Jörg Luibl
Per Anhalter in die Spielezukunft XEine Kolumne von Jörg Luibl, 30.01.2009
"Dir ist doch niemand von den Bibus auf die Pelle gerückt, oder?" Jacks Blick trifft mich direkt und gnadenlos. Jetzt ist der Moment gekommen: Wahrheit oder Pflicht? Für wen entscheidet sich der Kandidat? Für Gelber-Rotz-Jack, den verrückten Spielehistoriker mit dem coolen Buick, oder doch lieber für die Graue-Zangen-Zicke, die im Auftrag einer Spielestasi unterwegs ist und nur dein Bestes will?

Ich bin Mitte 30, aber ich fühle mich wie ein kleiner Junge, der vor dem drohenden Anschiss noch verzweifelt nach Auswegen sucht. Manche Dinge ändern sich eben nie. Und ich konnte noch nie gut lügen. Als die Worte über meine Lippen huschen, versuche ich möglichst genervt zu klingen:

"Nein, keine Bibus. Aber ich bin in dieser Scheiß Zukunft über ein Scheiß Erwachsenenschutzgesetz gestolpert. Hier sind scheinbar alle total durchgeknallt!"

"Ha, ha - so gefällst du mir! Aber das, was hier passiert, das sind alles nur Peanuts, verstehst du? Die Saat geht später auf. Viel später."

Jack dreht sich wieder um, bringt den Buick ruppig auf die Straße. Ich werde hin und her geschaukelt, schnall mich an und klopfe mir innerlich auf die Schulter - er scheint nichts gemerkt zu haben. Dann landet eine braune Tüte auf meinem Schoß:

"Hier ist was zu futtern. Pommes, Burger und so ein Zeug. Ich hoffe, du magst Pepsi."

"Danke, passt."

Mein Magen knurrt vor Freude, als der Geruch von Ketchup, Käse und Gegrilltem in meine Nase schleicht. Wie lange hab ich nichts mehr gegessen? Ich schnapp mir ein paar Pommes, während Jack Gas gibt und weiter plaudert.

"Ja, ja, das Erwachsenenschutzgesetz. Damit hat die graue Lobby die Karten offen auf den Tisch gelegt: Es ging ihr nie darum, die Jugend zu schützen - es ging ihr immer nur darum, wer die Macht über die Spiele hat."

"Der deutsche Jugendschutz war schon damals eine Farce. Aber graue Lobby?"

"Jep. Die Kräfte, die später die BKfiBU gründen werden, formierten sich irgendwann 2002."



"Per Anhalter in die Spielezukunft" ist eine Fortsetzungsgeschichte, die alle 14 Tage erscheint. So lange, bis Jack der Sprit ausgeht oder die Welt gerettet wurde. Was bisher geschah:

Kapitel I - Das gelbe Taxi

Kapitel II - Der Spielehistoriker

Kapitel III - Tennis for Two

Kapitel IV - Der Feuerwehrmann

Kapitel V - G.R.I.N.

Kapitel VI - Der Spieleshop

Kapitel VII - Die alte Frau & das Bild


Kapitel VIII - Verrat im Regen

Was zuletzt geschah:

Kapitel IX - Jack is back

Jack schaut immer wieder in den Innenspiegel, als ob er mich beobachten würde. Egal, jetzt ist der Burger dran - ich beiße mit Heißhunger rein und Jack erreicht langsam einen nüchternen Vorlesungston, der gar nicht zu dem impulsiven Typen passen will:

"In deiner Zeit war ihr Einfluss schon spürbar, aber relativ harmlos, weil Spiele noch wild und frei entwickelt wurden und nicht so tief in der Gesellschaft verankert waren. Es gab noch keine verstaatlichten Entwickler, keine Moralprüfungen für neue Studios. Aber dann, nach einem Amoklauf eines Familienvaters und Vollblutzockers in einem Nürnberger Verlag, war dieses Erwachsenenschutzgesetz nicht mehr aufzuhalten: Lichterketten, Messen, Interviews, Fernsehberichte - das ganze hysterische Programm. Der erste Sieg der Bibus, noch bevor es sie offiziell gab."

