Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 39
Freitag, 27.09.2002

Süddeutsche Propaganda


Kaffee, Toast und dazu die Süddeutsche Zeitung - herrlich! Jeden Morgen entlockt das Streiflicht dem müden Organismus ein erstes Schmunzeln. Und der Kulturteil war der einzige im deutschen Zeitungswald, der in regelmäßigen Abständen interessant und kompetent das Geschehen auf PC und Konsole beleuchtete.

War? Ja, war. Denn der Schrieb, der mir heute im Feuilleton meiner geliebten SZ entgegensprang, ist ein journalistischer Rohrkrepierer übelster Sorte.

Der scheinbar völlig überforderte und genervte Redakteur Bernd Graff versucht in seinem Dreispalter über das Xbox-Event in Sevilla zu berichten - er scheitert kläglich in einem Brei aus selbstgefälliger Sprachspielerei und fachlicher Inkompetenz.

Erzeugte die Überschrift „Kunden, wollt Ihr ewig leben?“ noch eine gewisse Neugier, sorgt der Untertitel prompt für böse Vorahnungen:

„Microsofts Spiele-Konsole Xbox geht mit Blut- und Baller-Titeln ins Netz“.

Wie bitte? Blut- und Baller-Titel? Das liest sich vielleicht gut. Fast so gut wie eine BILD-Schlagzeile. Aber das hat mit seriösem Journalismus nichts mehr zu tun. Denn erstens stellt die große Mehrzahl der Xbox-Titel gerade keine Gewalt explizit dar. Herr Graff selbst benennt nicht einen einzigen Titel - eine Frechheit! Das dürfen sich noch nicht mal Boulevard-Attacken leisten!

Zweitens löst Herr Graff hier bewusst unsinnige Assoziationen zum Blut- und Boden-Gefasel des Dritten Reichs aus. Was soll diese Propaganda? Noch eine Kostprobe:

„Morbider und lebensfeindlicher können manche Bits nicht sein, die bald schon aus dezidierten Blut- und Brocken-Spielen auf die vermutlich kreischenden Headset-Träger prasseln…“

Ja, Herr Graff hat`s mit dem Blut. Und mit Brocken. Und kreischenden Spieler-Massen. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man hinter solch bizarren Wahnvorstellungen einen hysterischen Erzbischof vermuten, der der Spielewelt den Kreuzzug ankündigt.

Und wie angewidert Großinquisitor Graff weiterfiebert:

„(…)viele Apparaturen haben sie aufgestellt, fast für jeden Besucher eine, grässlich grün, aus denen die Botschaften vom anderen Stern hämmern (…)“

Wir haben besorgt nachgefragt: Unser Redakteur vor Ort hat uns versichert, dass es sich um einen bunten Vergnügungspark in Sevilla handelte. Der grüne Hexensabatt von Herrn Graff muss eine Sinnestäuschung gewesen sein. Oder gar eine Vision? Den Gipfel der Dreistigkeit erreicht der wortgewaltige Spielekenner mit dem schamlosen Eingeständnis seiner eigenen Fehleinschätzung im letzten Absatz:

„Nun sind, muss man festhalten, nicht alle neuen Spiele solche Massentötungsansichten. Das Gros ist lustig, farbenfroh und friedlich“

Ach was? Hallo, Herr Graff? Waren sie jetzt doch auf der realen X02 in Sevilla? Und wenn ja, warum berichten Sie nicht einfach davon? Wenn diese schrecklichen Bilder wieder kommen, müssen Sie den Kugelschreiber erst mal weglegen, ne Pause machen und tief durchatmen. Vielleicht sollten sie auch einen Exorzisten aufsuchen…

Jetzt mal im Ernst: Was passiert, wenn man einen musisch interessierten Kultur-Redakteur zum Championsleague-Spiel Dortmund gegen Auxerre schickt? Was kommt raus, wenn man einen Rennspiel-Hasser Gran Turismo 3 testen lässt? Jede gute Zeitung, jedes gute Online-Magazin hat Genre-Experten, die ein Thema journalistisch kompetent behandeln können.

