Das Spiel: verdoomt & verkannt!
Die Süddeutsche Zeitung hat letzte Woche ein Beben ausgelöst, wie es seit Erfurt nicht mehr durch die Republik donnerte. Ein Sturm der Entrüstung brauste durch die Forenlandschaft und fegte alle fragilen Brücken zwischen Zeitungswelt und Spielewelt beiseite. Auch wir haben empört mitgewütet (vgl.
Kolumne).
Zurück blieb erneut ein klaffender Abgrund zwischen etablierter und missverstandener Kultur, zwischen dem Ekel vor und der Faszination an blutigen Shootern. Das alte Dilemma, das seit dem 26. Februar 2002 mit zahllosen Artikeln, Studien und Fernsehsendungen in einen Dornröschenschlaf diskutiert wurde. Erst letzte Woche wurde es wieder wach geküsst.
Aber warum haben die Foren so gebebt? Wieso diese Aufregung? Der Kern des Konfliktes liegt gar nicht im Zombie-Gemetzel, sondern im Feuilleton selbst. Es ist noch nicht in die Seele des Spiels vorgedrungen, hat seine positive gesellschaftliche Bedeutung noch nicht erkannt. Es versteht sich als Kulturteil der Zeitung, als stilistisch wertvolles Sammelbecken für Essays, Kritiken und Berichte. Hier wird das besprochen, was die Redaktion als relevant absegnet: Fernsehen, Kino und Theater, Konzerte, Ausstellungen und Literatur. Aber einer muss 32 Jahre nach Pong immer noch mit Vorurteilen oder Ignoranz kämpfen: das Spiel.
Genau das ist der Skandal! Nicht nur, weil gerade Deutschland ein Eldorado für konsumfreudige Brett- und Bildschirmzocker ist. Sondern weil es einer journalistischen Diskriminierung gleichkommt, die die spielende Republik einfach nicht mehr hinnehmen will - sie wird nicht verdoomt, sondern verkannt. PC, Xbox, GameCube und PS2 gelten noch immer als Freakbereich der Jugend. Das überholte Bild des pickligen, bleichgesichtigen und latent gewalttätigen CounterStrikers passt am besten in die herrschende Schablone. Aber was ist mit dem Rome-Spieler, der plötzlich Geschichte studieren möchte? Was ist mit dem Shenmue-Spieler, der sich für Japanologie einschreibt? Was ist mit dem Manager, der mit Capitalism II trainiert?
Die Zeitungen schreiben an der Wirklichkeit vorbei: Schaut man sich Alter und Bildungsstand der Gamer an, gibt es eine Symbiose, eine breite gesellschaftliche Mischung ohne Grenzen. Da draußen zocken neben jugendlichen Schülern auch erwachsene Handwerker und Polizisten, Studierte und Ingenieure, Magistrierte und Promovierte, Lehrer und Familienväter, Hausfrauen und Profisportler, Arbeitslose und Millionäre. Wer sich in zehn Jahren mit der Mentalitätsgeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts beschäftigen will, wird um das Studium dieser wirkmächtigen Wohnzimmerkultur nicht herumkommen!
Aber noch viel schlimmer als diese soziodemographische ist die kulturelle Verkennung: Das Spiel hat abseits einschlägiger Testmagazine keine Lobby, keine schreibenden Liebhaber, keine Kenner im Blätterwald zwischen SZ und FAZ. Dort pickt man sich lieber im Boulevardstil die Extreme raus, stellt die Gewalt in den Vordergrund, bleibt an der blutigen Oberfläche und vergisst, dass auch Doom 3–Spieler vielleicht dozieren, programmieren, philosophieren, erziehen oder einfach ohne Schäden an körperlicher und geistiger Gesundheit mit der Railgun entspannen wollen.
Vielleicht kann man den Abgrund überwinden, wenn man neue Brücken baut? Wenn man all die interessanten Anknüpfungspunkte aufzeigt, die die Welt zwischen Mario und Sam Fisher bietet. Da gibt es Bezüge zur Antike, zur Aufklärung, zur Geschichte, zur Mythologie. Diese Kolumne versteht sich als konstruktive Aufforderung, den Graben endlich zu überbrücken und die virtuellen Abenteuer mal aus einer reiferen Perspektive zu beleuchten.
Denn gehört nicht gerade das Spiel zur Kulturgeschichte der Menschheit? Schon der Historiker Johan Huizinga wollte Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr vom
homo sapiens, sondern lieber vom
homo ludens sprechen – dem spielenden Menschen. Was trifft unsere Generation besser? Und ist nicht das Spielen seit Jahrtausenden das wichtigste Ventil für aufgestaute Triebe? Friedrich Schiller hat dies Ende des 18. Jahrhunderts schon angedeutet:
"Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“Schiller-Biograph und Philosoph Rüdiger Safranski interpretiert den Satz so:
„Wenn wir noch besser lernen zu spielen, dann werden wir humaner!“ Er meint natürlich nicht die Headshot-Skills beim Shooter, aber er trifft die tiefere Bedeutung des Spielens im Allgemeinen. Warum? Schon sein 1951 verstorbener Kollege Wittgenstein erkannte, dass alle Formen des Spiels aufgrund ihrer Ähnlichkeiten vernetzt sind. Egal ob Schauspiel, Fußballspiel, Brettspiel, Sportspiel oder Videospiel: Hier kann man die Extreme des Lebens in geregelten Bahnen nacherleben.
Man kanalisiert all die Aggressionen, all die Gewalt-, Lust- und Spaßtriebe in einem Ritual, in dem die Fesseln des Alltags nicht greifen. Das ganze aufgezwungene Netz an Gesetzen, Regeln und Normen kann für einige Augenblicke durchbrochen werden, weshalb selbst Aristoteles das Spiel in wohl dosierter Form als Medizin gegen Stress empfohlen hat. Denn nicht nur die Fantasie, sondern der ganze Mensch kann sich im Spiel frei austoben.
Anstatt den Wert dahinter zu erkennen, wird schnell von der "
konsumgeilen Spaßkultur" gesprochen. Dabei kann diese Generation darauf stolz sein, Spaß zu haben. Denn wer sich begeistert auf der Couch vergnügt, LAN-Partys besucht oder online mit Freunden zockt ist viel weniger anfällig für religiösen oder politischen Fanatismus. Vielleicht müsste man mal nachforschen, wie viele NPD-Wähler in Sachsen eine Konsole besitzen; ich tippe auf eine beschränkte Minderheit.
Das Spiel ist eben das Gegenteil von Arbeit, ein anarchistisches Paradies für jeden Geschmack. Ein Eldorado für Tagträumer, Kämpfer, Querdenker, Entdecker, Abenteurer, Helden. Im Spiel steckt viel mehr von Humboldt als von Jack the Ripper. Sein Wesen ist eben nicht die Gewalt, sondern die Freiheit. Und natürlich auch die Freiheit, gesellschaftlich geächtete Gewalt nach eigenem Ermessen auszuleben, seine Grenzen zu finden.
Dieser Drang und diese Faszination sind nur allzu menschlich. Liegt nicht sogar ein humanistischer Triumph darin, wenn man sich eine eigene Freiheit abseits der Wirklichkeit erkämpft, erspringt, errätselt oder gar erschießt? Eine gelebte Utopie? Und selbst wenn nicht: Es ist wirklich höchste Zeit, dass das Spiel ins deutsche Feuilleton tanzt - als vollwertiges Mitglied neben dem Theater, der Kunst, dem Buch. Wie sagte Shakespeare? Die Welt ist eine Bühne, das Leben ein Spiel.
Jörg Luibl
4P|Textchef