Jörg Luibl
Grafikpracht und Gameplay-OhnmachtEine Kolumne von Jörg Luibl, 12.11.2001
Vor mir liegt ein herrliches, in feinstes Leder gebundenes Buch. Große, goldverzierte Lettern wecken meine Neugier. Mein Auge labt sich an verschlungenen Verzierungen, meine Hände tasten sich zitternd weiter, ich öffne diese kleine Schatzkiste, harre der literarischen Köstlichkeiten, die da kommen mögen und finde...die Bild-Zeitung.

Na, klingelt da was? Selbst schon Blickfang-Erfahrungen gemacht? Das Gefühl, zunächst optisch beeindruckt und dann inhaltlich bzw. spielerisch verarscht zu werden dürfte auch so mancher Zocker kennen. Was die Götter für die Religionen, ist die Grafik für die Spielewelt - sie wird angehimmelt, ständig den Wünschen der Gläubigen angepasst und heilsbringend vermarktet. Die GeForce 3 avancierte zum Propheten neuer Grafikdimensionen und die Entwickler rennen manchmal wie eine Hammelherde hinterher. Oder wie erklärt man sich das Ungleichgewicht zwischen optischer und spielerischer Qualität?

Man denke an AquaNox, dessen Hitpotenzial aufgrund schwacher Story und einseitigem Gameplay verschenkt wurde. Oder Pool of Radiance 2, das im Vorfeld mit Dreidimensionalität protzte, aber spielerisch in den 80ern stecken geblieben ist - keine Konkurrenz für das isometrische Baldur`s Gate 2. Oder Myth III, oder Evil Twin etc.

Die kometenhafte Entwicklung im Hardwarebereich hat dazu beigetragen, dass die virtuellen Welten immer realistischer werden müssen. Die Werbebranche propagiert die High-End-Leistungen aktueller Prozessoren und Grafikkarten, aber am Ende sollten Entwickler mit ihrer Kreativität für Spielspaß sorgen. Dass die Grafik im Vergleich zum Gameplay sogar vernachlässigt werden kann, zeigen Spiele wie Arcanum oder Civilization III. Manche Spiele scheitern allerdings daran, dass die äußere Hülle dermaßen poliert wird, dass die inneren Werte vollkommen verblassen. Das merkt man dann nach wenigen Spielstunden: Dead or Alive 2 und Zone Of The Enders lassen im PS2-Bereich grüßen. Und dass die Xbox-Technik alleine nicht reicht, um lange zu faszinieren, zeigt das Ergebnis des ersten Xbox-Tests auf Gamespy: Dead or Alive 3 kommt auf magere 80% - optisch äußerst delikat, spielerisch zu flach:

"In the end, Dead or Alive 3 has one major failing - its gameplay lacks the depth and innovation it needs to differentiate itself from its famous predecessor."

Dieses Problem können auch Wunderkonsolen nicht lösen, sie übertragen es nur auf ein höheres Grafik-Niveau. Trotzdem gibt es Grund zur Hoffnung: Manche Titel zaubern genau den prickelnden Mix aus Grafik und Gameplay, der die ganze Spielerseele fängt - und nicht nur das Auge. Doch um in solche Bereiche vorzustoßen, sollten sowohl Entwickler als auch Publisher die Qualitätskontrolle ihrer Produkte ernster nehmen. Ich empfehle neben Grafikern, Programmierern, Textern und PR-Managern eine Art Regisseur oder Dramaturg, der für den gesamten Spielspaß verantwortlich ist und dafür sorgt, dass die vielen Zutaten am Ende auf der Zunge zergehen und keinen faden Nachgeschmack hinterlassen.

Jörg Luibl
4P| Textchef
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