Wertung abschaffen?
Das Spiel nimmt Fahrt auf: Es hat die Freaknische der Arcadezeit hinter sich gelassen, erobert immer mehr unseren Alltag, ist von Klein bis Groß nicht mehr nur in Japan beliebt, wird zur Primetime im Fernsehen immer öfter beworben als diffamiert, beschäftigt Wissenschaftler aller Gattungen und prägt unsere Gesellschaft seit zwei Generationen - und Wii sei Dank sogar Senioren. Was mit Pong seinen piepsenden Anfang nahm, hat sich als Kulturgut längst neben Buch und Film etabliert.
Und die Spielepresse? Ist sie mitgewachsen? Falls ja: Muss sie dann nicht endlich die idiotische Wertung abschaffen, die ein virtuelles Erlebnis in Punkte oder gar einzelne Prozente presst? Schließlich handelt es sich doch nicht um Staubsauger-Analysen der Stiftung Warentest! Würde man sich nicht totlachen, wenn Reich-Ranicki den nächsten Roman von Günter Grass nicht nur verreißt, sondern auch noch 38% drunter schreibt? Würde man bei einer Filmrezension von District 9 etwas mit 88% am Ende anfangen können?
Dieses Wertungssystem sorgt zu Recht für intellektuelle Abscheu. In meinem Blog würde ich darauf verzichten und Kritiken ohne Prozente schreiben. Und wenn der Kulturteil einer Tageszeitung auch Spiele neben Filmen, Theateraufführungen oder Literatur bespricht, dann findet man da in der Regel keine Prozente. Aber intellektuelle Bedenken hin, journalistisches Kopfschütteln her: Es gibt auch drei Gründe für eine Prozentwertung - die Tradition, das Internet, den Wettbewerb.
Der erste Punkt ist auf den ersten Blick der schwächste, denn nur weil Generationen von Spielemagazinen etwas Idiotisches gepflegt haben, muss man das ja nicht dumm weiter führen. Man könnte mit dem Verzicht sogar Zeichen setzen! Es kann sein, dass ähnlich wie beim Test zu
Dragon Age mehr über den Inhalt eines Tests diskutiert wird. Es kann auch sein, dass man damit jene anspricht, die auch gerne Buch- und Filmkritiken lesen. Aber das ist - bei allem Verständnis- eine Minderheit. Warum? Die Zahl unter einem Test ist ein Teil der kollektiven Tradition, an den sich nicht nur viele Leser seit der Pionierzeit der Printmagazine gewöhnt haben, sondern auch Entwickler und Hersteller. Sie ist ein integraler Bestandteil der Branche - Publisher bemessen den Erfolg eines Spiels oder die Karriere eines Producers nicht nur in Euro, Dollar oder Yen, sondern auch in den Prozenten des internationalen Schnitts.
Wie dämlich das ist, habe ich
kürzlich dargestellt. Aber Schulnoten sind auch dämlich - man ist der Willkür von Zahlen ausgesetzt. Allerdings haben Magazine ähnlich wie Lehrer damit auch eine Macht, die in ausgenutzter Form sogar Früchte tragen kann. Wen würde eine spitze Polemik à la "next fucking military shooter is not more than a disappointing weapon porn" von IGN, 1up & Co gegen
Call of Duty: Modern Warfare 2 interessieren? Einige Leser, die Kollegen und einen PR-Mann. Wen würde eine 30% von IGN, 1up & Co interessieren? Die ganze Welt, alle Kollegen und die komplette PR-Abteilung von Activision! Man stelle sich den Jubel bei EA, Ubisoft, THQ, Capcom oder Sega vor, wenn gerade die kritischen Magazine auf die Zahl, die neben dem Gewinn so wichtig für künftige Produktionen sein kann, verzichten würden! Ich hätte mich auch gefreut, wenn nur meine Physik-, Religions-, Mathe- und Französischlehrer auf Noten verzichtet, meine Beschränktheiten nur formuliert und damit meinen Abischnitt nicht ruiniert hätten.
Der zweite Punkt ist noch mächtiger, denn das Internet hat das Zeitalter der schnellen Information für alle eingeläutet. Wer online ist, der will seine Bedürfnisse so effektiv wie möglich befriedigen - wenig Klicks, aber möglichst viel Ausbeute. Und wer online etwas kaufen will, der sucht vorher die größtmögliche Bestätigung der Qualität. Deshalb ist das Internet ein Eldorado der Zahlen, der Sterne und Noten. Und deshalb kann ein Online-Magazin mit unserer Reichweite schlecht auf diesen Service verzichten - vor allem, weil die mobile Information noch verkürzter sein muss: Wer im MediaMagic steht und mal kurz checken will, ob sich der Kauf von
FIFA 10 lohnt, der will nicht fünf, sechs Seiten, nicht mal ein Fazit lesen, der will nur einen kurzen Blick auf die Wertung werfen.
Über diese Oberflächlichkeit des Internetzeitalters kann man sich ärgern - und viele Kommentare im Forum sind zum Haare raufen, weil man nicht mal die Lesekompetenz, sondern die grundlegende Lesefähigkeit vermisst: Da steht alles im Text, aber trotzdem wird danach gefragt oder darauf rumgehackt. Deshalb erfreuen sich einfache Vergleichsportale so großer Beliebtheit - alles bitte schön aufreihen, schön einordnen und bloß nicht zu viele Buchstaben.
