Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 19
Freitag, 08.05.2009

Per Anhalter in die Spielezukunft XVII


Bruno Dissmann schaut vom zehnten Stock auf eine Stadt, die gerade erst erwacht: Sony-Center, Brandenburger Tor, Reichstag. Aber die Sehenswürdigkeiten interessieren ihn nicht. Sein Blick wechselt hektisch zwischen den Fassaden, streift glasig über die Spree und findet keinen Ruhepunkt - genau so wenig wie seine Gedanken.

Erstens ist er noch nie zu spät zum Datenbriefing gekommen. Seit sechs Jahren ist er jetzt im Dienst, war immer pünktlich, immer zuverlässig - aber kurz vor dem Haupteingang ist er tatsächlich in einen der gefürchteten braunen Haufen getreten, die die Hauptstadt beflecken. Bisher schien er wie ein junger Gott über dem Hundescheißeteppich zu schweben.

Zweitens hatte er noch nie so schlechte Nachrichten im Gepäck. Bisher konnte er jedes Mal glänzen, schwamm auf einer regelrechten Erfolgswelle mit dem immer gleichen, karrierefreundlichen Rauschen: SecuScan durchgeführt, Zielperson geortet; Zugriff erfolgt, Zielperson markiert; Strafe vollzogen, Angeklagter defragmentiert.

Es ging steil bergauf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er vom Datenober- zum Datenhauptsekretär befördert worden wäre, von Besoldungsgruppe A8 auf A9! Und jetzt das: Zielpersonen erneut geflohen, Beamte schwer verletzt, Aufenthaltszeit unbekannt. Warum musste ihm das passieren? Straffinski wird not amused sein. Oh nein, der Chef wird ganz und gar not amused sein.

"Herr Dissmann?"

Die Stimme der Sekretärin lässt ihn kurz zusammen zucken. Schaut sie ihn strenger an als sonst oder bildet er sich das nur ein?

"Ähm, ja - hier."

"Sie können jetzt ins Büro. Er erwartet sie bereits."

Der despektierliche Blick, der gereizte Ton - oh ja, die ansonsten so diszipliniert lächelnde Frau Schmadtke hat die Laune des Chefs wohl schon zu spüren bekommen. Also scheint sich etwas bis in die oberste Etage rumgesprochen zu haben.
Bruno Dissmann richtet seine Krawatte. Dann marschiert er mit einem kurzen Nicken am gläsernen Empfangsschreibtisch vorbei, drückt die polierte Bronzeklinke durch und bemerkt den kalten Schweiß in den Handflächen. Nervosität krabbelt seinen Nacken so schnell hinauf wie eine Spinne.



"Per Anhalter in die Spielezukunft" ist eine Fortsetzungsgeschichte, die alle 14 Tage erscheint. So lange, bis Jack der Sprit ausgeht oder die Welt gerettet wurde. Was bisher geschah:

Kapitel I - Das gelbe Taxi

Kapitel II - Der Spielehistoriker

Kapitel III - Tennis for Two

Kapitel IV - Der Feuerwehrmann

Kapitel V - G.R.I.N.

Kapitel VI - Der Spieleshop

Kapitel VII - Die alte Frau & das Bild

Kapitel VIII - Verrat im Regen

Kapitel IX - Jack is back

Kapitel X - Wahrheit oder Pflicht?

Kapitel XI - Der Alptraum

Kapitel XII - Whiskey im Buick

Kapitel XIII - Der Traum wird wahr

Kapitel XIV - Kampf an der Tanke

Kapitel XV - Die Kettensäge tanzt

Was zuletzt geschah:

Kapitel XVI - Flucht ohne Leiche

Erst wird er von Resten schwelenden Altherrentabaks begrüßt - etwas wie Chilipfeffer, grob und brandig, beißt in seine Nase. Aber das ist nichts gegen den sengenden Blick von Hermann Straffinski, Datenhauptdirektor der BKfiBU. Ein drahtiger Hüne, Ende 50, der nie ohne sein SecuEye und einen Zigarrenstummel zwischen den Zähnen auftaucht - der Flurfunk nennt ihn nur " Stauffenberg" oder "Graf 2.0". Seine bionische Augenklappe scannt alles: Körperwärme, Kunststoffe, Metalle, Flüssigkeiten - sogar Angst und Wut.

Straffinski stiert Dissmann mit seinem rechten stahlblauen Auge an wie ein Boxer vor dem ersten Schlag; das Jackett ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt. Und natürlich täuscht er zunächst harmlos an:

"Ach, Dissmann? Was gibt es zu berichten?"

"Es hat einen Zwischenfall gegeben."