Der SZ reicht anscheinend die arrogante Selbstgefälligkeit eines genervten Redakteurs, der sich vor lauter Frust in unpassenden Metaphern ergießt, um einen diffusen Schwall aus Microsoft-Kritik und moralischen Gewaltbedenken auszustoßen. Welchen Informationsgehalt hatte dieser dilettantische Text, der höchstens als Fieber-Glosse durchgehen dürfte, für interessierte Spieler oder Eltern?

Nichts als Propaganda im seriösen Gewand einer angesehenen Tageszeitung. Selbst bei vielen Online-Magazinen bekommt man besseren Journalismus!

Jörg Luibl
4P|Textchef

 

Kommentare

Jörg Luibl schrieb am
Sehr geehrter Herr Kyniker,
ich gebe ihnen mit dem Doppelmoralvorwurf insofern Recht, als dass ich eine differenziertere und argumentativere Betrachtung der Spielewelt fordere, aber in dieser Kolumne mit einem anderen Stil zurückschieße. Das ist natürlich gewollt. Aber im Gegensatz zur SZ versteckt sich diese satirische Polemik nicht hinter dem Schild eines scheinbar intellektuell anspruchsvollen Berichts.
Doppelmoral wäre es, wenn wir einen welfremden und abstrusen Bericht über ein von der SZ gelobtes Theaterstück verfassen würden (die "Schillerisierung der Republik" könnte so ein Unfug heißen:)) und dann noch die Opfer dieser Vorführung interviewen würden...
Kyniker hat geschrieben: Auf der anderen Seite benutzen Sie jedoch Dinge wie das Klischee von weltfremden Geistlichen, die grundsätzlich ohne jede Ahnung gegen alles wären, was sich moderne Unterhaltung der Jugend schimpft.
Des weiteren benutzen Sie den \"Großinquisitor\" als etwas negatives,

Dass der Großinquisitor in meinem Verständnis etwas Negatives ist, beruht nicht auf Vorurteilen, sondern auf meinem Geschichts-Studium, das vor allem religionshistorische Themen wie die Art der europäischen Bekehrung und die heidnische Reaktion darauf umfasste.
Kyniker hat geschrieben:Denn andererseits wollen Sie mit Ihren \"Stilmitteln\" im Bezug auf Kirche - in einer größtenteils Kirchenkritischen (besonders Online-)Gesellschaft - nichts anderes erreichen.

