Jörg Luibl
Der alte PommesbudenheldEine Kolumne von Jörg Luibl, 10.07.2009
Ein Mann sitzt auf der Couch, starrt mit glasigem Blick auf eine Rangliste. Er hat alles gegeben, er hat geschwitzt und gekämpft. Er hat sich die Finger wund gespielt. Er hat sich eingebildet, richtig gut zu sein. Aber der Stolz auf die eigene Leistung zerschellt schon beim ersten Blick auf diese verfluchten Zahlen. Er ist ein kleines Würstchen auf Platz 356.678 der weltweiten Liga. Morgen wird er noch weiter abrutschen. Was ist bloß passiert? Früher war man noch wer, wenn man zocken konnte. Heute ist man ein niemand unter Millionen pseudocooler Nicknames - nichts als eine globalisierte Null!

Bevor die Minderwertigkeitskomplexe von Suizidgedanken überholt werden können, übernimmt der Alterstrotz das Steuer: Was für eine Spielwelt ist das denn heute? Es scheint ja ein grundlegendes Gesetz zu sein, dass schon am ersten Verkaufstag Leute mit gefühlten hundert Siegen an der Spitze stehen. Wo haben diese Heuschrecken die Spiele her? Geklaut? Gecrackt? Andere schlagen in Tiger Woods mal eben 16 Eagles, punkten in Super Stardust HD im neunstelligen Millionenbereich oder verlieren kein einziges von 654 Eishockeyspielen. Wie schaffen die das, wenn es keine Koreaner sind? Was sind das für unerreichbare Biomonster? Verdammt, man kann sie noch nicht mal anrufen, um sie anzuschreien!

Der Mann klickt die Rangliste weg, starrt teilnahmslos aufs Hauptmenü. Früher war eben alles besser. Sind doch alles kleine Cheater & Schmarotzer heute! Es war persönlicher. Die können doch eigentlich nix, gar nix! Es war schöner. Verwöhntes Autoaiming-Pack! Und freundschaftlicher. Strunzdummes Klick&Blöd-Gesocks! Der Mann wird rührselig, schlurft um die Ecke, holt sich sein viertes Bier. Oder war es das fünfte? Es plöppt laut. Dann zieht er den Netzstecker. Scheiß Internet! Immer diese 24/7-Vernetzung! Muss man immer mit der ganzen Welt spielen? Als er sich resigniert auf die Couch fallen lässt, nimmt er noch mal einen kräftigen Schluck. Dann schließt er die Augen und reist zurück in das Offline-Früher, in seine Arcade-Zeit, in seine Glory Days...

...Vokuhila-Frank qualmt Kette an der Theke, Cyndi Lauper singt in den Boxen und eine Frau mit verdächtig glänzendem Haar wendet Bratwürste. Während sich draußen ein Kreis Halbstarker mit komischen Lederstreifenjeans um einen wummernden Golf GTI versammelt, brutzelt drinnen die Fritöse im gequälten Takt zu True Colors. Die alte Welt nimmt Konturen an: Achtziger Jahre. Ruhrpott. Bottrop-Süd. Und jetzt zoomt die Erinnerung des Mannes ganz nah ran an die Pommesbude "Zum scharfen Eck", in der sich Großartiges zwischen Frikadellenauslage und Eistruhe abspielt - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein Junge in ausgelatschten Sambas versinkt nicht nur in seiner dreistreifigen Trainingshose, sondern auch in einem schwarzen Kasten mit der Aufschrift "Moon Cresta ". Es sieht fast so aus, als würde er gleich von dem klimpernden Automaten verschluckt werden. Er nimmt weder Dosen-Kalle wahr, der mit glasigem Blick neben ihm hin und her wankt, noch seine Freunde Maik, Totte und Chris, die mit offenem Mund auf den Bildschirm starren und ihren Augen nicht trauen. Selbst ihr Hubbabubbaschmatzen verstummt angesichts der nahenden Sensation. Und der Tangoball, den sie vorhin noch beim Langfletschen zwischen Garagentoren malträtierten, eiert schon herrenlos zum Ausgang...aber das interessiert niemanden.

Alle Blicke fixieren 256 x 224 Pixel in 98 Farben: Auf dem düsteren Bildschirm kämpft sich ein gleißendes Raumschiff von unten nach oben gegen fiese Zupus, Tauriden und Helicons. Der Junge hat seine letzte Mark verzockt und seine Credits zeigen die böse Doppelnull an - noch ein Fehler und es heißt "Game Over". Noch ein Fehler und er wird wie immer hungrig nach Hause gehen. Er hat Star Wars gesehen, sammelt die Figuren wie Heiligtümer in seinem Kinderzimmer. Und er will einmal ein Held sein, einmal Luke sein. Jetzt ist er komplett mit dem Steuerknüppel verschmolzen, ist mit all seinen Sinnen und jungen Reflexen ein Teil der futuristischen Monderoberung. Es zischt, es kracht und wenn in den nächsten Sekunden nicht alles schief geht, dann könnte hier und heute diese eine magische "HI-SCORE" geknackt werden, dann könnte in Bottrop-Süd ein neuer Stern am Pommesbudenhimmel aufgehen!

