb am
Ich kann auch nicht verstehen, was an Linearität so schlimm sein soll. Einige Spiele, die ich sehr mag und die ich schon sehr oft durchgespielt habe, sind linear bis zum geht nicht mehr. Hingegen andere, die angeblich nicht linear waren, hätte ich nie ein zweites Mal gespielt, auch wenn das erste Mal okay war.
Und was ist an Oblivion u.ä. bitte nicht linear? Und Entscheidungsfreiheit? Naja ... Also erstens bedeutet Nichtlinearität nicht, dass die Story auf mich wartet, bis ich zurück komme, um sie weiter zu verfolgen. "Oh, war der Film nichtlinear, ich konnte ein paar Mal auf Pause drücken und auf's Klo gehen."^^ Gerade bei Oblivion war es fast schon lächerlich, wie es immer hieß, hey, schnell, geh' den Thronerben retten, ehe ihn die Bösen zu fassen kriegen, und dann konnte ich tagelang was anderes machen und Martin stand immer noch in der Pampa und hat gewartet, dass ich ihn wo hin bringe. OpenWorld und Nichtlinear wäre gewesen, dass er in der Zeit geschnappt worden wäre und ich ihn vielleicht noch hätte retten können ODER er wäre getötet worden und ich hätte auf anderem Wege die Invasion verhindern müssen.
"Openworld" heißt für mich auch nicht, dass ich entscheiden darf, welche Quest ich löse und welche nicht. Beispiel Magiergilde. Wieso durfte ich mich nicht auf die Seite der Totenbeschwörer stellen? Gerade mit 'nem eher fiesen Charakter? Entscheidungsfreiheit ging meist nur so weit, dass ich eine Quest annehme, beende oder eben nicht. Die Handlung wartet solange, selbst Nebenhandlungen. Und fast nichts hatte Konsequenzen, außer genau die, die vorgeschrieben waren.
Aber zurück zum Allgemeinen. Lineare Spiele können sehr gut sein, was nur nervt, sind zu offenkundige Einschränkungen. In der Richtung sollte es stärkere Bemühungen geben. Wenn die Spielfigur irgendwo nicht weiter kann, weil ein Stuhl im Gang steht, krieg' ich Anfälle.^^ Kennt wohl jeder, was ich meine.
Am besten sind wohl immer noch Mischungen. Z.B. Deus Ex, da gab' es sowohl verschiedene...
unknown_18 schrieb am
Naja, ich kann zwar der Kolumne zustimmen, ich denke aber, dass wir das niemals so erleben werden. Die Zeit für derartige Spiele ist abgelaufen, einfach weil Spiele heutzutage sau teuer in der Produktion sind und weil sie deshalb eine sehr breite Masse ansprechen müssen. Spiele kann man eben nur einmal verkaufen, während man Spielfilme im Kino, auf DVD und im TV mehrmals vermarkten kann um Geld rein zu kriegen. Ein Spiel derart zu gestalten, würde die Kosten aber explodieren lassen, weil man mehr Mitarbeiter und vor allem mehr Zeit bräuchte.
Daher mein Fazit: wird ein Traum bleiben und mehr als Ansätze werden wir nie erleben.
@Grunz!: man merkt, dass du noch nie jRPGs gespielt hast. ;)
TNT.sf schrieb am
vergesst nicht, wir reden hier immer noch über spiele und nicht über literatur.
ein spiel sollte in erster linie durch seine interaktivität überzeugen, also durch sein gameplay. die story ist da eher sekundär.
manche spiele haben ja schon so progressive story´s das man sie sich auch gleich als film hätte anschauen können ohne das nervige rumgespiele dazwischen durchführen zu müssen. das ist einfach nicht richtig.
es gibt zwar durchaus spiele, die rein von der story leben, aber trotzdem machen die auch nur dann spaß, wenn das gameplay zwischendurch stimmt und es spaß macht die story vorranzutreiben. warum sollte es nicht ein element des gameplays sein eben die story individuell zu erleben und seine entscheidungen spürbar im verlauf zu verankern? es ist ein spiel :)
Nerix schrieb am
Grunz! hat geschrieben:Nur die Story, die eigentlich alles zusammenhalten sollte, wirkt regelmäßig so, als wäre sie an einem Nachmittag aus Standardbausteinen zusammengestrickt worden.