Ich bin zu sehr mit meinem Burger beschäftigt, um mehr als ein Kopfschütteln loszuwerden. Jack dreht sich kurz um:

"Sag mal: Was wolltest du dir eigentlich im Shop kaufen?"

"Shadow of the Colossus II."

"Aha...so einer bist du also - ein Freund von Spieldesign der Marke Subtraktion! Wieso hast du dir nicht gleich den dritten Shadow-Teil geholt? Ach, Mist! Wir haben ja 2011 hier, das Baby kam ja erst 2012 zusammen mit der PlayStation 4 - Jack wird langsam alt, Junge. Zurück zum Thema: Die Subtraktion wird um diese Zeit herum ein ganz neues Genre begründen!"

Ich greife mir genüsslich den zweiten Burger und lehne mich zurück. Pommes, Cola und eine kostenlose Vorlesung in Spielegeschichte von einem kriminellen Verrückten, den die Zukunftspolizei sucht - was will man mehr? Für einen Augenblick ist die Welt ebenso bekloppt wie in Ordnung. Ein neues Genre? Ich mampfe Burger und Pommes im schmackhaften Wechsel und frag nach:

"Ach ja, waf denn für ein neues Wonrä?"

"Es nennt sich Adventgarde. Das sind Spiele ohne Ballast wie Items, Upgrades oder Level, in denen nicht mehr der Aufstieg, Punkte oder Ähnliches, sondern die emotionale Erfahrung im Mittelpunkt steht. Das Spieldesign konzentriert sich nur auf das Wesentliche des Augenblicks. Das, was in deiner Zeit bereits von kleinen Download- und Independent-Games angedeutet wurde, wird später ganz groß raus kommen. Die ganze Philosophie der Entwickler ändert sich."

"Daf hört sich...mmpf...forry...mmpf...würklich gut an."

"Dir schmeckt's wohl richtig gut, wie? Aber über Adventgarde beginnt letztlich die ganze Misere - dieses Genre war wie ein trojanisches Pferd. Aber hey, ich dachte, du hättest keine Lust mehr auf den ganzen Spielekram? Aber kaum bringt dir Jack ein wenig Futter und Freude zurück, lodert die Flamme wieder, nicht wahr? Das ist gut. Das ist sehr gut, Junge. Ich kenn das."

Ich spül den letzten Bissen Burger und Pommes mit einem großen Schluck Pepsi runter. Jack redet in einem fast rührseligen Ton weiter:

"Oh ja ich kenn das. So geht's mir auch. Manchmal vergeht einem die Lust auf das Zocken für Tage, vielleicht sogar Wochen. Manchmal vergeht einem sogar die Lust auf den ganzen virtuellen Klick-mich-an-Scheiß."

Ich bin satt. Und müde. Am liebsten würde ich mich auf der Rückbank aufs Ohr hauen, zumal Jack langsam an die einschläfernde Wortmelodie einer Hörspielkassette heran kommt.

"Aber irgendwann kommt es wieder, Junge. Einmal Spielefresser, immer Spielefresser. Der Mensch ändert sich nicht, er wird nur älter. Und alles kommt wieder."

Als ich nach einem nicht vorhandenen Taschentuch in meiner immer noch nassen Jeans greifen will, berühren meine Finger das Foto. Ich sehe sofort meine Familie vor mir, mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Dann hallen die Worte der Alten in meinem Ohr: Er hat alles sehr geschickt eingefädelt. Seien sie auf der Hut! Ich höre mich sagen:

"Manche Dinge kommen nie wieder."

"Wie? Stimmt: Mario hat 2048 einfach aufgehört. Kannst du dir vorstellen, wie sie ihn noch 2058 vermissen? Da ist der Elvis-Kult harmlos, haha!"

"Oh ja. Das kann ich."

