Jörg Luibl
Eine Lanze für BethesdaEin Kommentar von Jörg Luibl, 16.11.2015
Rollenspieler streiten ja unheimlich gerne. Vor allem, wenn es um diese wichtige Definition des echten, wahren und amtlich zertifizierten Rollenspiels geht. Wer da die falschen Propheten zwischen Pen, Paper und Perks verehrt, kann sich zwar dasselbe Hobby teilen, aber wird trotzdem als Ketzer bezeichnet oder zumindest per Petition schwarmverboten. Früher waren das diese komischen Typen, die z.B. Diablo mit Baldur’s Gate verwechselten. Heutzutage verliert man da etwas schneller den Überblick, denn es tummeln sich so viele Arten auf dem Tisch.

Manche grinsen vor Freude angesichts dieser Vielfalt und stöbern zwischen Wasteland, Pillars of Eternity und The Witcher 3. Andere zürnen und beginnen eine regelrechte Dekonstruktion des eigenen Hobbys, wenn nur Kleinigkeiten der eigenen Definition zuwider sind.  Von außen betrachtet sieht das dann so aus, als würden sich zwei stolze Schwäne darüber streiten wer der einzig richtige Vogel sei. Während sich der eine empört, "daff iff aber auch ein föner Fwan bin, weil iff doch auch im Fee fimme und darin verfinke", verweist  der andere gnadenlos auf dieses verdächtige Lispeln, das ihn doch unzweifelhaft als falschen Hamster entlarven würde.

Nun gibt es ja tatsächlich einen falschen Schwan in Fallout 4. Habt ihr den schon gefunden? Ich verrate hoffentlich nicht zu viel, wenn ich sage, dass er kein Hamster ist und zu den wunderbösen Überraschungen dieses apokalyptischen Neuengland gehört. Aber bevor ich die Spoilerspatzen aufschrecke, möchte ich mich diesem Dino widmen, der seit dreißig Jahren stoisch weiter wandert (ist das nicht eine coole Vorlage?) und mit seiner Art des Rollenspiels markante Spuren hinterlässt. Nicht nur im Gesicht einiger Spieler, sondern auch hinsichtlich des Spieldesigns: Bethesda.

Dieser 1986 gegründete Entwickler, der sich mal (nicht ganz zu Unrecht!) als größtes Independent-Studio der Welt bezeichnete, trotzt scheinbar all den verführerischen Abzweigungen, all den Anfeindungen, die nicht nur seit der Lizenzübernahme von Fallout zunahmen, und bleibt seinem eingeschlagenen Weg treu. Wenn Leute heute im Kontext von The Elder Scrolls V: Skyrim und aktuell Fallout 4 von „Vercasualisierung“ reden oder „Das-ist-ja-kein-Rollenspiel“ jammern, vergessen sie, dass dieser Entwickler eine der letzten Konstanten in dieser Branche ist, der weiter sein Ding durchzieht. Natürlich kann man über die Qualität gerne streiten, aber dieser spielhistorische Kontext ist nicht ganz unwichtig.

Was meine ich damit?  Die Amerikaner haben sich mit ihrer Art Rollenspiel nicht an den Massengeschmack angepasst, sondern sie haben ihre eigenwillige Interpretation des virtuellen Abenteuers über all die Jahre salonfähig gemacht. Sie haben anno 1996 mit The Elder Scrolls II: Daggerfall ein sehr seltsames Spiel für Freaks entwickelt, das vor allem zwei Dinge kennzeichnete: die riesige 3D-Welt und die vielen Bugs. Von da an waren inhaltliche Faszination und technische Ernüchterung stets zwei Konstanten, die sowohl ihre Fantasy als auch Endzeit bis heute begleiten. Trotz dieser offensichtlich fehlenden Harmonie konnte diese Art des Spiels immer mehr Leute faszinieren - aus der Nische wurde Mainstream.