Lassen wir das Thema Religion lieber außen vor. Ich bin nach vier Jahren Quellenstudium magistrierter Antichrist. :twisted:
Bis denne
johndoe-freename-51645 schrieb am
Nachtrag:
Ich verteidige hiermit nicht den Artikel in der SZ, dieser ist keinen Deut besser.
johndoe-freename-51645 schrieb am
Ich hab mir sowohl eure Kolumne durchgelesen, als auch diesen Artikel.
Für mich hat euer Jörg den komplett falschen Ton erwischt (es ist ne Kolumne, da kann durchaus Zynismus, Sarkasmus und Ironie rein passen, ist aber kein Muss!!!)
ABER da ist etwas, was ich auf jedenfall loswerden möchte:
Das Thema ist wohl ernster als ihr denkt. Warum schreiben denn solche Personen diese Artikel? Das wird einen gewissen Grund haben. Und über den sollte man nachdenken.
Anstatt Feuer mit Feuer zu bekämpfen, sollte man auf diese Redakteure mal einen Schritt zugehen und ihnen das Gegenteil belegen, vorallem was die Teamaspekte in Shootern angeht.
Erschreckend für mich war, dass Doom3 jetzt sogar als pädagogisch wertvoll eingestuft wird und es kindern zu Lernzwecken vorgeführt wird (Quelle kann ich leider nicht angeben, wenn jemand weiß, was ich meine bitte hier verlinken). Wird sowas von euch gefördert? Oder werden die markanten Themen unter den Nachrichtenteppich gekehrt (bzw. unkritisert belassen), da sowas keiner hören möchte. Für mich sollte euer Magazin solche Dinge kritisch hinterfragen.
Anstatt sich in der Kolumne mal ordentlich mit dem Thema zu beschäftigen, veranstaltet ihr einen Wettbewerb "Wie viele blöde Sprücke kann ich in einem Text loslassen". Pfui! Wollt ihr so das Image der Spielegemeinden in ein besseres Licht rücken? Es gibt doch wohl nur zwei Methoden, solch einem Text wie in der SZ zu begegenen:
1) Die Klappe halten und einmal kräftig schlucken
2) Hern soundso eine Mail schreiben und ihm vorschlagen, dass man ihm das Gegenteil zeigen möchte, von dem, was er behauptet.
Daher meine Bitte: Nehmt die Kolumne als ein Mittel, den Leuten sachlich etwas näher zu bringen und nicht unbedingt der Meinung von 30 fanatikern hinterher zu laufen.
Sollte Jörg hier antworten: Machs sachlich und bitte nicht wie in der Kolumne.
johndoe-freename-73520 schrieb am
Also ich habe den Bericht ebenfalls gelesen und ich gehöre nicht zu den Leuten die andere beschimpfen oder niedermachen. Aber bei diesem Bericht hatte ich das Gefühl, das der gute Herr selbst zu lange auf dem Brocken war und anscheinend unter einer Sauerstoffunterversorgung des zerebralen Cortex gelitten haben muss als er diesen Bericht verfasste.
Ich sage ja nicht das Doom 3 zu dem harmlosesten gehört was ich je gesehen habe, aber es gibt beim besten Willen und Gewissen Spiele die wesentlich Gewalttätiger sind als das oben genannte. Wie auch immer, meiner Ansicht nach, ist dieser Bericht nichts weiter als ein Zeichen dafür wie weit es mit dem Journalismus in Deutschland gekommen ist.
Der Herr sollte sich eventuell etwas mehr mit der Materie beschäftigen bevor er sich zu solchen Äusserungen herab lässt.
Mit freundlichen Grüßen Die Limbuswache.
johndoe-freename-73516 schrieb am
Sehr geehrter Herr Luibl,
Vorneweg: Ich wäre sehr dankbar, sollte es Ihnen möglich sein, einen funktioniernden Link zu besagtem Artikel zu präsentieren.
Ansonsten muss ich sagen, ich finde einen Aspekt an ihrem Artikel äußerst irritierend.
Sie reagieren sehr empfindlich auf das Thema Vorurteile, die hier im Bezug auf die Spieler scheinbar ziemlich unsachlich mit aufmerksamkeit-haschenden Worten weiter verbreitet werden.
Auf der anderen Seite benutzen Sie jedoch Dinge wie das Klischee von weltfremden Geistlichen, die grundsätzlich ohne jede Ahnung gegen alles wären, was sich moderne Unterhaltung der Jugend schimpft.
Des weiteren benutzen Sie den \\\"Großinquisitor\\\" als etwas negatives, was wiederum bei vielen Menschen auf eine Art der \\\"vorurteilsbeladenen\\\" Zustimmung stößt, genau wie es bei \\\"Blut und Brocken\\\" der Fall ist. Ich will jetzt nicht näher ausführen, dass wir zwischen zwei Formen der Inquisition unterscheiden und dass der durchschnittliche Großinquisitor aus Rom keinesfalls ein Bernardo Gui, ein Mann ohne Mitleid uns Skrupel, war, welcher seine Sache mit allen Mitteln verfolgt hat. Mal ganz davon abgesehen, dass die spanische Inquisition hingegen eine sehr grausame Angelegenheit war, der viele Menschenleben zum Opfer vielen... und sollten Sie ein einfaches Streiflicht (oder was auch immer) mit so etwas vergleichen, dann finde ich das in gewisser Weise geschmacklos
Aber egal, dafür muss man sich nicht interessieren, damit muss man sich nicht auskennen und auch nicht befassen - das ist interessenbedingt.
Allerdings finde ich es einfach unangebracht, dass Sie einerseits Leute anprangern, die einfach unsachlich mit unpassenden und eben aufmerksamkeit-haschenden Begriffen einen Artikel schreiben
Denn andererseits wollen Sie mit Ihren \\\"Stilmitteln\\\" im Bezug auf Kirche - in einer größtenteils Kirchenkritischen (besonders Online-)Gesellschaft - nichts anderes erreichen. Und Sie erreichen letztendlich auch nichts anderes.
Ich fühle mich nun, wie...
schrieb am