Jörg Luibl
Per Anhalter in die Spielezukunft VIIEine Kolumne von Jörg Luibl, 07.12.2008
"Dürfte ich ihren Ausweis mal sehen, junger Mann?"

Ich muss kräftig schlucken. Und es ist immer noch so seltsam still. Ich habe das Gefühl, dass der ganze Laden hören kann, wie die Nervosität durch meinen Hals poltert. Der ist so trocken, dass das auch noch weh tut. Es wird gehüstelt. Dann beginnt ein Kind zu nörgeln und brabbelt etwas von "Böser Onkel da". Die unfreundlichen Blicke ungeduldiger Kunden treffen mich und sprechen eine klare Sprache: "Hey, mach mal schneller, du Freak!"

Ich stehe da wie angewurzelt. Aber diese Leute sind mein geringstes Problem, denn vor mir steht sie: Die personifizierte BKfiBU. Diese seltsame Behörde in Gestalt einer alten Frau mit mildem Lächeln und scharfem Blick. Buntes Halstuch, graues Haar, streng nach hinten gekämmt - sie erinnert mich an eine Nonne. Ich schätze sie auf Mitte 60. Und ich starre wie gebannt in ihre stahlblauen Augen. Sie leuchten wie tückische Brunnen in einer Faltenwüste.

"Junger Mann, haben sie mich verstanden?"

Bin ich in die Falle getappt? Hat diese ganze verrückte Reise jetzt ein Ende? Jack hatte mich ja gewarnt. Wo zur Hölle ist er jetzt bloß? Und was soll ich tun? Immerhin gibt es im echten Leben immer Multiple Choice mit Konsequenzen: Ich könnte mir das Spiel greifen, die Frau wegrempeln, rausrennen und Jack dann nach einer spektakulären Flucht à la Mirror's Edge durch die Stadt über G.R.I.N. kontaktieren! Diese Variante wäre aggressiv, rabiat und angenehm männlich. Nur bin ich nicht akrobatisch.

Moment mal: Hat sie mich überhaupt identifiziert? Weiß sie überhaupt, dass ich aus der Vergangenheit komme? Ich könnte mich auch dumm stellen. Schließlich existiert diese Behörde im Jahr 2011 noch gar nicht! Ich sehe den Eintrag in der Enzyklopaedia Ludologica noch vor mir:

BKfiBU, die; Abk. für "Bundeskontrollstelle für interaktive Bildschirm-Unterhaltung". Die Behörde wurde 2014 von der Bundesregierung ins Leben gerufen und bis 2022 vom Kriminalwissenschaftler Dr. Pfeiffenborn geleitet, der sie gegen den Widerstand der Opposition zum offiziellen Bundesministerium ausbauen konnte. Zu Beginn erteilte sie nur die Prüfplaketten "Absolut Headshotfrei" und "Heile Family Ready (HFR)". Später weitete sie angeblich ihre Aktivitäten im legislativen, exekutiven und judikativen Bereich aus.

Laut Lexikon wird sie ja erst 2014 gegründet! Hätte die Frau dann hier überhaupt Vollmachten? Ich könnte vielleicht einfach zur örtlichen Polizei gehen! Diese Variante ist passiv, schlau und unangenehm weibisch. Also genau das Richtige für einen Joystickhelden mit mehr Rollenspielerfahrung als Kondition. Scheiß auf Stärke und Beweglichkeit, jetzt zählen Rhetorik und Charisma:

"Warum sollte ich ihnen bitteschön etwas zeigen? Mein Ausweis geht nur den Händler etwas an! "



"Per Anhalter in die Spielezukunft" ist eine Fortsetzungsgeschichte, die alle 14 Tage erscheint. So lange, bis Jack der Sprit ausgeht oder die Welt gerettet wurde. Was bisher geschah:

Kapitel I - Das gelbe Taxi

Kapitel II - Der Spielehistoriker

Kapitel III - Tennis for Two

Kapitel IV - Der Feuerwehrmann

Kapitel V - G.R.I.N.

Was zuletzt geschah:

Kapitel VI - Der Spieleshop

Die Alte will unbeeindruckt wirken, aber sie funkelt mich erbost an. Na also! Ich fühle mich schon besser, richte mich auf und wittere meine Chance. Vielleicht sollte ich noch das Publikum mit einbeziehen und mir Allianzen sichern? Eine gute Idee, ich bin stolz auf mich und gebe mir selbst einen fetten Bonus an Lebenserfahrungspunkten:

"Ich entschuldige mich für mein Gebrüll, aber ich habe...ähm...heute morgen meine Tabletten...quatsch&meinen Job verloren und bin einfach ausgeflippt. Sorry, ich werde hier keine Umstände mehr machen."

Um mich herum wird genickt, ich schnappe so manchen mitleidigen Blick auf. Wenigstens kann man sich auf das Gespenst der Arbeitslosigkeit verlassen, vor dem sie scheinbar auch 2011 Angst haben. Ich ignoriere die Alte, drehe mich zum Händler um und stecke meinen Ausweis ein. Der Mann gewährt mir einen letzten Blick auf Shadow of the Colossus II für PlayStation 3 und lässt die Box mit dem USK 40-Aufkleber dann seufzend verschwinden.

