Jörg Luibl
Per Anhalter in die Spielezukunft XVIEine Kolumne von Jörg Luibl, 24.04.2009

Ich atme tief durch: Kein Blut, keine Körperteile, keine Leiche. In Kartons und Schachteln liegen fein säuberlich sortiert Module, Disketten, CDs, Blu-rays. Es sind nur Spiele. Ich sehe einfach nur Spiele und bin erleichtert. Das müssen Überbleibsel aus mehr als zwei Jahrzehnten sein; ein wilder Mix aus Raubkopien und Originalen. Und ich habe gedacht, Jack wäre ein Killer - er ist bloß ein spieleverrückter Sammler!

Aber kaum hat sich das böse K in meinen Kopf geschlichen, schau ich wie ferngesteuert auf das andere böse K in meiner Rechten. Ich hatte die Kettensäge die ganze Zeit wie selbstverständlich mit mir rumgetragen - erst jetzt zieht sie wie Blei an meinem Handgelenk, erst jetzt wirkt sie wie ein Fremdkörper. Das getrocknete Blut an den Gliedern weckt eine höhnische Stimme:

Du sitzt tief in der Scheiße. Wer ist jetzt der Killer, hm? Jack oder du? Meinst du, dass die beiden Datenschützer deinen blutigen Scherenschnitt überlebt haben? Und falls ja, dann ist das mindestens eine psychopathische Schweinerei, schwere Körperverletzung, Widerstand gegen die Staatsgewalt...

Ich will den Kofferraum gerade wütend zuschlagen, da springen mir die verblichenen Etiketten auf der Vorderseite dreier Kartons hinten rechts ins Auge: Sie sind beschriftet. Und diese fahrige Handschrift in Tintenblau zieht mich an. Das kann doch nicht...das kann doch nicht etwa... meine eigene sein? Wie zur Hölle sollten meine Games in diesen Kofferraum kommen?

...und jetzt hat er schon Halluzinationen - ach Gottchen. Hat deine Misere nicht genau so angefangen, hm?



"Per Anhalter in die Spielezukunft" ist eine Fortsetzungsgeschichte, die alle 14 Tage erscheint. So lange, bis Jack der Sprit ausgeht oder die Welt gerettet wurde. Was bisher geschah:

Kapitel I - Das gelbe Taxi

Kapitel II - Der Spielehistoriker

Kapitel III - Tennis for Two

Kapitel IV - Der Feuerwehrmann

Kapitel V - G.R.I.N.

Kapitel VI - Der Spieleshop

Kapitel VII - Die alte Frau & das Bild

Kapitel VIII - Verrat im Regen

Kapitel IX - Jack is back

Kapitel X - Wahrheit oder Pflicht?

Kapitel XI - Der Alptraum

Kapitel XII - Whiskey im Buick

Kapitel XIII - Der Traum wird wahr

Kapitel XIV - Kampf an der Tanke

Was zuletzt geschah:

Kapitel XV - Die Kettensäge tanzt

Nein, das kann einfach nicht sein! Ich beuge mich verwirrt über den Karton mit der Aufschrift Amiga 500, greife wahllos hinter die graue Registerpappe "Rollenspiele" und taste mich von Ambermoon über Dungeon Master und Eye of the Beholder bis hin zum Fairy Tale Adventure vorwärts. Hinter "Sport" warten International Tennis, Kick Off, Sensible Soccer. Ja, kein Zweifel - ich kenne sie alle.

Als meine Finger die 3,5"-Disketten berühren, überkommt mich plötzlich Heimweh wie eine Welle, auf der Bilder einer unbeschwerten Zeit surfen: Ich sehe meine Kumpels vor mir, höre den Jubel und das Fluchen, dazu das vertraute Knarzen und Klicken der Joysticks. Für einen kurzen Moment starre ich mit einem glasigem Blick, fast apathisch in den Kofferraum, bis...

TUUT - TUUUUUUUUUT - TUUUUUUUUUUUUUUUUUT

...zum ersten Mal das penetrante Hupen des Buick wie ein hysterisches Alpenhorn in meinem Ohr hallt - ich lass vor Schreck die Kettensäge fallen. Und mit ihr verschwinden alle nostalgischen Erinnerungen an die Zeit unbeschwerter Highscores. Jack beugt sich mit hochrotem Kopf aus dem Beifahrerfenster:

"Verdammt, Junge! Ich hab schon Lichter gesehen, wir MÜSSEN HIER WEG!"

Ich knall den Kofferraum zu, schnapp mir die Kettensäge, umrunde den Buick links und schau mich um. Tatsächlich: Hinten an den Zapfsäulen leuchten drei gelbe Streifen auf - das müssen Taschenlampen sein. Als ich die Tür öffne und von Jacks Schweiß tief in der Nase gebissen werde, höre ich einen schweren Motor grummeln. Gibt's in der Zukunft noch Diesel? Zwei Scheinwerfer stieren eine Sekunde später genau in unsere Richtung. Okay, sie sammeln sich wieder.

"Mach schon, Junge, mach schon!"

Ich schmeiß die Kettensäge auf die Rückbank und wälze mich in den Fahrersitz. Der Schlüssel baumelt noch im Zündschloss. Ich schließ die Augen, dreh ihn kurz und der Buick brummt wie auf Kommando.

"Gib end...lich Gas..."

Jack brüllt nicht mehr, er ächzt kraftlos. Während ich die Kupplung kommen lasse, tastet er hektisch um sich, kippt Schalter, dreht Knöpfe und verzieht das Gesicht bei jeder Bewegung. Das Armaturenbrett leuchtet bereits wie ein Cockpit, als er kurz innehält, um dann auf die kleine Anzeige mit der Aufschrift "AntiScan" zu tippen. Danach summt der Buick kurz wie eine Mikrowelle und Jack schreit auf.

"Was hast du?"

"Scheiß drauf, fahr los!"

Erst jetzt bemerke ich, dass das grüne Licht in meiner rechten Hand verschwunden ist - ich hatte mich tatsächlich an GRIN gewöhnt. Jack lehnt sich zurück und greift mit einem angewiderten Gesicht in seinen Nacken. Stimmt ja, er wurde "gesichert" - sie müssen ihm eines dieser Schmelzimplantate verpasst haben! Können sie uns damit nicht ohnehin orten? Eigentlich habe ich tausend Fragen, aber die Scheinwerfer im Rückspiegel treiben mich genau so an wie dieses böse Flüstern im Kopf:

Warum hat Jack deine Spiele, hm? Warum hat Jack bloß deine heilige Sammlung? Tja, das ist wirklich komisch. Und vielleicht sogar tragisch: Denn wenn er die schon hat, dann hat er vielleicht auch deine Familie?

Meine Backenzähne malmen, Reifen quietschen und wir nehmen Fahrt auf. Jack schnallt sich an, hustet kurz und murmelt kaum verständlich:

"Endlich hast du's kapiert, Junge."

Ich gebe Vollgas.


To be continued...


Jörg Luibl
Chefredakteur

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