  Und die Schere zwischen diesen Extremen wurde bis hin zu Fallout 4 immer weiter geschlossen – man spürt eine langsame, aber klare Weiterentwicklung. Bethesda hat zudem Pionierarbeit auf dem Gebiet der Erkundung geleistet, indem sie die Landschaft als wichtigen Reiz sowie als indirekten Geschichtenerzähler genutzt haben. Und so kreativ wie in diesem endzeitlichen Neuengland waren sie in ihrer offenen Welt noch nie, denn zum offensichtlichen wie dem fantastischen Artdesign, dem optionalen Siedlungsbau, der freien Spielweise zwischen Kampfanzugmonster oder Charismaleichtgewicht oder der unendlichen Modifizierung von Ausrüstung gesellen sich die Begleiter, das offene SPECIAL-System in der Charakterentwicklung sowie – und das ist ganz entscheidend - das noch dichtere und besser verwobene Netz an Aufgaben, das deutlich weniger Zufallskram aka Radiant Quests besitzt als noch Skyrim. Für mich ist Fallout 4 eindeutig das beste Rollenspiel von Bethesda.

Dass einige Leute erwarten, dass wir die technischen Probleme oder die Steuerungsdefizite stärker gewichten, ist ja verständlich und auch unserem in vielerlei Hinsicht recht dämlichen, letztlich aber unverzichtbaren Wertungssystem geschuldet. Aber unsere Philosophie beinhaltet keine numerische Subtraktion von Kontrapunkten, weil das große Ganze letztlich viele Kleinigkeiten überstrahlen kann. Man denke an Shadow of the Colossus, das hinsichtlich Steuerung, Tearing, Grafik & Co ebenfalls Defizite hatte, aber natürlich unser Platin eroberte. Und gerade bei Rollenspielen der epischen Art wirken gewisse Fehler nach dreißig Stunden nicht mehr nach, wenn sie nicht wie bei Dragon Age: Inquisition an die Substanz gehen.

Der große Unterschied zwischen Bethesda und BioWare liegt nicht nur in der fehlenden Erfahrung: Die Kanadier haben mit ihrer offenen Welt ganz einfach Neuland betreten. Sie haben sich die Finger verbrannt, weil sie sich an erfolgreichen Vorbildern wie Assassin’s Creed orientiert und einen Spielplatz gebaut haben – Stichwort: Türme besteigen und Regionen zum Abgrasen bereitstellen. Nicht nur, dass sich die Erkundungsreize in dieser schnell durchschauten Struktur in Grenzen hielten. Zudem wurden die ureigenen Stärken in der Charakterzeichnung sowie Partyinteraktion verwässert und manche Quests zum Topfschlagen ohne verbundene Augen degradiert. Es gibt auch einfaches Holen und Bringen, Suchen und Finden in Fallout 4, aber das wird nicht so grenzdebil inszeniert.

Während mich Dragon Age: Inquisition also nach einem Dutzend Stunden schon komplett verloren hatte und nach dreißig Stunden weiter auf die Palme brachte, treibt mich Fallout 4 nur noch tiefer in den Keller. Die Unterschiede in der Sogwirkung könnten nicht größer sein, deshalb messen wir da auch nicht mit zweierlei Maß, sondern mit klarer Kante zwischen ausgezeichnetem und ernüchterndem Erlebnis. Weil nach anderen Meinungen gefragt wurde: Dieter, Mathias und Ben kommen auch nicht mehr aus dem Ödland raus  - einer findet Fallout 4 sogar besser als The Witcher 3, aber ich sag nicht welcher Dieter.

Dem kann man allerdings auch widersprechen. Letztlich ist es CD Project RED, das die Fahne des großen Epos weiterträgt, das sowohl Freiheit als auch Theaterstück inszeniert, das einen sammeln, kämpfen und mitfiebern lässt. Die ehemaligen Schüler aus Polen, die die Kanadier noch offen bewunderten und mit der Aurora Engine ihre ersten Gehversuche starteten, haben längst die Meisterprüfung abgelegt und BioWare als kreative Impulsgeber abgelöst. Im Vergleich zum Dino Bethesda haben sie vielleicht sogar einen noch größeren Schritt gemacht.

Die spannende Frage wird für uns am Ende des Jahres also nicht sein, welches das richtige und wahre Rollenspiel ist, welches man mit Maus oder Gamepad besser zocken konnte oder wo es weniger ruckelte. All das ist irgendwann nur noch Kleinkram. Es wird nur darum gehen, welches Abenteuer die stärkste Wirkung hinterlassen hat. Und wie vielfältig dieses Spielejahr gerade für Rollenspieler war, zeigen all diese Awards.


Jörg Luibl

Chefredakteur

PS: Im Video-Epilog gehen wir auch nochmal auf die Charakteristika von Fallout 4 ein.
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