Kommentar

hundertprozent subjektiv

KW 47
Montag, 16.11.2015

Eine Lanze für Bethesda


Rollenspieler streiten ja unheimlich gerne. Vor allem, wenn es um diese wichtige Definition des echten, wahren und amtlich zertifizierten Rollenspiels geht. Wer da die falschen Propheten zwischen Pen, Paper und Perks verehrt, kann sich zwar dasselbe Hobby teilen, aber wird trotzdem als Ketzer bezeichnet oder zumindest per Petition schwarmverboten. Früher waren das diese komischen Typen, die z.B. Diablo mit Baldur’s Gate verwechselten. Heutzutage verliert man da etwas schneller den Überblick, denn es tummeln sich so viele Arten auf dem Tisch.

Manche grinsen vor Freude angesichts dieser Vielfalt und stöbern zwischen Wasteland, Pillars of Eternity und The Witcher 3. Andere zürnen und beginnen eine regelrechte Dekonstruktion des eigenen Hobbys, wenn nur Kleinigkeiten der eigenen Definition zuwider sind.  Von außen betrachtet sieht das dann so aus, als würden sich zwei stolze Schwäne darüber streiten wer der einzig richtige Vogel sei. Während sich der eine empört, "daff iff aber auch ein föner Fwan bin, weil iff doch auch im Fee fimme und darin verfinke", verweist  der andere gnadenlos auf dieses verdächtige Lispeln, das ihn doch unzweifelhaft als falschen Hamster entlarven würde.

Nun gibt es ja tatsächlich einen falschen Schwan in Fallout 4. Habt ihr den schon gefunden? Ich verrate hoffentlich nicht zu viel, wenn ich sage, dass er kein Hamster ist und zu den wunderbösen Überraschungen dieses apokalyptischen Neuengland gehört. Aber bevor ich die Spoilerspatzen aufschrecke, möchte ich mich diesem Dino widmen, der seit dreißig Jahren stoisch weiter wandert (ist das nicht eine coole Vorlage?) und mit seiner Art des Rollenspiels markante Spuren hinterlässt. Nicht nur im Gesicht einiger Spieler, sondern auch hinsichtlich des Spieldesigns: Bethesda.

Dieser 1986 gegründete Entwickler, der sich mal (nicht ganz zu Unrecht!) als größtes Independent-Studio der Welt bezeichnete, trotzt scheinbar all den verführerischen Abzweigungen, all den Anfeindungen, die nicht nur seit der Lizenzübernahme von Fallout zunahmen, und bleibt seinem eingeschlagenen Weg treu. Wenn Leute heute im Kontext von The Elder Scrolls V: Skyrim und aktuell Fallout 4 von „Vercasualisierung“ reden oder „Das-ist-ja-kein-Rollenspiel“ jammern, vergessen sie, dass dieser Entwickler eine der letzten Konstanten in dieser Branche ist, der weiter sein Ding durchzieht. Natürlich kann man über die Qualität gerne streiten, aber dieser spielhistorische Kontext ist nicht ganz unwichtig.

Was meine ich damit?  Die Amerikaner haben sich mit ihrer Art Rollenspiel nicht an den Massengeschmack angepasst, sondern sie haben ihre eigenwillige Interpretation des virtuellen Abenteuers über all die Jahre salonfähig gemacht. Sie haben anno 1996 mit The Elder Scrolls II: Daggerfall ein sehr seltsames Spiel für Freaks entwickelt, das vor allem zwei Dinge kennzeichnete: die riesige 3D-Welt und die vielen Bugs. Von da an waren inhaltliche Faszination und technische Ernüchterung stets zwei Konstanten, die sowohl ihre Fantasy als auch Endzeit bis heute begleiten. Trotz dieser offensichtlich fehlenden Harmonie konnte diese Art des Spiels immer mehr Leute faszinieren - aus der Nische wurde Mainstream.

  Und die Schere zwischen diesen Extremen wurde bis hin zu Fallout 4 immer weiter geschlossen – man spürt eine langsame, aber klare Weiterentwicklung. Bethesda hat zudem Pionierarbeit auf dem Gebiet der Erkundung geleistet, indem sie die Landschaft als wichtigen Reiz sowie als indirekten Geschichtenerzähler genutzt haben. Und so kreativ wie in diesem endzeitlichen Neuengland waren sie in ihrer offenen Welt noch nie, denn zum offensichtlichen wie dem fantastischen Artdesign, dem optionalen Siedlungsbau, der freien Spielweise zwischen Kampfanzugmonster oder Charismaleichtgewicht oder der unendlichen Modifizierung von Ausrüstung gesellen sich die Begleiter, das offene SPECIAL-System in der Charakterentwicklung sowie – und das ist ganz entscheidend - das noch dichtere und besser verwobene Netz an Aufgaben, das deutlich weniger Zufallskram aka Radiant Quests besitzt als noch Skyrim. Für mich ist Fallout 4 eindeutig das beste Rollenspiel von Bethesda.