"Hey, vielleicht können sie ja mal in Begleitung einer Tante oder ihrer Eltern vorbei kommen? Das wäre dann gar kein Problem - das Spiel ist ja nicht indiziert."

Schmeißt er mir das Stöckchen jetzt absichtlich vor die Füße, damit ich ihn richtig beiße? Mir kommt gerade wieder die Galle hoch, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippt. Ich dreh mich um und schaue wieder in das Gesicht der Alten. Jetzt steht sie ganz nah vor mir. War sie vorhin auch schon so groß? Sie lächelt mich verschwörerisch an, bevor sie mitfühlend wie eine Hausärztin fortfährt:

"Sie haben also ihren Job verloren? Das tut mir Leid, junger Mann. Es hätte natürlich schlimmer kommen können. Manche Menschen verlieren noch ihren Spielspaß und sogar ihre Familie."

Im ersten Moment denke ich noch, dass sie ihre Niederlage damit eloquent zur Kenntnis nimmt. Dann rauschen Erinnerungen durch meinen Kopf. Die genervte Stimme des Händlers schneidet durch meine Ahnungen: "Wenn die Herrschaften jetzt bitte woanders weiter diskutieren und Seelsorge betreiben würden? Ich habe Kundschaft!"

Die Alte nickt dem Händler zu, dreht sich um und geht Richtung Ausgang. Eigentlich müsste ich mich über diesen Sieg freuen: Hey, mir ist nichts passiert - weder hat mich ein Spezialkommando aus der Zukunft einkassiert noch wurde ich aus irgendwelchen Gründen festgenommen! Trotzdem schlurfe ich wie benommen von der Kasse weg, den Blick auf den Rücken der Frau gerichtet. Draußen regnet es in Strömen. Bilde ich mir das ein oder geht sie quälend langsam? Irgendetwas stimmt nicht. Und ihr letzter Satz hallt wie ein düsteres Echo in meinem Kopf.

"Manche Menschen verlieren noch ihren Spielspaß und sogar ihre Familie."

All die Zeit habe ich die Gedanken an sie verdrängt. Es war plötzlich vorbei. Marie ist mit den Kindern von einem Tag auf den anderen ausgezogen. Meine Frau hat mich sitzen lassen und ich weiß immer noch nicht, warum: Was zur Hölle ist nach all der Zeit in sie gefahren? Ich stand nur deshalb mit diesem bescheuerten Schild wie ein bescheuerter Anhalter am Straßenrand, weil niemand mehr Zuhause war. Nach der Wut kam die Verzweiflung. Marie, Emma und Luke. Einfach weg. Aber woher sollte diese Frau davon wissen? Selbst Jack habe ich nie was erzählt! Oder was das nur eine zufällige Anspielung?

Die Alte erreicht den Ausgang, spannt ihren Schirm und verschwindet in den verregneten Abend. Ich muss es einfach wissen. Egal, was ich jetzt riskiere oder ob ich mich lächerlich mache. Ich gehe ihr hinterher. Zügig und schnell. Als ich die Klinke durchdrücke und Xbox Universal, Wii 2 & Co hinter mir lasse, genieße ich die kalte Luft. Ich schaue mich um - da, sie steht nur ein paar Meter entfernt vor einem Schaufenster!
Mein Herz klopft, als ich mich der Alten nähere, die sich unter ihrem Schirm verschanzt. Ich berühre ihren Arm. Noch bevor ich "Entschuldigung" sagen kann, lächelt sie mich an:

"Ach, sie sind es."

Diese Eröffnung fegt die letzten Zweifel beiseite - sie muss etwas wissen! Plötzlich beginnt es in meiner Hand blau zu glühen, das Licht flackert in einem nicht zu übersehenden Stakkato. Die Alte zieht interessiert die Augenbrauen hoch. Will mich Jack über G.R.I.N. kontaktieren? Egal, ich will hier und jetzt Antworten:

"Warum wollten sie meinen Ausweis sehen? Und was sollte ihre Anspielung auf die Familie?"

"Ach, das war nur so ein Altweibergerede. Ich habe sie einfach mit jemandem verwechselt, der seine Familie verloren hat. Aber wissen sie, das war ja 2008."

Was sollte ich jetzt sagen? Bevor ich etwas erwidern kann, kramt die Frau in ihrer Handtasche. Sie nestelt eine ewige Zeit lang herum. Dann zeigt sie mir ein Foto.

Marie, Emma, Luke.

Mir rutscht das Herz in die Hose. Diese Frau hat ein Foto meiner Familie in der Hand. Ich reiße es ihr aus der Hand und suche fieberhaft nach Fehlern, Fakes und Lösungen. Ich bemerke die Tränen gar nicht, die meine Wange hinab gleiten. Ich stehe einfach nur da und starre das Foto an. Die Alte berührt meinen Arm.

"Wollen sie ihre Familie wieder haben?"

"Ja."

"Dann helfen sie uns, Jack zu fangen."


Jörg Luibl
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