Erst jetzt stemmt der Dienstherr langsam die Fäuste in die Hüften. Dissmann spürt einen ganz leichten elektrischen Impuls im Nacken.

"Was für einen Zwischenfall?"

"Der Zugriff auf die Zielperson ist...gescheitert."

Das verbliebene Augenlid zuckt, bevor Hermann Straffinski zu seinem Schreibtisch schreitet und seine Zigarre langsam ausdrückt. Dabei zieht er ein angewidertes Gesicht, als würde er ein Insekt zerquetschen.

"Sie wollen mir sagen, dass Jack Higginbotham immer noch frei durch die Weltgeschichte rast? Sie wollen mir sagen, dass wir nach all dem mit leeren Händen dastehen?"

"Richtig. Und...ähm...Beamte wurden verletzt."

Straffinskis Blick bohrt sich in ihn hinein, angetrieben von einem knurrenden Tonfall.

"Wie bitte? Können Sie das näher erläutern?"

"Keiner ist in Lebensgefahr."

Straffinski schüttelt verärgert den Kopf.

"Das interessiert mich nicht, sie Trottel! Ich will wissen, wie und womit das passiert ist!"

"Mit einer Kettensäge."

"Mit einer was?"

"Mit einer Kettensäge."

"Wie kann denn eine ganze Dateneinheit so aufgerieben werden?"

"Wir hatten erst kein Glück, als Higginbotham unerwarteter Weise ohne den Jungen zum Zielort ging. Dann kam auch noch Pech hinzu, als dieser verrückte Primat aus der Vergangenheit ausgerastet ist - eigentlich hatten wir ihn schon, aber dann wehrte er sich plötzlich. Mielitzke konnte ihm ja keinen UBB-Chip zur Dämpfung einpflanzen..."

"Ach so? Frau Datenhauptsekretärin Mielitzke, ihre Vorgesetzte im Außendienst, hatte doch eine Zugriffsfreigabe von ihnen, nachdem sie, Herr Datenobersekretär, G.R.I.N. gehackt und einen Hinterhalt geplant hatten, nicht wahr?"

"Ja."

"Sie haben also versagt - können wir das festhalten?"

"Ja."

"Gut. Sehr gut. Und jetzt verraten sie mir, wie wir aus diesem Schlamassel herauskommen, sonst rollt ihr intelligenter Kopf. Und das wäre doch dumm, oder?"

"Sehr dumm."

"Gut. Wenn das Innenministerium von nicht autorisierten Dateneinsätzen samt Gewaltausbrüchen erfährt, dann wäre das ärgerlich. Der Minister wird nicht erfreut sein, wenn er davon hört, dass das Zeitkontinuum gestört wurde und ein Staatsfeind frei herumläuft. Richtig unangenehm wäre es sogar, wenn die Öffentlichkeit davon erfährt."

"Richtig. Aber noch weiß niemand, was passiert ist. Wir müssen nur verhindern, dass Higginbotham und dieser Typ bis in unsere Zeit gelangen."

Zum ersten Mal lächelt Straffinski wieder.

"Richtig, Dissmann. Sie sind ein schlaues Kerlchen. Was wissen wir über diesen Beifahrer?"

Dissmann wühlt kurz in seiner Aktentasche und atmet durch, als würde ein unsichtbares Fadenkreuz von seiner Stirn zum nächsten Opfer wandern.

"Ich habe seine Akte hier. Sie wurde schon bei der Rasterfahndung 2003 angelegt: Männlich, Spieler, LAN-Teilnehmer, intelligent, technikaffin, früh verheiratet. Er galt schon damals als Risikofaktor mit Autoritätsproblem. Hat mal einen Encodierungswettbewerb gewonnen, aber schlechtes Abitur, Studium abgebrochen, dann freier Spieletester, wegen illegaler Kopien von unbekannt angezeigt, Widerstand gegen die Staatsgewalt bei der Hausdurchsuchung, Anzeige wegen Körperverletzung, danach Job verloren. Ach ja, er soll..."

"...danke, Dissmann. Warum setzen sie die Familie dieses Kriminellen nicht etwas stärker ein, um diese Fahrt zu stoppen? Frau Mielitzke hatte das laut den Akten mit diesem Foto versucht, nicht wahr?"

Dissmann verlagert sein Gleichgewicht vom linken auf den rechten Fuß:

"Ja. Aber das war nur ein Bluff. Wir wollten ihn damit ködern, wir haben die Fotos gefälscht."

"Wie bitte?"

"Wir haben die Familie nicht. Das war nur ein Bluff."

"Wer hat sie dann?"

"Die FreeGamer."