Dass einige Leute erwarten, dass wir die technischen Probleme oder die Steuerungsdefizite stärker gewichten, ist ja verständlich und auch unserem in vielerlei Hinsicht recht dämlichen, letztlich aber unverzichtbaren Wertungssystem geschuldet. Aber unsere Philosophie beinhaltet keine numerische Subtraktion von Kontrapunkten, weil das große Ganze letztlich viele Kleinigkeiten überstrahlen kann. Man denke an Shadow of the Colossus, das hinsichtlich Steuerung, Tearing, Grafik & Co ebenfalls Defizite hatte, aber natürlich unser Platin eroberte. Und gerade bei Rollenspielen der epischen Art wirken gewisse Fehler nach dreißig Stunden nicht mehr nach, wenn sie nicht wie bei Dragon Age: Inquisition an die Substanz gehen.

Der große Unterschied zwischen Bethesda und BioWare liegt nicht nur in der fehlenden Erfahrung: Die Kanadier haben mit ihrer offenen Welt ganz einfach Neuland betreten. Sie haben sich die Finger verbrannt, weil sie sich an erfolgreichen Vorbildern wie Assassin’s Creed orientiert und einen Spielplatz gebaut haben – Stichwort: Türme besteigen und Regionen zum Abgrasen bereitstellen. Nicht nur, dass sich die Erkundungsreize in dieser schnell durchschauten Struktur in Grenzen hielten. Zudem wurden die ureigenen Stärken in der Charakterzeichnung sowie Partyinteraktion verwässert und manche Quests zum Topfschlagen ohne verbundene Augen degradiert. Es gibt auch einfaches Holen und Bringen, Suchen und Finden in Fallout 4, aber das wird nicht so grenzdebil inszeniert.

Während mich Dragon Age: Inquisition also nach einem Dutzend Stunden schon komplett verloren hatte und nach dreißig Stunden weiter auf die Palme brachte, treibt mich Fallout 4 nur noch tiefer in den Keller. Die Unterschiede in der Sogwirkung könnten nicht größer sein, deshalb messen wir da auch nicht mit zweierlei Maß, sondern mit klarer Kante zwischen ausgezeichnetem und ernüchterndem Erlebnis. Weil nach anderen Meinungen gefragt wurde: Dieter, Mathias und Ben kommen auch nicht mehr aus dem Ödland raus  - einer findet Fallout 4 sogar besser als The Witcher 3, aber ich sag nicht welcher Dieter.

Dem kann man allerdings auch widersprechen. Letztlich ist es CD Project RED, das die Fahne des großen Epos weiterträgt, das sowohl Freiheit als auch Theaterstück inszeniert, das einen sammeln, kämpfen und mitfiebern lässt. Die ehemaligen Schüler aus Polen, die die Kanadier noch offen bewunderten und mit der Aurora Engine ihre ersten Gehversuche starteten, haben längst die Meisterprüfung abgelegt und BioWare als kreative Impulsgeber abgelöst. Im Vergleich zum Dino Bethesda haben sie vielleicht sogar einen noch größeren Schritt gemacht.

Die spannende Frage wird für uns am Ende des Jahres also nicht sein, welches das richtige und wahre Rollenspiel ist, welches man mit Maus oder Gamepad besser zocken konnte oder wo es weniger ruckelte. All das ist irgendwann nur noch Kleinkram. Es wird nur darum gehen, welches Abenteuer die stärkste Wirkung hinterlassen hat. Und wie vielfältig dieses Spielejahr gerade für Rollenspieler war, zeigen all diese Awards.


Jörg Luibl

Chefredakteur

PS: Im Video-Epilog gehen wir auch nochmal auf die Charakteristika von Fallout 4 ein.