Es gibt doch z.B. genügend Spielfilme, die auch Erwachsene halbwegs intelligent unterhalten. Was zum Teufel hindert Spieleproduzenten daran, mal ein Spiel zu produzieren, dessen Story wenigstens das Niveau eines miserablen Kinder-Abenteuerfilms übertrifft?
Dem kann ich nur zustimmen. Weiter oben habe ich versucht einen Erklärungsansatz zu liefern: Bei Büchern und Filmen gibt es eben nur die Story, die einen dazu verleitet dieses Medium zu konsumieren (beim Buch sowieso). In einem Spiel kann man mit der Welt interagieren. Zunächst könnte man denken, dass dies der Story zugute kommen müsste, aber diese Möglichkeit der Interaktion verleitet die Hersteller dazu, alles in Hochglanz mit perfekter HD Grafik erscheinen lassen zu müssen. Die Story wird darüber leicht vergessen, oder gerät zumindest in Hintertreffen.
Wie Du schon erwähntest: Wieviele Marketingslogans hat man schon erlebt, in denen es "Fantastischer interaktiver gesellschaftskritischer Thriller à la Gattaca" anstatt "Beste Physikengine, tolles Gameplay, NextGen Grafik" heißt? Wohl kaum welche. Alleine daran kann man schon die Prioritätenliste der Hersteller erkennen.
Auch Deine Meinung zu der Linearität in Spielen teile ich mehr oder weniger. Der Grad der Freiheit und die Komplexität eines Spieles hängen exponentiell zusammen. Man stelle sich nur vor, es würde eine Art reale Welt simuliert (größtmögliche Freiheit), in der alle Figuren unabhängige Individuen sind und deren Verhalten sich auf alles auswirkt. So etwas wird wenn überhaupt erst in hunderten von Jahren möglich. Man muss versuchen, die goldene Mitte zu finden, also dem Spieler möglichst große Entscheidungsfreiheit suggerieren, ohne das die Story zu sehr darunter leidet, indem sie zu sehr von den Handlungen des Spielers abhängt und damit an Authentizät verliert (es...
Grunz! schrieb am
Wie einige andere hier würde auch ich die Qualität eines Spiels nicht an seiner Nicht-Linearität messen.
Wie andere schon geschrieben haben, neigen Spiele, die dem Spieler zu viele Freiheiten lassen, häufig dazu, langweilig zu werden.
Dabei denke ich konkret an die Rollenspiele Gothic3, Oblivion und TwoWorlds: Ich konnte bei allem guten Willen keins der drei bis zum Ende durchspielen, weil jedes irgendwann in sterbenslangweiliger Monotonie ausartete. Die beeindruckenden Massen an Nebenquests und die riesigen Spielwelten führen dabei eben gerade _nicht_ zu einem immersiveren Spielerlebnis, sondern dazu, daß sich ein größerer Spannungsbogen erst gar nicht aufbauen kann.
Eine spannende Story die einen ans Spiel fesselt, kann in absehbarer Zeit nicht wirklich vom Rechner generiert werden. Wenn ein Spiel also überhaupt irgendeine Story haben soll, dann ist diese die Sache der Spiele-Autoren - und das impliziert nun mal eine gewisse grundlegende Linearität.
Alternative Enden würde ich in diesem Zusammenhang nicht unbedingt als besonders zukunftsweisendes Konzept betrachten. Dabei besteht die angebliche Handlungsfreiheit schließlich auch nur in der Auswahl der (linearen) Fortsetzung. Mir ist es wesentlich lieber, wenn die Entwickler die Zeit in eine einzige durchgängige, aber intelligente Geschichte investieren, anstatt daß sie aus Marketing-Gründen zehn verschiedene Enden zusammenschustern.
Als positives Beispiel für Linearität sei Gothic 2 genannt: Auch dort gibt es Haupt- und Nebenquests, die innerhalb bestimmter Grenzen in beliebiger Reihenfolge gelöst werden können.
Den eigentlichen Schub bekommt das Spiel meiner Meinung nach aber unter anderem durch seine Einteilung in Kapitel: Mit jedem Kapitelwechsel wird die Hauptstory vorangetrieben, neue Gebiete können betreten werden, neue Gegner, Waffen, Aufgaben tauchen auf.... Es sind gerade diese -von den Autoren völlig unflexibel vorgegebenen- Ereignisse, die die Gothic2-Welt und die Story für mich lebendig erscheinen...
schrieb am