Jörg Luibl
Kleines Spiel, großer ComicEine Kolumne von Jörg Luibl, 22.06.2011
Habt ihr es gesehen, da hinten? Cool, magisch, berauscht, manchmal ganz schön frech und schmutzig. So ist es eben, das Spiel. Es ist ja noch so jung, so tapsig. Ab und zu blitzt sein Potenzial auf, ab und zu strotzt es vor jugendlicher Kraft und Kreativität. Dann gibt es ganz tolle Geschenke aus aller Welt – sogar einen roten Teppich in Hollywood! Dann strahlt er, der kleine Chartstürmer. Nein, das Gespenst aus Erfurt macht ihm keine Angst mehr.

So richtig erwachsen? Okay, das ist er nicht. Eher ein selbstbewusster Teenager, der sich Respekt verschafft und in die Herzen der Gesellschaft gefuchtelt hat. Jetzt raucht er sogar schon DLC, der clevere Rabauke! Seine älteren Verwandten sind natürlich etwas weiter und reifer. Da ist Opa Buch mit all seinen Weisheiten und seinem langen Bart - der hat tausend Kriege und ganz andere Genies als Molyneux erlebt. Dann ist da der ältere Bruder Brettspiel mit seinen konservativen, aber überaus sozialen Tischmanieren. Schließlich flaniert im Vordergrund die schicke Tante Film, die scheinbar ewig sexy bleibt - und auf die das Spiel immer häufiger ganz ungeniert ein Auge wirft.

Aber er wird noch nicht ganz ernst genommen, der qualmende Polygonrocker. Es ist ja auch nicht schön, der kulturhistorisch Kleinste und Unreifste zu sein. Er wird aufgezogen, muss sich ständig beweisen und rechtfertigen, soll erzählerisch auf Opa hören, sich ein Beispiel am ordentlichen Rundenbruder nehmen oder dramaturgisch so weltgewandt wie die Tante präsentieren. Oder wenigstens mal ihren Mantel überwerfen, damit er nicht so nackt durch Liberty City oder die Wüste rast – ist ja peinlich pubertär, gerade jetzt in 16:9.

Da, seht ihr das? Jetzt guckt er wieder so trotzig! Alte Narben, alte Komplexe. Es ist eben eine Hassliebe mit der Tante, aber auch mit seinen simplen arcadigen Genen. Wenn das Spiel einfach mal Spiel ist, bis die Highscores wackeln, dann kommen die Kritiker und sagen, es hätte sich nicht entwickelt. Dabei liegen doch Welten zwischen Pong und Heavy Rain! Ist das etwa keine kulturhistorische Leistung? Alle meckern, nörgeln und mosern. Aber lass dich nicht unterkriegen, du tapferes Spiel – hab Mut, geh vorwärts, verwandel und entwickel dich! Denn so ging es auch mal dem verstaubten Opa, dem spießigen Bruder und der aufgetakelten Tante. Außerdem gibt es ja noch einen bösen Cousin, der dir ganz ähnlich ist, der genau so verpönt wurde und der es letztlich bis in den Louvre geschafft hat  - schau ihn dir an!

Da hinten gibt er gerade Autogramme in seiner Lederjacke und grinst diabolisch: Dieser üble, gewalttätige Bursche – selbst den Serienmörder Haarmann hat er verewigt. Aber er hat wirklich Biss und Stil. Auch er musste diesen medialen Minderwertigkeitskomplex überwinden, bevor er in der Stadt der Sünde auftrumpfte. Vielleicht kannst du dich an ihm orientieren, dich an seiner Karriere aufrichten? Was hat er sich mit Opa rumschlagen müssen, was hat er in seinem literarischen Schatten als komischer Schund gelitten – so sehr, dass er nur noch Sprechblasen sabberte!  Er galt als bildgewaltiger Kinderschreck und Vorzeichner der Apokalypse: Verrohung, schlechter Einfluss, kultureller Verfall, Sittenlosigkeit, Verbrechen. Du kennst ja das Gezeter der moralisch Empörten.