 

Kommentare

Arus1979 schrieb am
Witcher 3 ... Flieder und Stachelbeere ... Der Blutbaron ... und seine arme Frau ... Huh**sohn Jr. glaube der erste NPC der es geschaft hat mich wütend zu machen .. Unglaublich das Spiel und bitter bitter süß 8O (216Stunden)
Fallout ist klasse und ich fand die Idee mit den Siedlungen garnicht so schlecht .... und das neue Perk system super ! (Naja 304 Stunden sprechen für sich P)
DAI naja die Drachen fights waren ganz nett ... aber soviel Text .. eigendlich ist es nen Textadventure .. eigendlich ist es nur Text ... P) Und absolut nicht der erste Teil ... in DAI gibt es für den Spieler keine Blut Magie ! Die Story naja ... ich würde gerne wissen wie es zu ende geht .. aber nochmal 45 Euro für DLCs .. um dann auf den 4 Teil zuwarten geht garnicht.
shakeyourbunny schrieb am
Wie ich Fallout 4 kurz zusammenfassend (nach 60 Spielstunden) beschreiben würde, um was es sich handelt und geht?
"Fallout 4 ist ein Rollenspiel, wo man in der Nähe von Boston / USA nach einem heftigen atomaren Schlagabtausch aus dem Kälteschlaf aufwacht und sich auf die Suche nach dem eigenen Kind macht; allerdings steht es einem frei, diese Aufgabe zu verfolgen oder nicht. Der Fokus des Spiels liegt auf Kämpfen, Erforschen, Siedlungsbau und die eigene Entwicklung des Charakters."
Rabidgames hat geschrieben: Man kann natürlich sagen, dass Fallout 4 Rollenspiel light ist - aber das doch auch nur aus CRPG-Perspektive.
Denn ein frei entfaltbarer Charakter, und die Möglichkeit, in der Welt vielleicht auch nur zu machen, was man will, ohne groß eine Quest zu beginnen, zeichnen doch eigentlich ein Rollenspiel aus, oder?
Gut, dann haben wir auch noch JRPGs, die ganz anders funktionieren ...
Auch wenn sich Fallout 4 wie ein (traditionelles) FPS mit Deckungsmechanik (ja gibt es) spielen lässt, hat es immer noch genug Rollenspiel in sich, daß es im Genre ist. Die ersten 10 Stunden sind etwas zäh, aber danach entfaltet es sich wie die anderen
Ehrlich gesagt, gefällt es mir besser als Oblivion und Skyrim, was die Steuerung und Skillsystem angeht.
Was mich mehr am Spiel stört, ist, daß man durch eine Welt läuft, die behauptet, 200 Jahre nach einen (oder mehrere) atomare(n) Schlagabtausch(e) erlebt zu haben, was nicht so wirklich sein kann. Es fühlt sich eher an, als wäre das vor maximal 20-30 Jahren passiert.
PS: Die häufigste Frage, die unbedarfte Spieler, die überlegen, ob sie sich Fallout 4 zulegen sollen, mir im Bekanntenkreis stellen ist jene: "Muss ich für das Spiel die Vorgänger gespielt haben / kennen?" Meine Antwort ist meist: "Nein, alles was du wissen musst, wird im Intro und am Anfang erklärt."
Mojo8367 schrieb am
Nur für mich gesprochen hat The Witcher 3 etwas geschafft in punkto Open-World-Rollenspiel was mir nach knapp 40h Fallout 4 ein bißchen fehlt.
Die Verschmelzung von Erkundungsreizen einer Open World mit einer stringent durchgezogenen guten Hauptquest/-story.
Auch was die Nebenquests angeht, viel zu oft ist es bei Fallout 4 ein reines "gehe zu Punkt X und töte Gegner Y.
Es wird sprachlich verpackt in "erkunde Ort..." oder ähnliches, unterscheidet sich aber meist nur im Auftraggeber, den Gegnern, dem Loot un der Belohnung.
Die postapokalyptische Welt macht ne Menge wieder gut, wäre Fallout auch ein Mittelalter-Fantasy-Gedöns hätt ich wohl schon lange aufgehört zu spielen oder es erst gar nich gekauft.
Bethesda hat was Quest angeht auch in der Elder Scrolls Reihe nachgelassen für mein Empfinden.
Wie gut waren die Gildenquests in Oblivion im Vergleich zu Skyrim.
Allerdings muss auch ich Bethesda zu Gute halten das sie Ihrer Auffassung von RPG treu bleiben un man daher weiß was einen erwartet und es macht mir auch wieder ne Menge Spass in Neu-England zu versinken.