"Hey, du magst den Klempner, nicht wahr? Ich auch! Er rettet schöne Frauen, trampelt den Leuten auf dem Kopf herum und sammelt Gold - das gefällt mir. Dieser Buick hat all seine Spiele in der Datenbank; willst du mal ran an den Nintendo-Supermann aus dem Jahr 2024? Zum ersten Mal in Egosicht mit MotionTracking durch New York, Tokyo und Rio?"

"Vielleicht später."

Mir ist trotz reichlich Fettfood immer noch kalt und klamm. Außerdem wird mir beim Gedanken an First-Person-Mario etwas schwindelig. Neben meinem Sitz liegt mein halb geöffneter Koffer. Ich hatte damals eine Jeans und ein paar T-Shirts eingepackt. Wenn ich mir nicht noch was wegholen will, muss ich was Trockenes anziehen. Ich atme noch mal durch. Jack hat weder meine Lüge noch meinen kurzen Depri bemerkt. Und er hat wieder seinen fröhlichen Ich-bin-dein-Reiseführer-Ton angeschmissen:

"Okay, wir verlassen Weißwurstcity bald und sind gleich wieder auf dem Highway ins Glück. Lehn dich zurück, wühl ein bisschen in der Enzyklopädie oder noch besser: Spiel was! Das entspannt und entkrampft. Frag mal die Lady vor dir. Du wirst erstaunt sein, was wir alles im Archiv haben!"

Ich ignorier den Laserbildschirm samt Frauenrouter vorerst, greife in den Koffer, schnappe mir ein Shirt, dann die Hose und bemerke, dass die Kettensäge fehlt. Stimmt - als ich mich ausziehe, habe ich plötzlich das penetrante PING-Geräusch im Ohr und erinnere mich wieder an diese Nacht mit den Suchscheinwerfern: Ich hatte fast mit einem Blutbad gerechnet. Und die Panik dieses Augenblicks ist für eine Sekunde wieder da.

"Natürlich gibt's hier auch alle Ü-40-Spiele. Hey, vielleicht auch Shadow? Und Ü-75-Spiele. Oder ein wenig SeX-Virtuality? Und - oh mein Gott - sogar alle beschlagnahmten Spiele, hahaha!"

Mit der Erinnerung an die Hetzjagd kehren die Zweifel an der Geschichte der Alten zurück: Hatten die Bibus uns nicht wie Schwerverbrecher verfolgt? Und hatte Jack mich nicht gerettet? Füttert er mich nicht wie seinen wieder gefundenen Sohn? Und wer wollte mir irgendeinen mistigen Chip einpflanzen? Ich zwänge mich in die trockenen Klamotten und bereue fast wieder, dass ich Jack belogen habe.

"Dieser Buick, die Spiele - das haben wir alles meinen guten Kontakten zu den FreeGamern zu verdanken, Junge. Bald wirst du sie kennen lernen."

"Wer sind die FreeGamer?", frage ich eher beiläufig, während ich meine nassen Sachen in den Koffer presse. Erst will ich Jack auch nach der Kettensäge fragen, aber dann fällt mein Blick auf den Vordersitz. Neben einer zerknüllten McDonalds-Tüte und ein paar Plastikbechern ist eine Zeitung ausgebreitet.

"Das sind...ähm...Typen wie du und ich. Sie haben ein gewisses Autoritätsproblem, wenn es um staatliche Fürsorge und blöde Vorschriften geht, verstehst du?"

War das eine Anspielung auf meine Vergangenheit? Was weiß er über mich? Ich nehme mir vor, dass ich ihn noch darauf ansprechen werde, aber diese Zeitung zieht mich magisch an: Sie liegt wie ein Mantel über irgendetwas grün Schimmernden mit roten Punkten. Es sieht aus, als würde mich eine exotische Eidechse aus einer dunklen Höhle anstieren. Ich beuge mich weiter nach vorne, als sich der Buick gerade in eine Kurve legt: Es ist die Süddeutsche. Dann erkenne ich unter dem knittrigen Feuilleton den Griff.

Es ist meine Kettensäge.

Und sie ist voller Blut.


To be continued...


Jörg Luibl
Chefredakteur

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