Denn niemand, nicht mal jemand aus der Spielothek in Bottrop-West, konnte bisher Conny Koslinski aka CoK von Platz 1 verdrängen. Seine drei Buchstaben thronen seit Wochen ganz oben auf der Automatenanzeige. Kein Wunder: Einmal hat Conny sogar einen Heavy in schwerer Kutte aus Essen in seiner eigenen Spielhalle vorgeführt, als er ihn in 1943 auf Platz 2 zurückbombte - Teufelskerl! Er fährt nicht nur ne 80er Yakusa, sondern geht auch mit Britta "Orlowski" Schrapmann - und zwar nicht nur ins Kino. Oder um es anders auszudrücken: Conny fährt kein blödes Moped. Conny ist schon 17. Conny hat (höchstwahrscheinlich) Geschlechtsverkehr. Conny ist Gott.

Aber vielleicht nicht mehr lange. Luke wurde auch nicht als Jedi geboren. Jeder hat irgendwann seine Zeit. Der Junge macht sich mit verschwitzten Händen für das zweite und finale Andocken bereit: Kann er das kleine Schiff erneut auf das größere Schiff lotsen, damit sie zu einem Flaggschiff mit fünf Geschützen verschmelzen? Er hat nur dreißig Sekunden für das knifflige Manöver und muss den Umkehrschub clever nutzen, wenn er das von oben heran schwebende Schiff für ein pixelgenaues Andocken verlangsamen will. Falls es eine Kollision gibt, sind alle Bonuspunkte futsch und Conny bleibt unerreicht.

Der Junge weiß das, sein Herz klopft im Stakkato, der Steuerknüppel bewegt sich vorsichtig, Hand und Auge arbeiten im angespannten Team für jeden Pixel. Nur das Brutzeln der Fritöse ist auf den letzten Metern des Raumschiffs zu hören: Noch drei, zwei, eins...angedockt, hurra! Erster verhaltener Jubel in der Pommesbude. Die Musik wird ausgeschaltet und selbst Vokuhila-Frank, der seit Jahren nur sitzend und rauchend gesehen wurde, schlurft plötzlich wie ein taumelnder Boxer rüber. Denn alle spüren, dass eine Sensation in der Luft liegt. Auf dem Bildschirm kündigt sich das Finale von Moon Cresta an, das bisher nur einer gesehen hat: Conny Koslinski.

SPACE PATROL ABORD

CAN YOU SURVIVE THE LAST INVASION?

Jetzt kommt die letzte Feindwelle: Die Titanen. Und hier konnte sich bisher niemand länger als fünf Sekunden halten. Aber das Raumschiff feuert mittlerweile aus fünf Lasern und der Junge fixiert den Bildschirm mit einem irren Tunnelblick. Die gelbroten Raketen hageln wie ein explosiver Schauer vom Himmel, aber der Steuerknüppel bewegt sich wie von Geisterhand und das dreiteilige Raumschiff ballert alles weg, was ihm in den Weg fliegt: Er hält sich nicht nur fünf, sondern sechs, sieben und sogar acht Sekunden! Das Punktekonto klimpert so schnell in die Höhe, dass Maik, Totte und Chris erst gar nicht merken, was da wirklich steht.

Erst als das Raumschiff nach zwölf (!) Sekunden explodiert, erst als "Game Over" blinkt und ein Platzhalter auf den ersten Buchstaben wartet, jubeln sie alle! Sie jubeln, als hätten sie den Aufstieg in die zweite Kreisklasse geschafft. Hände klatschen auf schmale Schultern, Dosen-Kalle lallt etwas von "Han Solo sein Sohn", während Maik, Totte und Chris auf die Punktanzeige starren: Ihr Freund, der kleine Junge aus Bottrop-Süd, der nicht mal vom Fünfer springt und kürzlich den Elfer gegen TuS Rüttenscheid verschossen hat, der steht auf Platz 1, der hat tatsächlich die HI-SCORE! Und der Rest der Welt ist egal. Es gibt kein Internet in der Pommesbude. Es gibt keine Koreaner weit und breit, keine Weltrangliste und keine eSports-Profis. Es gibt nur diese HI-SCORE. Erst drei Wochen später wird sie verschwinden, weil der neue Besitzer den Netzstecker zieht - man erzählte sich, er habe dabei "Blödes neumodisches Videospielzeugs" gemurmelt.

Der Mann seufzt. Dann nimmt er einen letzten Schluck. Warum investiert er seine Zeit überhaupt in den Wettbewerb mit anonymen Cheatern und Ranglistenhengsten? Warum interessiert er sich überhaupt für diesen Online-Schwanzvergleich? Vielleicht ist seine Zeit als Spielefresser ja auch abgelaufen. Vielleicht sind seine Reflexe nicht mehr die alten. Vielleicht muss man die Analogsticks einfach mal gerade sein lassen. Er sollte Maik, Totte und Chris anrufen. Er hat sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen. Sie könnten mal wieder zusammen spielen. An einem Fernseher. Irgendwas. Einfach so. Offline. Nicht globalisiert, sondern lokalisiert. Ohne die ganze kompetitive globalisierte Scheißwelt im Nacken.

Warum nicht sogar den alten Brotkasten aufbauen? Oder den Amiga? Vielleicht Dreamcast? Nur mal zusammen zocken. Um der guten alten Zeiten willen. Und weil's Spaß macht.


Jörg Luibl
Chefredakteur


PS: Wer Moon Cresta noch kennt oder es kennen lernen will, der findet bei Wikipedia  einen Überblick und hier  detaillierte Informationen. Viel Spaß bei der Recherche oder beim Anspielen - es lohnt sich auch heute noch!


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