Ihr beide hattet eure glorreiche Zeit: So wie du in den 80er Jahren zwischen Atari, C64, NES und Amiga aufblühtest, so strotze dein Cousin in der 40er Jahren vor goldener, nahezu übermenschlicher Kraft. Aber jammer nicht! Die Prügel, die du nach Erfurt einstecken musstest, waren nichts im Vergleich zu dem, was dein Cousin seit 1954 , offiziell sogar bis 2011 erleiden musste – Verstümmelungen bis hin zur gutmenschlichen Unkenntlichkeit, Verflachungen bis hin zur blutleeren Fließbandunterhaltung. Die Kraft und Kreativität der goldenen Ära war dahin, es grinsten die politisch korrekten Superdumpfbacken vom Kiosk.

Die kennst du auch, du gieriges Spiel! Die 08/15-Glatzen, die Kitschbabes, die Abziehklone, die Levelclowns - sie sind Legion. Du kennst den Trash, die Anspruchslosigkeit und die stramm stehenden Kahlrasierten. Aber denk immer an die Hartnäckigkeit deines Cousins, denn er hat Jahrzehnte gebraucht, um sich zu erholen, auch er musste in den Untergrund gehen und wird heute noch zensiert.

Unfair? Okay, er muss tatsächlich weniger Kompromisse eingehen, kann seine stilistische Vision einfacher und günstiger umsetzen – bei ihm regiert das Artdesign zusammen mit dem Ego, bei dir die Engine und das Team. Aber auch das bröckelt. Schau dich an! Du wirst immer individueller, bizarrer und experimenteller. Die Magie der Skizzen und Entwürfe ist auch bei dir häufiger das pulsierende Herz der Atmosphäre. Vielleicht musst du noch etwas schneller tyrannischer und kompromissloser werden! Bald wird Platz dafür sein und vor allem Bedarf.

Du brauchst auch die Phase des Mainstreams, denn sie bringt dir Publikum, viel junges und unverbrauchtes Publikum. Und das will nach dem ersten Fastfood mehr, will genauso wie die Veteranen die eigenwilligen Delikatessen, die skurrile Abwechslung oder die gereifte Tradition. Deshalb bist du auf einem guten Weg, du suchst öfter den Untergrund, die Unabhängigkeit, die Unangepasstheit – und das ist gut so. Denn manchmal entsteht aus der kleinen Idee oder dem angedeuteten Strich später das große Bild. Auch du willst erwachsen werden, willst mehr als Krabumm machen, willst länger wirken, willst vielleicht auch mal geschätzte Graphic Novel oder gefeierte Vorlage für eine TV-Serie sein und nicht so oft Lizenztheke. Oh, was hat man dir bloß mit diesem Thor angetan…

Aber dein Cousin hatte auch so seine Probleme mit Marvel. Und sie nur, wozu er es am Ende gebracht hat: Zur neunten Kunst! Plötzlich waren sie alle da, die späten Gratulanten in den Feuilletons, plötzlich sahen sie von der Höhle von Lascaux über den Teppich von Bayeux bis hin zu Schiller und Wilhelm Busch eine gar bestechend klare kulturelle Linie der Bildersprache! Außerdem haben Tim, Struppi und der eiserne Prinz ja nie und vor allem niemandem etwas getan. Plötzlich konnte man sogar Stan Lee, Serpieri, Simon Bisley und Frank Miller ohne gesellschaftliche Empörung umarmen, ja sogar mit der Tante vermählen und 300 auf der Leinwand gebären. Was für eine Karriere!

Jetzt ist dein Cousin etabliert, wird hofiert und in besten Museen arrangiert. Aber er hat sich bei all der Vielfalt auch seine Wildheit und seinen Charakter bewahrt. Also freu dich, du Spiel! Freu dich auf deine Zukunft, denn du stehst erst am Anfang!

Der späte Ruhm, er ist dir gewiss – das hat Familientradition.

Nur mach etwas schneller.


Jörg Luibl

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