Und damit wären wir beim dritten Punkt: Dem Wettbewerb. Es ist natürlich ein Vorteil, wenn die Tests eines Magazins möglichst weit gestreut und oft verlinkt werden. Das werden sie deutlich öfter, wenn man ein Fazit samt Wertung anbietet, die man komfortabel in eine Tabelle packen kann. Natürlich wird die eigene Kritik auch in Foren wesentlich öfter diskutiert, wenn sie sich mit zwei Zahlen in das bekannte Schema pressen lässt - all das sorgt für Diskussion, all das sorgt für Aufmerksamkeit und die ist natürlich das Lebenselexier für ein Magazin. Egal ob Spiegel, Hamburger Abendblatt oder 4Players: Alle Redaktionen buhlen um Leser.
Außerdem darf man den alten Leitspruch nicht vergessen:
Never change a running system! Wir sind momentan sehr erfolgreich mit unserer Berichterstattung. Wenn wir feststellen würden, dass die Prozentwertung ein Wettbewerbsnachteil für uns ist, weil uns zehntausende Leser abspringen, dann würde Handlungsbedarf bestehen. Aber davon kann keine Rede sein, im Gegenteil: Wir gewinnen an Relevanz, gerade weil wir mit diesem System national und international vergleichbar sind. Und so umstritten wie es in der Hitze der Debatte manchmal wirkt, ist es auch gar nicht. Nur ein Bruchteil, etwa ein Sechstel unserer Leser, ist ja überhaupt als Community-Mitglied registriert. Und von diesen ist wiederum nur ein ganz kleiner Teil gegen die Prozentwertung.
Ist die Mehrheit also ungebildet, unreif und oberflächlich? Natürlich nicht! Wir erreichen als Spielemagazin hunderttausende passive Leser. Wir gehen davon aus, dass viele davon gar kein Problem sehen, weil sie das pubertäre Geflame und Gezicke um Prozente ignorieren und sich einfach das aus einem Test heraus picken, was sie für wertvoll erachten - vor allem die Argumentation und das Fazit. Wir haben ja auch ein duales Wertungssystem: Schulnoten und Prozentwertung; und wir haben Erstere dieses Jahr bewusst prominenter platziert, direkt im Wertungsring. Trotzdem wollen wir jene nicht ignorieren, die die Prozente nicht mehr sehen können, denn sie haben ja in vielen Punkten recht. Und wenn wir uns den Luxus der Nische leisten könnten, würden wir ein
4Players unplugged anbieten, den Wertungsstecker einfach rausziehen.
Was werden wir also tun? Wir werden in Zukunft jedem Leser die Möglichkeit geben, die Prozentwertung auszublenden. Wir werkeln gerade an diesem System: Man kann in seinem 4Players-Profil den betreffenden Punkt deaktivieren und wird keine Zahl mehr am Ende eines Tests sehen. Wir sind gespannt, wie viele User das in den nächsten Wochen oder Monaten wirklich nutzen, denn dieser aktive Verzicht unserer Stammleser ist ein wesentlich besserer Maßstab als
eine Umfrage - trotzdem starten wir parallel auch diese. Schließlich werden wir bei wichtigeren Spielen oder jenen, die einem ebenso strengen wie blödsinnigen Embargo (Tests bitte erst am Releastag!) unterliegen, häufiger Berichte in mehreren Etappen anbieten und die Wertung erst am Schluss veröffentlichen - davon profitiert auch das Forum.
Jetzt könnte man ja auf die Idee kommen, Wertungen grundsätzlich erst später anzubieten, also 6, 12 oder 24 Stunden nach der Veröffentlichung des Tests. Das mag sich spannend anhören und würde die Foren für kurze Zeit etwas säubern, lässt sich aber nicht ohne Serviceverlust in die Praxis umsetzen: Die meisten Leute wollen sich schnell bei uns informieren - wir würden sie damit zur Geduld zwingen. Und spätestens bei Spielen, die wir erst eine oder gar zwei Wochen nach Release testen, wäre die zusätzliche Zeitverzögerung einfach nicht mehr akzeptabel. Warum soll man bei 4Players warten, wenn alle anderen sofort zur Sache kommen?
Aber selbst wenn die Prozente für das immer gleiche Jammern in den Foren sorgen, selbst wenn man sie nicht akzeptiert: Sie gehören auch zur Streitkultur! Und sie stehen ja nicht alleine für sich, sie stehen nicht am Ende einer kleinen Spalte mit leeren Worthülsen und Floskeln. Da ist immer noch der ausführliche Text. Und wir haben nicht so viele Stammleser, weil wir am Ende eine Zahl ins System hacken, sondern weil wir seit Jahren viele Leser inhaltlich überzeugen und sie mit Leidenschaft in unsere Erfahrung, direkt auf unsere Testcouch mitnehmen - manchmal rennen sie nach einem Absatz schreiend weg, manchmal fiebern sie bei jeder Zeile innerlich mit. So lange sich die Buchstaben mit allen Pros und Kontras in die argumentative Spannungskurve legen, kann einem die Zahl als Leser egal sein.
Als Magazin können wir leider nicht auf die Prozentwertung verzichten.
Jörg LuiblChefredakteur