Jörg Luibl
Rain Effect – Wann ist ein Spiel ein Spiel?Eine Kolumne von Jörg Luibl, 16.02.2010
Bei der Definition des Mannes sind sich ja alle einig: Er ist stark, kauft Frauen, baut Raketen, hat's schwer und nimmt's leicht. Die coole Sau der Evolution, die immer in der Sonne steht - und wenn nicht, dann lacht er im Regen. Der Homo sapiens mit Brustbehaarung hat allerdings mehr als hunderttausend Jahre für diesen klar definierten Spitzenplatz gekämpft.

Das frisch geschlüpfte Spielkind hat es da schwerer. Es konnte sich zwar recht zügig von der Pong-Zelle zur virtuellen Zivilisation entwickeln und ganz viele tolle Waffen bauen. Aber das ging so schnell, dass es zwischendurch auch mal hässlich implodierte - Myst DS, Gothic 3, Stormrise. Trotzdem hat es sich als überaus neugierige Spezies so langsam von den dominanten Alpha-Medien emanzipiert. Man hätte fast meinen können, es wäre als gleichberechtigter Zeitfresser endlich akzeptiert.

Aber die anderen sind immer noch ganz schön stark: Der Buchosaurus rex ist ein kulturgeschichtliches Ungetüm mit tausenden Jahren an Erfahrung und überaus elitären Fans. Und auch sein flinker Verwandter, der Filmosaurus rex, hat sich seit mehr als hundert Jahren prächtig in seinem Schatten entwickelt. Beide haben sich immer gerne beeinflusst und noch lieber begattet - der Nachwuchs überlebt das natürlich nicht immer, aber es scheint ihnen Spaß zu machen. Und manchmal schlüpfen sogar großartige Buchfilme, die Leser und Zuschauer feiern.

Da will das kleine Spiel natürlich mitmachen. Es ist eifersüchtig, wurde oft ausgelacht oder zur Primetime kriminalisiert. Dabei will es doch auch stolz darauf sein, endlich mehr zu können als Ping, Peng und Pung! Aber kaum steht es mal selbstbewusst wie ein Mann im Regen, nachdem es den kulturhistorischen Sex so richtig genossen hat, wird es gleich als Spezies in Frage gestellt: Das ist ja gar kein Spiel mehr! Das riecht ja fast schon so streng wie ein Film! Oh Schreck, das ist ja fast wie Inzest oder zumindest die Pest!

Ist das nicht schrecklich gemein? Und spießig? Und dumm? Jetzt hat sich der kleine Spielosaurus rex doch tatsächlich mal vom Filmosaurus rex befruchten lassen und schon soll er gar kein Spiel mehr sein? War das vielleicht verbotene Liebe? Das ist ja wie kulturfrigides Mobbing! Dabei hat er das doch erstens schon so oft in aller Öffentlichkeit gemacht, sonst wäre starker Nachwuchs wie Max Payne, Half-Life, Silent Hill, Deus Ex, Thief, Metal Gear Solid & Co nie so bejubelt worden. Die faszinierenden Gene des Films, die aus Polygonen interessante Charaktere und aus Leveln glaubwürdige Kulissen machen, stecken schon überall. Heavy Rain zeigt seine Reize nur deutlicher, steht mit seinen Reaktionsteststrapsen einfach so da und zeigt den etablierten Genres auch noch frech den cineastischen Arsch.

Pfui, deibel! So darf sich ein anständiges Spiel nicht zeigen! Wollen denn die meckernden Spielfundamentalisten auf ewig mit Tower Defense und Tetris klimpern? Wollen sie nicht, dass der Saurier wächst? Zumal der Vorwurf gerade aus Spielerkreisen schrecklich konservative Hysterie ist: Als wäre Heavy Rain kein Spiel! Es ist Pong mit Plot und Polanski - also Reaktionstest mit Story und Regie! Die Mechanik dahinter ist wesentlich anspruchsvoller als das Dauergeballer in so manchem strunzblöden Shooter, denn hier muss man tatsächlich mehr als einen Knopf drücken und auch noch nachdenken, bevor man ihn drückt. 

Heavy Rain ist ein offenes Erlebnis, über das man im Gegensatz zur beschränkten Filmphobie des Februar 2010 noch bis ins Jahr 2020 sprechen wird, wenn das Subgenre des interaktiven Thrillers die Charts erobert - dann wird man zurückblicken und in einer Laudatio David Cage applaudieren. Es kann natürlich auch alles anders kommen. Aber dieses Spiel hat eine ganz wichtige Tür geöffnet, hinter der eine emotionale Welt der Möglichkeiten auf neugierige Entdecker und mutige Entwickler wartet - also hoch die Tassen, die Zukunft ist tatsächlich dramatischer als Need for Highscore!

Vielleicht muss mal ein Buchsaurier brüllen und Partei für seinen kleinen Verwandten ergreifen. Der Kulturwissenschaftler Huizinga hat das Spiel schon im Jahr 1938 sehr weise definiert:

"Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des 'Andersseins' als das 'gewöhnliche Leben'." [Homo Ludens; 1938/1991, Seite 37]

Wann ist ein Spiel ein Spiel? Wenn es mich entführt. Wenn es mir die Wahl lässt. Wenn ich mit ihm im Sinne der althochdeutschen Wortbedeutung tanzen kann. Wenn ich mich in ihm bewegen und es mit allen Sinnen erleben kann.

Heavy Rain ist ein Spiel par excellence!


Jörg Luibl
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