Bin gespannt was Cyberpunk 2077 bringen/zeigen wird im Science-Fiction-Setting un ob CDPR ihre Stellung was RPGS angeht behaupten kann.
Bethesda wir der Entwickler bleiben der Welten erschafft in denen jede Spielweise möglich ist, mit allen Pros un Kontras die das mit sich bringt.
Und mich wird es immer wieder auch für 100te Stunden begeistern!
no need no flag olulz schrieb am
Rabidgames hat geschrieben:
Usul hat geschrieben:
Rabidgames hat geschrieben:Generell finde ich es aber schon kritikwürdig, wenn man Bethesda all die Stärken zugutehält, aber die Schwächen einfach verschweigt. Für Fans wie Jörg oder mich mögen diese irrelevant sein, aber Fans von Bioware-Titeln finden die Schwächen von Inquisition ebenfalls irrelevant, die Jörg aber allesamt teils harsch bemängelt.
Das stimmt nicht so ganz, wie ich finde, denn gerade DA:I ist nicht ein typisches Bioware-RPG, sondern eben der Versuch einer "richtigen" Open-World - mit allen dazugehörigen Problemen. Es geht bei der Bewertung also weniger darum, ob man Bioware-Fan ist oder nicht, sondern darum, wie gut der Aspekt "Open World" umgesetzt wurde. Ich habe DA:I noch nicht gespielt, deswegen kann ich meine Meinung dazu nicht wirklich sagen, aber andere Bioware-Spiele gespielt, sodaß ich der Meinung bin, daß man keines davon (außer eben offensichtlich DA:I) ernsthaft mit den Open-World-Bethesda-RPGs vergleichen kann.
D.h. also man kann Bioware-Fan sein, aber dennoch DA:I nicht mögen, weil man mit dem Versuch, ein Open-World-Setting aus dem Boden zu stampfen, nicht wirklich zufrieden ist - und genau das ist Jörgs Argumentation hier.
Oder anderer Vergleich: Man kann Bethesda-Fan sein, aber dennoch TES: Arena nicht mögen, weil man mit dem ersten Versuch einer Bethesda-Open-World nicht wirklich viel anfangen kann. Das eine schließt das andere nicht wirklich aus.
Na ja, 4players hat ja eh so seine Probleme mit offenen Welten, es sei denn, sie stammen von Bethesda ... Von Ubisoft wird aus Prinzip ja alles abgestraft, auch immer mit dem Verweis auf "Spielplatz", einfach, weil den Herren das Prinzip nicht gefällt, während es offenbar doch großen Anklang findet. Da gehen andere Magazine vorurteilsfreier heran - denn 59 % ist für Inquisition nach wie vor ein Witz, und hat weniger mit dem Spiel, sondern vielmehr mit den Erwartungen zu tun.
Steht aber Bethesda drauf, wird grundsätzlich alles Gute in den...
Usul schrieb am
Rabidgames hat geschrieben:Sah man ja bei Skyrim auch sehr gut (mir persönlich hat Skyrim ja auch sehr, sehr gut gefallen, aber mal ehrlich, perfekt war das Spiel nicht, und die Lobpreisungen waren für PS3-Besitzer ein blanker Hohn).
Aber - hier wiederhole ich erneut Jörgs Argumentation - die Unterschiede zwischen den Open-World-Ansätzen von Bethesda und Ubisoft sind nun einmal eklatant, finde ich. Ich kann der Begründung sehr gut folgen: Bei Skyrim etwa (FO4 habe ich nicht annähernd so lange gespielt) ist die offene Welt nicht um der offenen Welt willen da... und wird auch nicht mit zusammenhanglosen Dingen vollgemüllt. Auch bei GTA ist die offene Welt meines Erachtens eher schlecht umgesetzt - bei mir persönlich funktioniert sie einfach deswegen, weil ich mit verschiedenen coolen Fahrzeugen durch die Gegend fahre und blöde Dinge mache. Bei Skyrim laufe ich auch einfach nur rum, werde aber da von Elementen in dieser offenen Welt vorangetrieben. Hier mal ein Dorf, dort mal ein Wanderer, dort mal Mammuts, da mal ein Dungeon mit einem Buch mit Details über irgendeine (zufällige) Quest. Mit anderen Worten: Die offene Welt steht im Dienste des Spiels. Bei Ubisoft (und offenbar auch bei DA;I) steht sie relativ losgelöst vom Spiel als "Feature" sozusagen.
Aus diesem Grund ist der Vergleich zwischen FO4 und DA:I einerseits und DA:I und anderen Bioware-Spielen andererseits nur sehr bedingt möglich, wie ich finde.
schrieb am