Straffinski springt auf, hämmert eine Faust auf den Schreibtisch und zum ersten Mal in seiner Dienstzeit hört Bruno Dissmann den ansonsten klinisch kühl agierenden Chef brüllen:

"WAS ZUR HÖLLE HAT DIESER KRIMINELLE ABSCHAUM DENN VOR?"

Dissmann leckt sich über die trockenen Lippen. Er weiß, dass seine Karriere gerade so wackelt wie das Empire State Building nach Godzillas Umarmung. Aber er wittert seine Chance. Auch wenn ihn bisher alle in der Abteilung belächelt haben, steckt mehr hinter der Sache als bloßer Zufall. Dann spricht er es aus.


Story put on hold...


Jörg Luibl
Chefredakteur





PS:

Hallo Lesefreunde,

dem Buick geht der Sprit aus; nicht, dass er nicht weiterfahren will, aber irgendetwas stimmt mit dem Motor nicht - ich werde die Fortsetzungsstory erstmal auf Eis legen und die Rubrik für normale Kolumnen öffnen.

Die Grundsteine für eine Geschichte sind gelegt, vielleicht kann man darauf jetzt etwas Größeres bauen. Aber bevor ich den Weg weiter festlege und etwas verbaue, will ich das Ganze etwas reifen lassen - momentan schwirrt da zu viel herum; außerdem ist die E3 im Anmarsch.

Eigentlich wollte ich nur kleine Episoden nach Jahren geordnet erzählen, aber jetzt hat mir die BKfiBU mit Bruno Dissmann und Straffinski einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da bahnen sich Verwicklungen an, die der Klärung bedürfen. Gut Ding will Weile haben.

Entweder taucht Jack hier nach der E3 noch mal auf oder ich werde die komplette Geschichte irgendwann in einem anderen, etwas altmodischeren Format erzählen.

Was ich auf jeden Fall noch sagen muss: Danke. Und zwar für euer Interesse und das Feedback. Ich hätte nicht gedacht, dass dieses erzählerische Experiment so lange funktionieren würde - das erste Kapitel ging ja im September online; ich dachte, dass spätestens Weihnachten die Welt gerettet ist.

Also nochmal vielen Dank! Ohne euch wäre der Buick gar nicht erst so weit gefahren.




 

Kommentare

Jörg Luibl schrieb am
Na ja, das war ja nur ein kleines Story-Experiment. Ich bin eingestiegen und dieser Typ hat Gas gegeben. Aber die Story wurde leider genauso von der Zeit eingeholt wie Jack von der BKfiBU. Man müsste nachträglich viele Inkonsistenzen der Spielezukunft bereinigen. Wichtig ist: Sie haben ihn noch nicht defragmentiert. Sein Datencharakter blinkt noch. Es kann also sein, dass die Geschichte mal komplett irgendwo erscheint.;)
ruxer schrieb am
Lob an Jörg Luibl,
sehr gut geschriebene Geschichte, die wirklich spannend und einfallsreich rüberkommt.
Besonders in die Charaktere konnte ich mich gut verstezen...
Die Geschichte finde ich so gut, ich würde einen Film daraus drehen :)
Was die Geschichte aber für mich besonders gut macht, ist die unwissenheit über den Ausgang der Story...
PS: Eigentlich fange ich garnicht erst an mit Sachen an die eine Fortsetzung haben, auf die man so lange warten muss (hier bin ich reingefallen weil ich dachte die Geschichte wurde zu ende geschrieben) aber hier bereue ich es nicht auch wenn das letzte Kapitel mehr als 3 Jahre zurück liegt. Ich hoffe stark auf eine Fortsetzung (hoffentlich bin ich nicht alleine mit der Meinung), was müsste man jetzt tun damit es weiter geht ? :P
Von mir gibts volle Punktzahl für dieses Meisterwerk !!!
ali4 schrieb am
Thread-Necro!
Ih würd mir nach 2 Jahren auch mal eine Fortsetzung wünschen..
Jumn schrieb am
Gibts wohl irgendwann noch eine Fortsetzung? Ich bin sicher, viele hier, ich eingeschlossen, würden sich sehr drüber freuen :)
R_eQuiEm schrieb am
4P|T@xtchef hat geschrieben:Okay, okay, okay. Ich hab auch schon ein schlechtes Gewissen. Aber noch schlechter steht es um meine Zeit. Dieser verdammte Oktober ist quasi Testers Overtime Hell - wir müssen hier quasi in Deckung gehen, so schnell schlagen hier die Muster ein. Wenn ich Dragon- Age und Demons Souls verdaut habe, dann geht es aufwärts, dann kann ich durchatmen und ernstes Wörtchen mit Jack sprechen...
:?
wie doch die zeit vergeht....
schrieb am